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AsJ-Seminar 20/21.6.98 - Täter, Opfer und Strafjustiz - ein disharmonischer Dreiklang

 

 

0pferorientierte Strafjustiz

Prof. Dr. Winfried Hassemer

Richter um Bundesverfassungsgericht

Thesen

 

I. Kriminalpolitik mit dem Opfer

1. Das Opfer hat im kriminalpolitischen Diskurs derzeit Konjunktur. Dabei streitet, wer mit den Interessen des Opfers argumentiert, für eher repressive Optionen.

2. Mit Berufung auf berechtigte Interessen des Opfers werden Rücksichten auf den Täter desavouiert. Argumentativ eher bescheidene, emotiv aber wohl erfolgreiche Strategien spielen Täter und Opfer gegeneinander aus.

3. Das heute allenthalben eingeforderte "Grundrecht auf Sicherheit" lebt argumentativ davon, daß - in der Form eines Nullsummenspiels - Opferpositionen zum Nachteil von Täterpositionen aufgewertet werden.

II. Neutralisierung des Opfers

1. Der moderne Staat entsteht mit Gewaltverboten und der Reservierung des Gewaltmonopols für sich. Davon lebt er bis heute.

2. Das moderne Strafrecht folgt der Entstehung des Staates. Es tritt zwischen Täter und Opfer, belegt das Opfer mit einem Racheverbot, enteignet den Konflikt und nimmt ihn an sich, setzt die Kosten des Verbrechens fest und gibt dem allen eine Rechtsform. Das sind die Voraussetzungen langfristig angelegter Kriminalpolitik.

3. Die staatliche Kriminalpolitik ist präventiv orientiert und deshalb zuvörderst auf den Täter konzentriert:

a. Vergeltung, Sühne, gerechter Ausgleich von Unrecht und Schuld: solcherart Ziele reichen für die Legitimationsbedürfnisse des modernen Staates nicht hin; er muß zur Rechtfertigung von Eingriffen wie der Strafe auf die gelingende Beförderung des Guten oder doch jedenfalls auf die Verminderung von Gefahren verweisen können, und zwar für die Zukunft. Das nennen wir Prävention.

b. Soweit Freiheitsstrafe existiert, muß die leere Zeit des Gefangenen irgendwie sinnvoll gefüllt werden: mit für die Zukunft erfolgversprechenden Aktivitäten (Strafvollzug).

c. Nur hinsichtlich des Täters, nicht aber des Opfers, gibt es interventive Handlungsmodelle mit Zukunft: Besserung des Erwischten (Resozialisierung), Abschreckung aller Verbrechensgeneigten (Generalprävention).

4. Das konkrete Opfer gerät unter diesen Voraussetzungen ins Hintertreffen. Im Strafverfahren muß es ruhiggestellt werden (Gewaltverbot gegenüber dem Verletzten, Gewaltmonopol beim das Verfahren beherrschenden Staat), für die Kriminalpolitik ist es der Vergangenheit verhaftet, an der man nichts mehr ändern kann: Opferhilfe liegt dem präventionsorientierten Strafrecht nicht am Herzen, sie wird ins Sozialrecht ab abgedrängt.

 

III. Rücksichten auf das Opfer

1. Ein Blick auf Einzelheiten und auf aktuelle Entwicklungen zeigt, daß das Opfer trotz seiner generellen Neutralisierung über begrenzte einzelne Rechte verfügt und daß Rücksichten auf das Opfer nicht nur in der Kriminalpolitik (oben I.), sondern auch in Strafrecht und Strafverfahren eher zunehmen.

2. Das Opfer kann. einem Angriff den Charakter strafrechtlichen Unrechts nehmen, wenn es ihm - autonom zustimmt und wenn sich dieser Angriff auf ein Rechtsgut richtet, das in der Disposition des Opfers steht (Einverständnis, Einwilligung).

3. So genannte Strafantragsdelikte dürfen ohne entsprechende Aktivitäten des Verletzten nicht verfolgt werden. Die Strafjustiz beläßt solche Konflikte zuerst einmal im sozialen Nahraum der Beteiligten und wagt den Versuch gütlicher Beilegung unter den Betroffenen ohne staatliche Intervention.

4. In ähnlichen Konstellationen verweist das Strafverfahrensrecht den Verletzten auf den Weg der Privatklage - einen regelmäßig dornenvollen Weg, was sich aus dem staatlichen Interesse erklärt, förmliche Verfahren nach Möglichkeit zu vermeiden.

5. Eher von theoretischer als von praktischer Relevanz ist auch die Möglichkeit des Verletzten, eine Klage gegen die Einschätzung der für die Anklage zuständigen Staatsanwaltschaft zu erzwingen. Dasselbe gilt für sein Recht, im Strafverfahren eine vermögensrechtliche Entschädigung zu erlangen.

6. Opferschutz hat sich bei uns vor allem über die Möglichkeiten des Verletzten verbessert, aktiv in den Gang des Verfahrens einzugreifen. Dazu zählen eine Erweiterung der Nebenklage, Informationsrechte, anwaltlicher Beistand und Kostenfolgen.

7. Zukunft dürfte die so genannte "dritte Spur" der Strafrechtsfolgen (neben den Strafen und den Maßregeln der Besserung und Sicherung) haben, die auf Schadenswiedergutmachung durch den Täter bzw. allgemein auf einen Täter-Opfer-Ausgleich hinausläuft.

a. Es ist noch nicht ausgemacht, ob und wie sich die Interessen des strafenden Staates und die des konkret Verletzten in diesem Institut miteinander vereinbaren oder gar harmonisieren lassen; hier bin ich eher skeptisch.

b. Verfahren des Täter-Opfer-Ausgleichs können gefährlich werden: für das Opfer, aber auch für den Täter. Der strafende Staat darf sich - im Zeitalter von Privatisierung und Ökonomisierung des Öffentlichen - nicht aus seinen Fürsorgepflichten davonstehlen und Täter und Opfer sich selber überlassen. Auf das Gewaltmonopol des Staates darf sich vor allem der Schwache berufen, und das muß so bleiben.

 

IV. Offene Fragen, Paradoxien

1. Das erwachende Interesse am Opfer liegt quer zu einer mächtigen und einheitlichen Tendenz des modernen Strafrechts: hin zur Bestrafung opferloser oder doch opferverdünnter Delikte. Nicht Raub, Beleidigung oder Körperverletzung beschäftigen den heutigen Strafgesetzgeber, sondern Umwelt, Wirtschaft, Steuern, Drogenhandel, Organisierte Kriminalität oder Korruption - alles Felder, auf denen es zwar auch zur Verletzung personaler Rechtsgüter kommen kann, aber doch eher untypisch und am Rande.

2. Es gibt nicht "das" Opfer. Abgesehen von der Trivialität, daß das konkrete Verbrechensopfer sich vom anderen unterscheidet wie ein Mensch vom anderen (und überdies je nach Art und Grad des Erlittenen), gibt es mindestens vier strafrechtliche Kontexte, in denen die Opfer eine jeweils grundverschiedene Farbe haben:

a. In der allgemeinen Kriminalpolitik (dazu schon oben I.) transportiert das Opfer repressive Strategien von ,Strafverschärfung, Ermittlungseffizienz und dem Ende übertriebener Rücksichten auf den Täter. Hier geht es um uns alle: um einen potentiellen, generalisierten, phantasierten Opfertyp.

b. Im Strafverfahren verbinden sich mit dem (vermutlichen und individuellen) Opfer Verbesserungen von Interventionschancen mit den Zielen von Genugtuung und Gerechtigkeit nicht zwingend zum Nachteil des Täters.

c. Das materielle Strafrecht verfolgt die Vorstellung von einer Aussöhnung des (realen) Täters mit dem (realen) Opfer und einer Entschädigung des verletzten durchaus auch im Interesse des Täters, der sich so Entlastung von Strafrechtsfolgen verdienen kann, und überdies in Verfolgung klassischer Strafziele.

d. Die Kriminologie belehrt uns, daß es hoch differenzierte Opfersituationen und Opfertypen gibt (Viktimologie) und daß die Interessen der realen Opfer sich auf einer breiten Skala bewegen und keineswegs nur oder vorwiegend punitiv sind (Opferforschung).

e. Ich schließe daraus, daß das Strafrecht keinen Begriff vom Opfer hat.

3. Es ist gesicherte Erkenntnis, daß Verbrechensfurcht mit realer Bedrohung durch das Verbrechen nicht korreliert. Menschen schätzen - aus vielerlei Gründen - ihre Bedrohungslage falsch ein und nehmen Veränderungen dieser Lage, wenn überhaupt, verzerrt und mit erheblichen Verzögerungen zur Kenntnis. Für unseren Gegenstand bedeutet das, daß eine opferorientierte Kriminalpolitik (oben I.) auf einer bestenfalls schwankenden Grundlage ruht: auf symbolischer Bedienung von Anmutungen statt auf Bekämpfung realer Gefährdungen.

4. Selbst auf Verbrechensfurcht kann sich die aktuelle Kriminalpolitik kaum berufen. Diese Furcht richtet sich auf Raubüberfälle, Gewalt unter Jugendlichen und gegen sie, Wohnungseinbrüche, also "Alltagskriminalität". "Großer Lauschangriff", verdeckte Ermittlungen, polizeiliche Observation, also die neuen und umstrittenen Verschärfungen, rechtfertigen sich nicht als gegenüber Alltagskriminalität, sondern allenfalls als gegenüber "Organisierter Kriminalität" geeignet. Ihre kriminalpolitische Unterstützung beziehen diese Verschärfungen also aus der falschen Quelle.

5. Ich schließe daraus, daß das Strafrecht kein Konzept einer Opferorientierung hat.

V. Opferorientierung der Strafjustiz

1. Eine Remedur setzt zuerst einmal Klarheit über Gegenstand und Zugriff voraus: Unterscheidung der Opfertypen, ihrer Funktionen im kriminalpolitischen Diskurs und in der Wirklichkeit; Präsentation und Analyse der tatsächlichen Bedürfnisse der Opfer und ihrer Wünsche gegenüber dem Strafrecht.

2. Je intensiver der öffentliche Diskurs die Verbrechensfurcht funktionalisiert und mit der Angst der potentiellen Opfer Politik macht, desto mehr wird eine mögliche Opferorientierung der Strafjustiz verdunkelt. Also müssen die Korrelationen zwischen Opferwerden und Strafjustiz uns phantasierten Opfern wieder sichtbar gemacht werden: zwischen Wohnungseinbruch und Beschaffungskriminalität (und nicht dem verdeckten Ermittler), zwischen Raubüberfall und dem im Tatbereich anwesenden Schutzmann (und nicht dem Lauschangriff) , zwischen Jugendgewalt und Jugendarbeit (und nicht der Repression des Erwachsenenstrafrechts). Hilfreich wäre es auch, zwischen langfristig und kurzfristig wirkenden Maßnahmen zu unterscheiden (und erstere nicht deshalb zu verteufeln, weil sie kurzfristig nichts bringen).

3. Uns allen als den potentiellen Opfern krimineller Angriffe muß auch klar werden, daß mehr Strafrecht nicht ohne weiteres mehr Sicherheit bedeutet und daß es andere (sowohl mildere als auch effizientere) Mittel als strafrechtliche gibt, um das Leben sicherer und besser zu machen. Kriminalpolitik mit der Verbrechensfurcht schafft ein Strafrecht auf Halde. Ein Opferstandpunkt sollte auf einer prompten und ernsthaften Anwendung der vorhandenen Normen bestehen, bevor er neue einfordert.

4. Die Täterorientierung und die prinzipielle Neutralisierung des Opfers kann die Strafjustiz nicht zurücknehmen.

a. Auch Konflikte aus krimineller Verletzung, auch die an solchen Konflikten Beteiligten brauchen einen ihnen gegenüber unabhängigen, mächtigen und klugen Dritten, der sie voneinander separiert, ihnen jeweils ihr Recht gibt und dieses Recht notfalls auch durchsetzt. Dieser Dritte ist die Strafjustiz. Das Gewaltmonopol des Staates ist auch im Strafrecht unhintergehbar - auch im Interesse der betroffenen Menschen.

b. Strafverfolgung darf man nicht in die Hände der Opfer legen. Sie braucht Professionalität, Distanz, Gleichmäßigkeit, sofort wirkende Selbstkontrolle und Routinen in der Auswahl verhältnismäßiger Mittel; darüber verfügen Opfer nicht.

c. Die Angemessenheit der strafrechtlichen Antwort auf das Verbrechen ist heute nicht nur ein normatives, sie ist auch ein empirisches Konzept; die Antwort muß nicht nur gerecht sein, sondern auch nützlich (oben II.3.). Damit hat sie unaufhebbar eine Zukunftsdimension. Diese richtet sich nicht auf das in der Vergangenheit verletzte Opfer, sondern auf das als beeinflußbar gesetzte Verhalten des wirklichen Täters und aller anderen potentiellen Täter. Opferprävention ist möglich (und geschieht ja auch); sie gehört aber eher zur Kriminalistik oder zum Sozialwesen als zum Strafrecht.

5. Das schließt freilich nicht aus, daß die Strafjustiz sich dem Opfer auf eine neue Art und Weise zuwendet.

a. Das wirkliche Opfer, welches nicht nur Schäden an Leib und Vermögen, sondern auch Demütigung, Ent-Autonomisierung, Unterwerfung- und dauernde Ängstigung erleidet, ist dem auf den Täter konzentrierten Strafrecht bislang nicht so recht in den Blick gekommen.

aa. In den empirisch angelegten Konzepten vom Rechtsgut und von der Intensität krimineller Rechtsgutsverletzung findet sich noch am ehesten eine Ahnung von der Art und dem Ausmaß der Schäden, auf welche die Strafjustiz ja angemessen antworten soll. Also muß sie diese Schäden beurteilen können. Nicht nur in den Diskursen über die Vergewaltigung haben die Opfer begonnen, die Strafjustiz über das Rechtsgut zu informieren (und damit auch Kriminalpolitik zu machen).

bb. Die - berechtigte, oben V. 4. - Täterorientierung hat die Strafjustiz bislang davon abgehalten, auch über Opferrechte zu forschen und zu handeln. Das ist eine naheliegende, aber keine berechtigte Konsequenz der Täterorientierung. Es gibt freilich mögliche Ansatzpunkte einer Veränderung: Verfügungsrechte über Geldzahlungen des Täters, Schuldfeststellung ohne Strafrechtsfolge im Opferinteresse; Zeugenprogramme; Schuldendienst u.a.m.

aaa. So gehören beispielsweise die Lehren von der Zurechnung (eines schädigenden Ereignisses in der Außenwelt gegenüber einem Menschen) zu den Höhepunkten einer ausdifferenzierten Strafrechtsdogmatik. Diese Lehren haben ausschließlich den Täter im Blick (dem das Ereignis zugerechnet werden soll) . Aber auch das Opfer ist Bezugsgröße strafrechtlicher Zurechnung. Diese nämlich teilt die Welt normativ ein, präpariert den Schaden kunstgerecht aus dem Wust der Ereignisse und legt ihn dem Täter in die Waagschale. Entsprechend weitergedacht, kann eine Lehre von der Zurechnung auch Interessen des Opfers erfüllen: normative Orientierung darüber, daß es selber zweifelsfrei der Verletzte ist und daß die Verletzung nicht irgendein Verhängnis, sondern einer anderen Person objektiv und subjektiv zurechenbar ist; ich sehe darin eine Genugtuung, die in dieser formalisierten Verbindlichkeit nur das Strafrecht gewähren kann.

bbb. So muß das Opfer es beispielsweise als kränkend empfinden, daß der strafende Staat bei einem Opferschaden, der auch Vermögensschaden ist, eine Geldstrafe bei sich verbucht, dem Opfer aber zur finanziellen Genugtuung ein Adhäsionsverfahren eröffnet" das in der Praxis nicht funktioniert. Das ließe sich ändern, wurde sich das weiterhin täterorientierte Strafrecht dem Opfer intensiver zuwenden.

b. Auch gegenüber den potentiellen Opfern - also uns allen - muß die Strafjustiz neue Wege suchen. Die Demonstrationen gegen eine unfähige oder gar korrupte Strafjustiz in Belgien und die Leichtigkeit, mit der sich bei uns mit dem Opferargument repressive Kriminalpolitik machen läßt, legen neue Konzepte dringend nahe.

aa. Die Strafjustiz ist volksfern, obwohl gerade sie nach allen historischen und heutigen Träumen von einer gerechten Gerichtsbarkeit die Gerechtigkeitserwartungen der Leute in besonderer Weise erfüllen sollte. Die Medien berichten mit verzerrender Selektivität, die Bevölkerung hat falsche Vorstellungen über die Strafverfahren und ihre Ergebnisse.

bb. Wir haben kein Konzept der Gerichtsöffentlichkeit, welches die Bedingungen der Medienöffentlichkeit und der modernen Kommunikationstechnologien hinreichend verarbeitet hätte.

cc. Der Traum von einer Laiengerichtsbarkeit im Strafrecht scheint ausgeträumt.

dd. Die Begründungsstile der Strafjustiz richten sich an die Instanzrichter, nicht an die Betroffenen, schon gar nicht an die Opfer.

6. Aus einer Analyse dieser Defizite muß sich das Konzept einer opferorientierten Strafjustiz entwickeln. Es muß auch auf scheinbar fern liegende Felder wie die Juristenausbildung, die Pressearbeit der Strafgerichte und Verfolgungsbehörden, das Kostenrecht der Strafverteidiger oder den Rechtskundeunterricht in Schulen Bedacht nehmen. Es läßt sich nicht am grünen Tisch entwerfen, sondern braucht einen allgemeinen Diskurs, der das Opfer aus den repressiven Kontext löst, es nicht gegen den Täter ausspielt und auch von ihm Fortschritte der Strafjustiz erwartet.