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Marcel Reich-Ranicki

Das Warschauer Ghetto und die
Hamburger Justiz

Sicherlich war ich nicht der einzige, auf dessen Weihnachtstisch unlängst ein Exemplar von Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" gelegen hat:

Ein streitbarer Mann, ein Meister pointierter Sentenzen, der es ebenso verwunderlich wie langweilig fände, wollte der Leser ihm – "treu" und brav – ohne Einwurf und Verwahrung zustimmen. Man stelle sich nur sein literarisches Quartett als friedlich-freundliche Konsensveranstaltung vor: ein grotesker Widerspruch in sich selbst. So ist er nun: urteilsmächtig, vulkanisch, streitbar, apodiktisch, herrisch; aber zuweilen dennoch auch liebenswürdig, sensibel, sogar charmant: ein verwittertes Unikat und Urgestein auf der deutschen literarischen Bühne.

Aber nicht darum – auch nicht um die gelegentliche Bestreitbarkeit seiner knurrigen oder raschen Urteile über Personen und Sachverhalte geht es jetzt.

Seine Biographie hat meine Erinnerung an einen meiner lange zurückliegenden Prozesse geweckt, dessen Gegenstand eng verknüpft, ja: fast identisch war mit den finstersten, grauenvollsten Zeiten im Leben des Autors. Darin ging es um das Warschauer Ghetto ...; aber lesen wir dazu, was das Schwurgericht Hamburg in einem anderen Verfahren: gegen den ehemaligen Kommandeur der Sicherheitspolizei Warschau, Dr. Ludwig Hahn, im Urteil vom 4. Juli 1975 ( (50) 16/74, S. 59-64: Gerichtsbesetzung: VRiLG Schenck, RiLG Soltau und Dr. Brück, sechs (!) Geschworene; StAe Buhk und Wegerich; RAe Dr. Wandschneider und Dr. Heinemann; Prot. JHS’in Philipp) dazu festgestellt hat:

"Am 22.7.1942 vormittags fuhren einige Dienstfahrzeuge der SS, u.a. zwei Mannschaftswagen mit Ukrainern vor dem Gebäude des Judenrats in Warschau vor. Die Ukrainer umstellen das Gebäude. Sodann ging Höfle (scil.: SS-Sturmbannführer, Leiter der Hauptabteilung "Aktion Reinhard" beim Stabe Globocnik; 20 Jahre danach – am 21.8.1962 – Selbstmord im österreichischen Gefängnis) mit seiner Begleitung ... in das Gebäude hinein und eröffnete dem Judenrat, dass nunmehr die Umsiedlung der Bevölkerung des jüdischen Wohnbezirks in Warschau beginne. Vom Judenrat waren hierbei nur einige wenige Mitglieder anwesend, da der Großteil vorher verhaftet worden war. Höfle ordnete an, dass der Judenrat die ihm nunmehr zu erteilenden Auflagen und Eröffnungen in deutscher Sprache mitschreiben zu lassen und alsbald durch Plakatanschläge bekannt zu machen habe. Diese Aufgabe wurde dem Zeugen Reich-Ranicki zuteil, der von 1929 bis 1938 in Berlin gelebt hatte, fließend deutsch sprach und schrieb und deshalb die deutschsprachige Korrespondenz für den Judenrat erledigte.

Höfle verlas dann aus einem vorbereiteten Schriftstück die nachfolgenden Eröffnungen und Auflagen für den Judenrat, und zwar so, dass der Zeuge Reich-Ranicki den Text auf der Schreibmaschine mitschreiben konnte:

I.

"Alle jüdischen Personen, gleichgültig welchen Alters und Geschlechts, die in Warschau wohnen, werden nach dem Osten umgesiedelt. ...

II. – III. ...

Verpflegung ist für drei Tage mitzunehmen.

IV.

Beginn der Umsiedlung am 22.7.1942 um 11 Uhr. ..."

Am 22. und 23. Juli 1942 erfüllte der Judenrat die ihm auferlegte Pflicht, täglich 6.000 Menschen am Umschlagplatz zu stellen, dadurch, dass er durch den jüdischen Ordnungsdienst die Insassen von Obdachlosenasylen und Kinderheimen zum Umschlagplatz bringen ließ.

Am 23. Juli 1942 nahm sich der vorsitzende des Judenrats, Adam Czerniakow, das Leben. Er hatte offenbar erkannt, dass es sich bei dieser Aktion nicht um eine Umsiedlung, sondern um eine Vernichtungsaktion handelte und wollte hierzu offenbar nicht mitwirken. ..." Soviel aus dem Hamburger Urteil.

All‘ dies – und viel mehr dazu! – findet sich in zutiefst subjektiver Spiegelung eines wie durch ein Wunder entronnenen Opfers auch in der Biographie "des Zeugen Reich-Ranicki": Die Schilderung seiner Sekretärsrolle als sprachkundiger junger Mann für den Judenrat, die diabolische Dramatik der Höfle-Szene am 22. Juli ... Schließlich muss er einer polnisch schreibenden Sekretärin die Weisung der SS in die Ghettosprache übersetzen: "... So diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil der SS über das Warschauer Ghetto" (MRR S. 241).

Was nun folgte, lässt sich bei MRR nachlesen (dazu eine ergreifende Würdigung Adam Czerniakows, den er gut gekannt hatte, vgl. MRR S. 243 ff.). Auch seine Eltern und Verwandten fielen dem Mord in Treblinka zum Opfer. In der nüchternen Sprache des Urteils lautet die allgemeine Feststellung:

"Insgesamt wurden in der Zeit vom 22. bis 30.09.1942 mindestens 225.991 Menschen auf diese Art und Weise verladen und nach Treblinka abtransportiert. Zu dieser Zahl der Opfer kommen noch diejenigen hinzu, die noch in Warschau erschossen wurden. ..."

"Unser" Verfahren (1980/1981 im "Landgericht Schleidenstraße" – heute Arbeitsgericht) betraf gleichfalls das Warschauer Ghetto, allerdings für eine Zeit, die ca. 1 bis ¼ Jahr vor den oben erwähnten großen Mordaktionen lag. Hauptangeklagter war der damalige SS- und Polizeiführer des Distrikts Warschau Wigand. Einzelheiten sind jetzt weniger wichtig. Immerhin spielte auch eine sog. Pelzaktion (man hatte den Juden, die im Ghetto ohnehin erbärmlich dran waren, unter Todesdrohung befohlen, all‘ ihre Pelzsachen abzuliefern; und viele waren deshalb umgebracht worden) eine Rolle, die auch MRR (S. 213) erwähnt. Da es im übrigen um die zahlreichen Tötungen ging, die auf Grund eines sog. Schießbefehls damals außerhalb des Ghettos geschehen waren, spielte im juristischen Zusammenhang (Mordqualifikation?) die Tatsache eine gewisse Rolle, dass die Ghettoisierung der Juden rassenpolitisch motiviert war, wie dies allerdings für jeden Kundigen auf der flachen Hand liegt. Die SS hatte das seinerzeit mit der Version zu vertuschen gesucht, die Ghettobildung sei eine rein medizinische: seuchenpolizeiliche Maßnahme geradezu fürsorglichen Charakters. Auch MRR (S. 205) erwähnt diese höhnische Propaganda, die Ursache und Wirkung einfach umdreht. Im Prozess übernahm der Hamburger RA Jürgen Rieger die alte Propagandathese auf seine Art: Nachdem das Verfahren im Großen und Ganzen friedlich, sogar ohne Inanspruchnahme guter prozessualer Rechte der Verteidigung, verlaufen war (wer hätte damals an all‘ das gedacht, womit der nämliche Anwalt sich später im "Stuttgarter Neonazi-Verfahren" hervortun sollte: das gab’s doch nur "links"! vgl. dazu den Bericht von Wassermann in NJW 1994 S. 1106 ff. und 1708; auch Rieger selbst in "NS-Kampfruf" vom Juli/August 1994, folgte das Unerhört-Unsägliche schließlich am 13. November 1981 im Plädoyer: hier bestritt er die Mordqualifikation des niedrigen Beweggrunds mit der – durch entsprechende NS-Quellen unterlegten – Behauptung, das Ghetto sei lediglich zur Fleckfieberbekämpfung eingerichtet worden. Das war dem Publikum zu viel. Arie Goral, Prozessbeobachter der Hamburger Jüdischen Gemeinde, sprang auf und rief (sinngemäß) in den Saal, solche ungeheuren Verleumdungen und Beschimpfungen der Opfer dürfe sich kein deutsches Gericht anhören. Hier müsse Schluss gemacht werden, Herr Rieger werde dies verantworten müssen. Die Emotionen griffen rasch auf das weitere Publikum über, es entstand ein Tumult – zugleich eine interessante Situation für die Presse.

Was tun? In dieser Sekunde erschien mir der § 238 I StPO ("Die Leitung der Verhandlung ... erfolgt durch den Vorsitzenden") als Last und Bürde. Ob etwas zu entscheiden war, musste sofort entschieden werden; für Reflexionen gab es 3 bis 5 Sekunden! Was mir durch den Kopf schoss, war etwa dies: Arie Goral, dessen Schicksal ich ungefähr kannte, hat ganz recht; denn was Rieger hier mit unterkühlter Stimme, leise und umso verletzender von sich gibt, ist infam, ist Lüge und Verdrehung, ja Verhöhnung. Aber hat Goral, so recht er hat, denn wirklich ganz recht?? Der Anwalt vor Gericht muss das Unerhörte vielleicht doch sagen dürfen; so etwa hatte Adolf Arndt einmal geschrieben, und diese ärgerliche Freiheit der Advokatur wird sie gewähren! Das Publikum, so schien mir jedenfalls, erwartete aber ein Machtwort des Vorsitzenden: die Wortentziehung zum mindesten. Ich habe Herrn Rieger das Wort nicht entzogen, ihn auch nicht aus dem Saal gewiesen. Da pures Nichtstun allerdings auch nicht in Betracht kam, habe ich den Rechtsanwalt zur Mäßigung ermahnt und inquiriert, ob denn wirklich noch ein sachlicher Zusammenhang bestünde zwischen diesem abwegigen Vortrag und einer Verteidigung des Mandanten (bei welcher Frage mir eigentlich bewusst war, im Falle der Replik am ziemlich kurzen Hebel zu sitzen); und ich habe überhaupt eine Zeit lang geredet, ohne viel zu sagen. Was ich damit veranstaltet habe, war gewiss keine rhetorische oder intellektuelle Glanzleistung. Aber hier galt für das Reden just das, was Albrecht Goes ("Unruhige Nacht") einmal über das Rauchen geschrieben hat: es geschieht etwas dort, wo es schrecklich wäre, wenn nichts geschähe. Jedenfalls fuhr Rieger, ohne zwischenzeitliche förmliche Unterbrechung, aber nach einer faktischen Pause, fort zu plädieren. ...

Der Prozess ging im Dezember 1981 zu Ende; Wiegand wurde zu 12 Jahren verurteilt. Dann folgte ein Nachspiel. Es betraf nicht das Urteil selbst (da Rieger nur die Sachrüge erhoben hatte, wurde es vom BGH bald bestätigt), sondern die (hier nur unvollständig) erwähnten schlimmen Teile des Plädoyervortrags. Arie Goral hatte schon am 20. XI Strafanzeigen wegen Beleidigung der Opfer gegen RA Rieger gestellt. Der Rieger-Auftritt war bald schon von der Presse als Skandal herausgestellt und kommentiert worden. Der STERN hatte das (unter Federführung von Günther Schwarberg anlässlich eines späteren NS-Prozesses vor unserer Kammer) aufgegriffen und dabei Behauptungen über Rieger aufgestellt, denen dieser gerichtlich entgegengetreten war. Die ZK 24 des Landgerichts hatte in einer Pressesache gegen den STERN entschieden, das OLG später wieder anders. Zwei Sätze der landgerichtlichen Begründung gerieten in die Zeitung und wurden kräftig skandalisiert. Heinz Galinski, der darüber gelesen haben und zu der Meinung gelangt sein muss, die Hamburger Landrichter teilten Riegers abwegige Thesen in Sachen Ghetto, erstattete von Berlin aus bei Herrn Makowka Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die Richter der ZK 24.

Am 14.7.1982 erhob die StA Hamburg Anklage gegen RA Rieger, weil er durch seine inkriminierten Äußerungen Verstorbene verunglimpft und Opfer beleidigt habe. Das wurde Anfang 1983 vor der Großen Strafkammer 23 (VRiLG Mentz, BE RiLG Grothe) verhandelt. Ich wurde dorthin als Zeuge gerufen; fast alles stand in Akten und Urkunden, nur die vielleicht ja entscheidende Frage war offen: wollte der Anwalt beleidigen oder verteidigen? Oder vielleicht das eine tun und das andere nicht lassen?

Rieger wurde am 27.01.1983 zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Aber der BGH hob das Urteil ein Jahr später auf Revision Riegers sowie der StA und der Nebenkläger (die weitergehende Verurteilung verlangt hatten) auf und verwies den Fall zurück – mit der Bemerkung: " .... wird zu beachten sein, dass dem Strafverteidiger im Interesse wirksamer Verteidigung grundsätzlich ein weiter Spielraum eingeräumt ist. ..." Im April 1986 saß ich also wieder als Zeuge vor einer Strafkammer – der Großen Strafkammer 14, welcher Herr VRiLG Brüchner präsidierte, der mich genauso fragend anblickte wie vordem Herr Mentz. Ich konnte mich nur wiederholen. Das Urteil erkennt diesmal auf 120 Tagessätze. Rieger legte natürlich Revision ein, und diesmal riss dem BGH der Geduldsfaden: Sein Urteil vom 15.09.1987 – fast 6 Jahre nach dem fatalen Plädoyer – lautete auf Freispruch für Rieger: "... Nach allem tritt hier der Schutz der Ehre gem. § 193 StGB gegenüber dem rechtsstaatlichen Gebot, eine ungehinderte und damit wirksame Strafverteidigung zu ermöglichen ..., zurück."

Wie eingangs bemerkt, waren es die Lebenserinnerungen MRR’s, die mir diese scheinbar schon so lange abgetanen Dinge wieder in Erinnerung gerufen und mich bewogen haben, in verquollenen Leitzordnern nach Urkunden zu graben. Dass in den zahlreichen Gerichtsverfahren immer wieder unterschiedlich judiziert worden ist, spricht nicht gegen, sondern für die Gerichte. Auch sechs Jahre waren nicht zu viel für die Klärung einer vertrackten Frage, auf die es allenfalls "rein juristisch" eine richtige und letztlich überzeugende Antwort gibt: wie ich finde, die des 5. BGH – Strafsenats. Der Rechtsstaat, zu dem die freie Advokatur unabdingbar gehört, fordert zuweilen seinen Preis; und den wird man – wohl oder übel! – notfalls auch einmal mit zusammengepressten Lippen bezahlen müssen.

Günter Bertram