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Friedrich-Joachim Mehmel (Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (AsJ)-Hamburg)
BINNENREFORM DER JUSTIZ

Die gegenwärtige Diskussion über die Reform der Justiz findet in einem Klima statt, das vor allem durch folgende Punkte geprägt ist:

Das Dilemma

Die in diesem Klima stattfindende Reformdebatte steckt in einem Dilemma: Justizreform wird einerseits durch Politik und Exekutive weitgehend auf ökonomische Überlegungen und dementsprechende Reformansätze reduziert. Andererseits fehlt es ebenso weitgehend (noch) an Bereitschaft für eine selbstkritische Mitwirkung der Gerichte, insbesondere der Richterinnen und Richter, an der inhaltlichen Reform der Justiz:

I.
Das Primat des Sparens führt dazu, daß für Politik und Justizverwaltungen nicht Effektivität, sondern Effizienz unter fiskalischen Gesichtspunkten im Vordergrund steht. Es droht eine - zudem allein auf Geld und Zeit reduzierte und inhaltliche "Qualität" ausblendende - Ökonomisierung der Justiz. Dementsprechend stehen die Verabschiedung von Entlastungs- und Beschleunigungsgesetzen (u.a. Anhebung von Streitwertgrenzen, obligatorische Einführung des Einzelrichters), die "Rechtsmittelreform" mit der Einschränkung von Rechtsmitteln oder die Einführung der Dreigliedrigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in einer Form, die nicht zu mehr Bürgernähe und Modernität führt, im Vordergrund.

Auch bei der Übertragung der aktuellen Ansätze der Verwaltungsmodernisierung ("Neues Steuerungsmodell") auf die Justiz (Gerichte, Staatsanwaltschaften) und den Strafvollzug dominiert die betriebswirtschaftliche Effizienz eindeutig. Sehr eng bemessene Budgets sowie eine Reduzierung der Bewertung gerichtlichen Handelns allein auf quantitative Größen mit entsprechendem Datenzugriff für die Justizverwaltungen schafft hier indirekte Steuerungsmöglichkeiten durch die Verwaltung: Es besteht die Gefahr der Exekutivierung der Justiz, die die durch stärkere Selbstverwaltung der eigenen Budgets gewonnene höhere Flexibilität wieder entwertet und die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen kann.

II.
Die eigentliche Aufgabe der Justiz droht dabei in den Hintergrund zu geraten: Die Justiz hat als eine der drei Gewalten Verfassungsrang. Sie soll die Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen der anderen Gewalten schützen. Ihre wichtige gesellschaftliche Funktion besteht in der Herstellung und Sicherung des Rechtsfriedens. Und: Justiz ist nach den Vorgaben von Verfassung und Gesetzen für die Gesellschaft, für die Bürgerinnen und Bürger da. In diesem Sinne hat die Justiz eine Dienstleistung zu erbringen. In diesem Rahmen besteht sicher auch ein Anspruch auf eine ökonomisch arbeitende, kostenbewußte Justiz. Solche Überlegungen dürfen aber nicht Ausgangs- oder Schwerpunkt, sondern nur Teilaspekt von Reformen sein. Im Vordergrund muß die Frage stehen, welche Qualität Justiz als (spezifische) Dienstleistung mit Verfassungsrang liefert.

III.
Die Gerichte selbst, die Richterinnen und Richter beteiligen sich nur sehr eingeschränkt an der Reformdiskussion. Sie erdulden sie oder wehren Reformbestrebungen ab. Reformangst statt eigenem - selbstbewußtem, aber auch selbstkritischen - Reformbestreben dominiert die Debatte. Das ist zunächst kein spezifisches Problem der Justiz. Ohne Veränderungsdruck von außen ist diese Haltung in Verwaltung, aber auch in Unternehmen ebenso regelhaft anzutreffen, hieße es doch sonst, eigenes Handeln in Frage zu stellen und gegebenenfalls ändern zu müssen. Da aus gutem verfassungsrechtlichen Grund die Justiz als Dritte Gewalt verfassungsrechtlichen Schutz genießt, die Richterinnen und Richter aufgrund richterlicher Unabhängigkeit im Rahmen ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit keinen Weisungen unterliegen und in den Präsidien als Selbstverwaltungsorgane der Gerichte die Richterinnen und Richter ihre Geschäfte selbst verteilen können, wird eben dieser Außendruck kaum empfunden. Im Gegenteil ist häufig zu beobachten, daß eine sehr weitgehend verstandene Unabhängigkeit, die weit über den Kernbereich richterlichen Handelns hinausreicht, als Schutzschild des liebgewonnenen status quo vor sich hergetragen wird. Kritik - so sie denn geäußert wird - richtet sich meist gegen mangelnde Finanzausstattung und Überlastung.

IV.
Genau diese Phänomene haben aber die Justiz als äußeren Veränderungsdruck längst eingeholt. Das Problem liegt aber tiefer: Es geht nicht allein um Geld, sondern auch um gesellschaftliche Akzeptanz, die wiederum Einfluß darauf hat, wieviel Geld die Gesellschaft für Justiz einzusetzen bereit ist. Und in dem Maße, in dem Justiz allein versucht, binnenorientiert Eingriffe abzuwehren, anstatt ihre Leistungsfähigkeit nach außen, ihren Service für die "Justizverbraucher" zu verdeutlichen und zu verbessern, erleichtert sie das Geschäft derjenigen, die – auf ihre Art ebenso binnenorientiert, aber mit zur Zeit überlegenem Managementsachverstand - ökonomische Effizienz statt gesellschaftliche Effektivität der Justiz vorantreiben.

Die Binnenorientierung zu überwinden muß deshalb ein Kernstück einer Justizreform sein. Eine Reflexion über die Aufgabe der Justiz nach außen findet aber zu selten statt. Das Bewußtsein fehlt vielerorts, daß aus Sicht des Empfängers gerichtlicher Leistungen zu deren Qualität nicht nur das Urteil als Ergebnis, sondern der gesamte Umgang des Gerichts mit seinem Anliegen von - untechnisch gesprochen - der Annahme der Klage über Schreiben und Telefonate der Geschäftsstelle, vernünftige Fristen, rechtzeitige Terminierung und Verhandlungsführung bis hin zur zügigen Absetzung eines verständlichen Urteils gehören. Richter und Geschäftsstelle arbeiten allzu häufig nebeneinanderher: Die einen lösen den Fall, die anderen erledigen Verfügungen; gemeinsame Verantwortung für das "Produkt" ist vielfach nicht genügend vorhanden und wird im übrigen auch durch die gegenwärtige hierarchische Aufgabenteilung verhindert. Richter sehen häufig nur ihre Arbeit, ihren Fall, und beziehen die – häufig negative - Bewertung der Justiz durch ihre Adressaten und die sonst am Rechtsfindungsprozeß Beteiligten nicht auch auf sich. Damit kapseln sie sich vor der notwendigen Modernisierung ab.

V.
Allen bisherigen Reformansätzen mit ihrer Ausrichtung auf Beschleunigungs- und Entlastungsgesetze, auf eine Änderung der Rechtsmittelmöglichkeiten und die Einführung der Dreistufigkeit in der ordentlichen Justiz ist deshalb gemein, daß sie die Richter nicht erreichen und quasi vor dem Sitzungssaal, der Fallbearbeitung halt machen. Auch die Übertragung von Ansätzen der Verwaltungsmodernisierung wie z.B. des Neuen Steuerungsmodells davon auf die Justiz durch die Justizverwaltungen, bei denen ganz überwiegend auf die Verwaltung und die Verwaltungsabläufe der Gerichte abgestellt wird, wird nur begrenzten Erfolg haben. Technik und eine funktionierende Verwaltung können nur Hilfsmittel sein. Es hängt aber maßgeblich von den Richterinnen und Richtern selbst ab, ob die Gerichte effizient, qualitativ gut, quantitativ ausreichend, ob sie dem Justizverbraucher zugewandt arbeiten. Denn Richterinnen und Richter steuern maßgeblich gerichtliches Handeln. Spruchkörper und Geschäftsstelle als Einheit verstanden sind aber die zentrale Steuerungseinheit für alles, was mit der Bearbeitung von Rechtsstreitigkeiten zu tun hat; die Steuerung erfolgt über die richterlichen Verfügungen vom Eingang der Sache bis zum Versand der Entscheidung. Das Handeln der einzelnen Akteure wirkt sich auf das "Gesamtprodukt" gerichtliche Streitschlichtung aus - sowohl hinsichtlich effektiver Arbeitsabläufe nach innen als auch der Wirkung nach außen. Eine Justizreform, die ihren Namen verdient, darf daher vor dem richterlichen Bereich nicht halt machen. Die Akzeptanz gerichtlichen Handelns und damit die Herstellung von Rechtsfrieden hängt ganz wesentlich von der Beachtung der Dienstleistungsfunktion der Justiz ab – gerade auch vor dem Hintergrund, daß die Rechtssuchenden, abgesehen von wenigen Ausnahmen (z.B. Schiedsgerichtsbarkeit), aus gutem Grund keine Wahlmöglichkeit haben. Dienstleistungsorientierung kann aber - schon aus Gründen der Verfassung, aber auch aus Gründen der internen Akzeptanz - nicht von Politik oder Verwaltung angeordnet werden.

Die Schlüsselstellung der Justiz

Den Gerichten, den Richterinnen und Richtern selbst kommt deshalb bei der Reform der Justiz eine Schlüsselstellung zu:

Die Gerichte, die Richterinnen und Richter haben in dem gegenwärtigen Stadium der Reformdebatte mit einem Ansatz, der auf Selbstverwaltung der Gerichte setzt, eine große Chance für Reformen. Probleme und Schwachpunkte der Gerichtsorganisation und der Arbeit der Gerichte sind jedenfalls Insidern der Justiz altbekannt. Vieles von dem, was immer wieder bemängelt bzw. als Abhilfe gefordert wird, ist ohne gesetzliche Änderungen etwa des Gerichtsverfassungsgesetzes zu realisieren: Niemand hindert die Gerichte daran, dienstleistungsorientiert zu sein, ihre Arbeitsabläufe zu optimieren, die Hierarchien in der Gerichtsverwaltung abzubauen, Aufgabenerfüllung zu überwachen oder Dienstaufsicht auszuüben, und zwar ohne Mitwirkung der Justizverwaltungen. Niemand hindert Präsidien daran, Belastungsanalysen vorzunehmen und auf dieser Basis eine gerechte und transparente Aufgabenverteilung vorzunehmen und diese zeitnah an Änderungen der Situation anzupassen. Niemand hindert die einzelne Richterin und den einzelnen Richter daran, ganz selbstbestimmt und unabhängig - aber zielgerichtet und in Diskussion mit anderen - die eigene Arbeit zu verbessern.

Eckpunkte einer Binnenreform der Justiz

Dementsprechend darf eine Justizreform, die ihren Namen verdient, sich nicht beschränken auf die Aufgaben, die den Gerichten zugewiesen sind, die Aufbauorganisation oder das Verfahrensrecht. Sie muß sich auch und gerade der Modernisierung der Binnenstruktur gerichtlicher Aufgabenerfüllung beziehen, wenn sie den verfassungsrechtlichen Auftrag der Justiz als Dritte Gewalt für die Gesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger, ernst nimmt. Eckpunkte einer solchen Binnenreform der Justiz sind:

Hamburg, im September 1999