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Richter am OLG Thomas Schulte-Kellinghaus, Loffenau

Die Ressourcengarantie für die Dritte Gewalt

- Verfassungsrechtliche Forderungen zur Gewährleistung einer unabhängigen Rechtsprechung,

ZRP 2006, 169      (Auszug; gefertigt von Wolfgang Hirth)

I. Einleitung

... Die meisten Richter, die mit ihrer Tätigkeit selbstkritisch umgehen, räumen ein, dass richterliche Tätigkeit heute zu einem mehr oder weniger großen Anteil damit verbunden ist, dass Richter sich - aus Zeitgründen - mit bestimmten rechtlichen und/oder tatsächlichen Aspekten eines Falls nicht beschäftigen. Mitunter wird dieser Sachverhalt mit dem ungewöhnlichen Begriff „Arbeitsverdichtung“ umschrieben2. Vor allem die Erkenntnis der - weitgehend ressourcenbedingten - Unzulänglichkeiten der eigenen Tätigkeit hat unter Amtsrichtern im Jahr 2004 zur Gründung eines neuen Verbands geführt3. Rechtsanwälte berichten, dass auf Anwaltsfortbildungen Strategien entwickelt werden, um in Zivilprozessen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass heute vermehrt Richter die Akten nicht vollständig oder nur ungenau lesen. ....

II. Die verfassungsrechtliche Ausgangssituation

... Die heute immer wieder propagierten Konzepte von Landesjustizministern zum Thema „Qualität“ sind demgegenüber schon deshalb unseriös, weil sie diesen Zusammenhang zwischen Qualität und Zeit pro Fall in der Regel vollständig verschweigen4.

Wer ist verfassungsrechtlich legitimiert, darüber zu entscheiden, wie viel Zeit ein Richter (bzw. ein Spruchkörper) für die Bearbeitung eines Falls aufwenden muss? Wer darf verfassungsrechtlich die „Bearbeitungstiefe“ einerseits oder die „Arbeitsverdichtung“ andererseits steuern? Die Antwort ist elementar: Nur der einzelne Richter (bzw. der jeweilige Spruchkörper) in der ihm übertragenen Anwendung des materiellen und formellen Rechts auf den einzelnen Fall. Denn: „Es ist ein … durch einen Blick in den knapp und klar formulierten Art. 97 I GG vermeidbares Missverständnis, richterliche Tätigkeit könne durch etwas anderes „gesteuert“ werden als durch den Rechtssatz, den formellen ebenso wie den materiellen. Allein das Verfahrensrecht und das materielle Recht sind die verfassungslegitimen Steuerungsinstrumente richterlicher Tätigkeit5“. Niemand kann dem Richter diese Verantwortung abnehmen. ...

Die verfassungsrechtliche Verantwortung des einzelnen Richters für die Zeit pro Fall bringt es mit sich, dass verschiedene Richter (und verschiedene Spruchkörper) in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung unterschiedliche Zeitbudgets für die jeweiligen Fälle aufwenden. Das ergibt sich aus unterschiedlichen Arbeitsstilen, aus der vom jeweiligen Richter zu verantwortenden „Bearbeitungstiefe“ und - selbstverständlich auch - aus unterschiedlichen Fähigkeiten der verschiedenen Richter. Auch diese Unterschiede waren vor 20 Jahren noch kein grundsätzliches Problem, da die Unterschiede in der Regel dadurch aufgefangen wurden, dass die Richter, die mehr Zeit pro Fall benötigt haben, dies - bei gleichem „Pensum“ - durch einen höheren Gesamtaufwand in ihrer Arbeitszeit ausgleichen konnten. Dies ist heute vielen Richtern nicht mehr möglich, weil Mehrarbeit nicht mehr ausreicht, um die Unterschiede auszugleichen.

Die verfassungsrechtliche Verantwortung der Richter für die Zeit pro Fall muss von der Exekutive und von der Legislative respektiert werden. Daraus ergibt sich, dass es für die Ressourcen - insbesondere für die Richterstellen - eine verfassungsrechtliche Vorgabe gibt. Die Ressourcenfrage ist - entgegen den Behauptungen der Finanzminister und der meisten Justizminister in Deutschland - keine politische, sondern eine verfassungsrechtliche Frage. Die Ressourcenbewilligung für die Justiz entspricht nur dann dem Grundgesetz, wenn Richter die Möglichkeit haben, bei der Rechtsanwendung die Zeit pro Fall aufzuwenden, die sie selbst in Wahrnehmung ihrer richterlichen Verantwortung für erforderlich halten. In diesem Punkt besteht ein entscheidender verfassungsrechtlicher Unterschied zwischen den Ressourcen für die Justiz einerseits und den Ressourcen für Finanzämter, Arbeitsverwaltung oder andere Behörden andererseits. ...

III. Die Realität richterlicher Tätigkeit in Deutschland

... Lebenszeit-Ernennungen, Beurteilungen und Beförderungen von Richtern hängen zunehmend von Erledigungszahlen ab. Darüber hinaus geht die Einflussnahme mitunter bereits weiter: In Bremen hat die Justizverwaltung versucht, mit so genanntem „Benchmarking“ Erledigungszahlen der Richter zu steigern8. Es gibt einzelne Gerichtspräsidenten in Deutschland, die in Gesprächen mit Richtern bei „Rückständen“9 bis zur Androhung disziplinarischer Maßnahmen gehen. Der Präsident des BVerwG und die Präsidenten der OVG haben im Jahr 2005 „Standards verwaltungsrichterlicher Arbeit“10 aufgestellt; diese „Standards“ sollten Verwaltungsrichter veranlassen, den Umfang der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgeschriebenen Amtsermittlung zu reduzieren. In Baden-Württemberg hat es in mehreren Fällen abwegige Strafverfahren gegen Strafrichter (teilweise bis zur Anklage) wegen angeblicher Strafvereitelung gegeben, wenn überlastete Richter in ihrem Dezernat bestimmte Verfahren nicht bearbeitet hatten11. Hierbei ist hervorzuheben, dass ein solches Strafverfahren gegen einen Richter im Hinblick auf die Organisation der Staatsanwaltschaften nur mit Billigung des Justizministeriums möglich ist.

IV. Realität und Verfassung

Die Steuerung der Rechtsprechung durch Ressourcenbegrenzungen ist verfassungswidrig. Das gilt nicht nur für direkte Einflussnahmen der Justizverwaltungen (beispielsweise durch Beurteilungen und Beförderungsentscheidungen oder auch durch Androhung von Disziplinarmaßnahmen), sondern auch für die Ressourcenbegrenzungen als solche. ...

Wenn Politiker durch Änderung der Prozessordnungen Rechtsmittel abbauen, sind die Richter an eine solche gesetzlich angeordnete Qualitätsreduzierung gebunden. Der angebliche „Sparzwang“ hingegen, der eine Begrenzung und Reduzierung der Richterstellen legitimieren soll, ist verfassungswidrig. Ein gesetzesfreier „Sparzwang“ darf von Verfassungs wegen die Rechtsanwendung der unabhängigen Richter nicht verändern. ...

Justizminister behaupten gelegentlich, sie könnten nichts machen, da für die Mittelbewilligung der Haushaltsgesetzgeber (der Landtag) verantwortlich sei. Diese Behauptung ist falsch. Im Bereich der Justiz beschließen die Landtage grundsätzlich die von der Exekutive vorgeschlagenen Haushaltsgesetzentwürfe. Landesregierungen und Landesjustizminister haben in der Vergangenheit auf eine verfassungsrechtliche Argumentation bei Haushaltsanträgen für die Justiz verzichtet. ...

V. Wie kann eine verfassungskonforme Ressourcengewährung für die Justiz aussehen?

...  „Pebbsy“ liefert nur eine aktuelle Beschreibung des Ist-Zustands. Das heißt: „Pebbsy“ beschreibt einen Zustand, in dem Wirtschaftskriminelle zu milde bestraft werden (s. o.), und in dem Richter im Wege der „Arbeitsverdichtung“ die Rechtsanwendung bereits dem Erledigungsdruck angepasst haben (s. o.). Eine Ressourcenbewilligung auf der Basis von „Pebbsy“ würde mithin die verfassungswidrige Ressourcenbegrenzung nicht beseitigen. ...

Wenn die Rechtsanwendung nach unserem Grundgesetz allein Sache des jeweiligen Richters ist, kann eine verfassungskonforme Ressourcenplanung nur beim einzelnen Richter (bzw. Spruchkörper) ansetzen:

VI. Angst vor unabhängigen Richtern bei der Ressourcenfrage? ...

VII. Was ist zu tun? ...

1.  ... Richter müssen - unabhängig vom Erledigungsdruck - über Rechtsanwendung, Bearbeitungstiefe und Zeit pro Fall selbst entscheiden. ...

2. ... Ohne Erkenntnis und Darstellung von Mängeln in der eigenen richterlichen Tätigkeit (Folgen der „Arbeitsverdichtung“, s.o.) können wir Richter in der Ressourcenfrage nicht vernünftig argumentieren. ...

3. Richter werden in der sozialen Realität dem Druck der Exekutive in der Zukunft allerdings voraussichtlich auch weiterhin nur begrenzt standhalten können. Wir Richter sind daher dringend auf die Hilfe des BVerfG angewiesen. ...

4. Der Bundesgesetzgeber ist aufgerufen, durch geeignete Regelungen im Gerichtsverfassungsgesetz die Länder an ihre verfassungsrechtlichen Ressourcenverpflichtungen gegenüber den Gerichten zu erinnern. ...

VIII. Zusammenfassung ...

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* Der Verfasser ist in einem Zivilsenats am OLG Karlsruhe tätig und Mitglied des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung. ...

2 Vgl. z.B. den Anfang 2006 veröffentlichten Bericht des Richterbundes „Die Justiz in NRW - unabhängig, leistungsstark, arm“, S. 7, Quelle: Homepage des DRB Nordrhein-Westfalen.

3 Vgl. www.amtsrichterverband.com.

4 S. beispielsweise Heister-Neumann, ZRP 2005, 12 (14), vgl. auch die Darstellung von Hoffmann-Riem zum „Projekt Justiz, 2000“ der Hamburger Justiz, in: Reform der Justizverwaltung - Ein Beitrag zum modernen Rechtsstaat, 1998, S. 243ff.

5 So Papier, NJW 2001, 1089 (1094).   ...

8 Vgl. den Bericht „Justiz Bremen im Benchmark“, DRiZ 2003, 69.

9 Es geht nur um „Rückstände“ und nicht etwa um eine zu geringe Arbeitszeit der Richter.

10 Vgl. Betrifft Justiz, 2005, 123.

11 Vgl. Albrecht, ZRP 2004, 259.   ...

13 European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) „European Judicial Systems 2002 - Facts and figures on the basis of a survey conducted in 40 Council of Europe Member States“, 2004.   ...

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Anmerkung von Hirth:

Weitere Fundstellen zum verfassungsmäßigen Haushaltsvorrang der Justiz