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"Nationalsozialismus
und Justiz"
Tagung in Salzau vom 17. bis 19. Oktober 2000

Diese für alle Teilnehmer außergewöhnliche Tagung des Schleswig-Holsteinischen Richterverbandes, des Hamburgischen Richtervereins und des Vereins Bremischer Richter und Staatsanwälte fand vom 17. bis 19. Oktober 2000 im Landeskulturzentrum Salzau in der Nähe von Kiel statt. Bislang wurde diese Tagung schon acht- oder neunmal für Referendare veranstaltet, jetzt zum ersten Mal für Richter und Staatsanwälte. Außergewöhnlich war diese Tagung deshalb, weil nicht nur alle Referate ausgezeichnet waren und über ihren Gegenstand unter Einbeziehung des aktuellen Forschungsstandes hervorragend informierten, sondern weil insbesondere im Teilnehmerkreis einige Kollegen bzw. ehemalige Kollegen saßen, die selbst in der Zeit nach 1960 als Anklagevertreter oder Richter an NSG-Verfahren beteiligt waren. Es ergab sich daher ein sehr spannender und informativer Dialog zu allen angesprochenen Fragenkreisen.

Prof. Jörn Eckert von der Universität Kiel eröffnete die Tagung mit einem Referat über die "Kieler Schule" in der Rechtswissenschaft. Der Rechtshistoriker Eckardt, der ein überzeugter Nationalsozialist war - Mitglied der SS und Vertrauter Himmlers, mit dem er unter anderem Ahnenforschung betrieb - trug nach Prof. Eckert maßgeblich dazu bei, dass mit Larenz, E.R. Huber und Dahm nach der Machtergreifung drei junge Rechtsgelehrte an die Universität Kiel berufen wurden, die eine völlige Umgestaltung des Rechts nach nationalsozialistischen Rechtsprinzipien beabsichtigten. So verwarfen Larenz und Huber im privaten und im öffentlichen Recht den Begriff des subjektiven Rechts. Nach der damaligen Doktrin von Larenz sollte der Einzelne in der Volksgemeinschaft lediglich eine Rechtsstellung besitzen, die vornehmlich durch Pflichten definiert wurde. Juden waren nach dieser Doktrin keine Rechtspersonen mehr, da sie keine Volksgenossen waren. Dahm ist neben Schaffstein der maßgebliche Vertreter des autoritären Strafrechts, von diesen wird die Straftat als Treuebruch gegenüber Führer und Volk qualifiziert In Bezug auf Larenz ist insoweit ein kurzer Aufsatz von Ralf Dreier in der Juristenzeitung (JZ 1993, 454 ff.) von Interesse - auf den Prof. Eckert besonders hinwies -, in dem Dreier einen Brief von Larenz nach dessen Tod veröffentlicht. In diesem Brief erläutert Larenz seine Haltung während des "Dritten Reiches". Dem Vortrag von Prof. Eckert folgte dann das Referat von Prof. Graue über das "Zivilrecht im Nationalsozialismus", in dem Prof. Graue anhand einer Reihe von Fallbeispielen die zivilrechtlichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Rechtsdoktrin erläuterte und dabei deutlich machte, dass schon die Gerichte in der Anfangsphase der Machtergreifung, ohne dass es zu substantiellen Änderungen in den kodifizierten Normen des BGB gekommen wäre, das Parteiprogramm (!) der NSDAP als Auslegungsparameter für Entscheidungen heranzogen.

Staatsanwalt Dr. Bernd Schmalhausen aus Essen referierte sodann zum Ende des ersten Tages über "Schicksale jüdischer Juristen aus Essen 1933 bis 1945"; über dieses Thema hat er auch ein Buch veröffentlicht. Ausgangspunkt seiner Beschäftigung mit dem Thema war eine Begegnung mit Bernhard Ferse. Dessen Vater war Landgerichtsdirektor in Essen, ehe ihn die Nazis aus dem Justizdienst entfernten. Nach über fünfzig Jahren besuchte Bernhard Ferse das erste Mal seine frühere Heimatstadt - er lebte inzwischen in Israel - weil ihm jemand erzählt hatte, zum Gedenken an seinen Vater hänge heute irgendwo im Landgericht dessen Porträt. Ein Photo des jüdischen Landgerichtsdirektors Ferse entdeckten die beiden nicht, statt dessen aber in der Galerie der Landgerichtspräsidenten das Portrait des von 1933 bis 1945 amtierenden Präsidenten. Dieser hatte Bernhard Ferses Vater aus dem Justizdienst gedrängt. Dr. Schmalhausen berichtete außerordentlich spannend, wie sehr ihn diese Feststellung schockierte und er beschloss, dagegen bei den verantwortlichen Personen vorzugehen. Der damalige Essener Landgerichtspräsident, der mittlerweile OLG-Präsident in NRW ist, sah das Engagement für Bernhard Ferses Vater und gegen den von 1933 bis 1945 amtierenden Präsidenten aber als gänzlich unangebracht an. Er weigerte sich zunächst, das Porträt zu entfernen, und zwar mit dem Hinweis, er habe die Personalakten des Kollegen gelesen und festgestellt, dass dies ein ganz ausgezeichneter und untadeliger Jurist gewesen sei. Erst nach fortwährenden Bemühungen Dr. Schmalhausens wurde das Porträt - im Zuge der öffentlichen Empörung über das Deckert-Urteil - entfernt. Die Bemühungen Dr. Schmalhausens um eine Gedenktafel für die ermordeten und aus der Justiz entfernten Essener Kollegen waren zunächst ebenfalls nicht von großem Erfolg gekrönt. An der Sammlung für die Gedenktafel beteiligten sich zunächst nur 4 (!) Kollegen aus der Essener Staatsanwaltschaft. Erst nachdem die Bemühungen Dr. Schmalhausens von politischer Seite aufgegriffen wurden, war die Bereitschaft zum Engagement auch bei der Verwaltungsspitze erheblich größer, insbesondere als ein feierlicher Festakt zur Einweihung des Gedenksteins geplant wurde.

Am zweiten Tag referierten zunächst Prof. Heribert Ostendorf über "Die Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die deutsche Justiz" und OStA Dr. Löhr über "Die Aufarbeitung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes nach 1945". Prof. Ostendorf spannte den Bogen vom Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem ersten Internationalen Militärtribunal in Nürnberg bis zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Besondere Erwähnung fand bei ihm die Ludwigsburger Zentrale zur Aufklärung der NS-Verbrechen 1958, deren Einrichtung durch die Ulmer Einsatzgruppenprozesse ausgelöst worden war. Die Arbeit der Zentrale war aber - darauf verwies auch OStA Dr. Löhr - wesentlich zu unkoordiniert, um effektiv zu sein. Dr. Löhr wies insbesondere darauf hin, dass ein großes Manko bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland das Fehlen einer zentralen Anklagebehörde für NSG-Sachen gewesen sei und dass deshalb notwendig eine erhebliche Mehrfacharbeit von den jeweils örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften geleistet werden musste, da diese sich alle selbständig in die historisch-politischen, wirtschaftlichen, militärischen, geographischen etc. Sachverhalte einarbeiten mussten. Dies ging erheblich zu Lasten der Effektivität. Besonders eindrucksvoll bei diesen beiden Referaten war es zu erfahren - auch in der Debatte mit den anwesenden Kollegen - das erst mit einer neuen Generation von Staatsanwälten etwa im Jahre 1960 eine wirkliche Aufarbeitung der NS-Gewalttaten begann. Einige dieser Kollegen waren bei dieser Tagung - etwa OStA Dr. Löhr und OStA a.D. von Raab-Traube - auch anwesend.

Weiteres Thema am zweiten Tag war "Die Strafverteidigung vor dem Sondergericht Kiel/Altona" (Rechtsanwalt Klaus Fischer) und "Die Rechtsprechung der Sondergerichte in Schleswig-Holstein 1933 - 45" (Klaus Bästlein). Hier war es sehr interessant, über einzelne Verfahren und die Entscheidungspraxis der Sondergerichte zu sprechen. Herr Bästlein informierte dabei sehr genau über die einzelnen anzuwendenden Vorschriften wie die Volksschädlingsverordnung, Kriegswirtschaftsverordnung, Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen etc. Auch die Lebensläufe einzelner Richter und ihre Möglichkeit, nicht immer auf die Todesstrafe zu erkennen, wurde angesprochen. So wurde in Hamburg zwei Monate vor Kriegsende ein Mann für die Äußerung: "Kennst Du den kürzesten Witz? Wir siegen!" zum Tode verurteilt. In Berlin wurde eine Frau zum Tode verurteilt, die aus einem ausgebombten Haus drei verdreckte Oberhemden herausholte; sie konnte diese Hemden offensichtlich überhaupt nicht gebrauchen, ihr Beweggrund war mehr das hausfrauliche Interesse, diese Hemden nicht verrotten zu lassen. In vergleichbaren Fällen entschied beispielsweise das Sondergericht Kiel auf Freiheitsstrafen von sieben Monaten.

Am dritten Tag referierten dann zum Abschluss der Tagung OStA a.D. Horst Richter aus Kiel über "Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten" und RiOLG Andreas Martins - der Tagungsleiter - über "Nationalsozialismus und Justiz heute". OStA a.D. Horst Richter griff dabei die Thematik von OStA Dr. Löhr auf und informierte über einige weitere interessante Fakten wie beispielsweise die durchschnittliche Verfahrensdauer in NSG-Sachen - etwa 16 Jahre - sowie die Gründe für eine derartige Verfahrenslänge, die er neben dem Fehlen einer zentralen Anklagebehörde unter anderem in der zwischengeschalteten Tätigkeit des Ermittlungsrichters sah. Martins erläuterte Probleme der Strafverfolgung von NS-Äußerungsdelikten und Gewalttaten heute. Er unterschied dabei drei Tätergruppen, nämlich die sog. alten Nazis, die Neo-Nazis und die Skinheads. Martins thematisierte auch die sozialen Hintergründe der sog. Skinhead-Gewalttaten, die er unter anderem in einer vaterlosen Erziehung sah.

Die Tagung war insgesamt ein wirklicher Gewinn für alle interessierten Kollegen. Im Gespräch mit Hamburger Kollegen ergab sich die gemeinsame Auffassung, dass die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit und insbesondere der NS-Justiz ein wichtiges Element in der Herausbildung eines richterlichen Ethos und einer grundlegenden Ethik überhaupt bildet. Viele ethische und moralische Fragen werden vor dem Hintergrund der Schrecken der NS-Zeit schärfer gefasst und klarer akzentuiert. Aus diesen Gedanken resultiert die Idee, eine Fortsetzung der Tagung mit Themen über die NS-Justiz in Hamburg ins Auge zu fassen. Zudem gibt es großes Interesse an der Veranstaltung von Filmtagen etwa im "Metropolis", wo vor ein paar Jahren schon einmal der antisemitische Veit Harlan-Film "Jud Süß" gezeigt wurde und ein großes Besucherinteresse fand. Auch auf der Tagung wurden, zusätzlich zu den Wortbeiträgen, die beiden Fernsehfilme "Das Heimweh des Walerjan Wrobel" und "Die Affäre "Heyde/Sawade" gezeigt, die in der bildlichen Darstellung der Geschehnisse eine besondere Intensität besitzen. Es gibt einen reichhaltigen Fundus von Spielfilmen und Dokumentationen, die es verdienen, erneut einem größeren Publikum gezeigt zu werden.

Axel Enderlein (RilG)