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Bayerischer Zwischenruf

Der Bayerische Richterverein hatte, bewährter Tradition folgend, kurz vor Weihnachten 2000 die Seinen zum "vorweihnachtlichen Festabend" nach Fischbachau zusammengetrommelt und ihn mit einer vorweg zu absolvierenden Kurztagung über das Thema "Bessere Justiz durch Dreistufigkeit?" verknüpft. Da ich über die strafrechtliche Seite dieser Medaille zu referieren hatte (obwohl, wie der Kollege Burghart in den MHR 4/2000, S. 9-12 mit treffsicherer Ironie anmerkt, insoweit die Hauptsache urplötzlich erledigt worden ist - einstweilen erledigt!), bin ich dann der freundlichen Einladung, zum geselligen Abend zu bleiben, gern gefolgt. Der Aurachhof in Fischbachau mit Tannenbaum, langen festlichen Tafeln, Weihnachtsliedervortrag, Musik, der launigen Ansprache eines leibhaftigen Landesjustizministers, gepflegten Weinen dazu: das alles wäre, mit Thomas Mann gesprochen, allein schon "buchenswert" gewesen. Aber jetzt geht es um etwas anderes:

Der neue Vorsitzende des Bayerischen Richterbundes OStA Horst Böhm trug anlässlich des Abends ein paar Gedanken vor über ein richterliches Leitbild, richterliche Tugenden, - Qualitäten, einleuchtende und fragwürdige Zuschreibungen, mit denen man den Richter, das unbekannte Wesen, zu umkreisen pflegt: oder wie immer man das Thema kurz fassen will, an das auch die MHR (vgl. z.B. 4/2000 Wiedemann: Deutscher Richterbund auf Hochglanz) mit Recht immer wieder erinnern.

Ich greife nun auf eigene Faust aus der Rede ein paar Zitate heraus:

"... Vom Richterbild zum Leitbild, zum Anforderungsprofil, oder (um es noch moderner auszudrücken) zur "job description", wobei mir beim Anforderungsprofil schon der Wortteil "-forderung" ebenso missfällt wie Profil, ein Wort, bei dem man eher an abgefahrene Reifen als an ethische Grundsätze für Richter denkt. ...

Ein wichtiges Thema trotzdem, weil es die Richterschaft zwingt, über sich selbst nachzudenken, weil das korrekte Richterbild Ansporn für junge Kollegen sein kann, weil jeder eine ideale Orientierung braucht und weil sich unser Umfeld in den letzten Jahren mit einer erschreckenden Rasanz verändert hat, was mit den Schlagworten EDV, Globalisierung, Sparzwänge, neue Steuerungsmodelle, Forderungshaltung der Bürger, Reformwut u.a. belegt werden kann. Damit befinden sich aber die Kollegen in einem Umdenkungsprozess, dem sie sich nicht entziehen können. ...

Zwei Aspekte eines Richter-Wunsch-Bildes sind mir in den letzten Monaten aufgefallen.

Richter als Schlichter

Landauf landab wird gepredigt, wie wichtig es sei, auch im Gerichtssaal Probleme einvernehmlich zu lösen, z.B. als Mediation, durch einen Täter-Opfer-Ausgleich im Strafrecht ..., die außergerichtliche Streitschlichtung, die "konsensuale Lösung von Strafprozessen" u.a.. All das kann und wird zusammengefasst unter dem Motto "Schlichten ist besser als Richten".

Das Zivilprozessreformgesetz verlangt sogar noch mehr, und zwar neben der obligatorischen "Güteverhandlung" gem. § 278 in § 272 a I das richterliche Bestreben, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung bedacht zu sein, und gem. § 279 III soll das Gericht auch nach Durchführung der Beweisaufnahme "auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits" erneut hinwirken, und schließlich "kann" das Gericht in geeigneten Fällen gem. § 278 IV S. 2 den Parteien eine außergerichtliche Streitschlichtung (Mediation) vorschlagen. Ist das nicht des Guten zuviel?

Dazu ein kleiner Hinweis aus der Praxis:

In Wahrheit wird im Gerichtssaal gefeilscht, gepokert, und mancher muss sich wie ein Huhn rupfen lassen, damit er sich wenigstens einen Teil seiner ihm zustehenden Forderung sichert. Vergleichsverhandlungen arten häufig aus in ein für das Gericht unwürdiges Hin- und Hergezerre wie auf einem Basar. Es geht dabei meist nicht mehr um Gerechtigkeit, sondern um die Minimalisierung des eigenen Risikos, insbesondere im Hinblick auf die Vollstreckbarkeit eines Titels.

Dabei weiß niemand, ob und wie häufig die vergleichsweise Regelung tatsächlich und auf Dauer Rechtsfrieden gebracht hat. Statistiken darüber habe ich noch nicht gesehen.

Will der Bürger immer ein derartiges Verfahren? Empfindet er diesen Zwang zum Miteinander-Reden möglicherweise nicht als unerbetene Psychotour?

Will er, wenn er zu Gericht geht, es nicht auch einmal definitiv "wissen"? Will er vielleicht die richterliche Entscheidung, der er sich guten Gewissens unterordnen kann, unbedingt? Brauchen die Beteiligten uns als nichtstreitentscheidende juristische Berater mit psychologischem oder sozialpädagogischem Touch? Verändert sich bei einem Fortschreiben dieser Tendenz nicht auch unser Ansehen in der Bevölkerung: weg vom unabhängigen Gesetzesanwender bzw. Entscheider und hin zum Sozialarzt, Sozialingenieur oder Lebensberater?

...

Wird hier nicht übersehen oder zumindest unterschätzt, dass richterliche Ratschläge leicht in richterliche Bevormundung umschlagen können, wenn nicht die Autorität des Gesetzes hinter dem Richter steht, sondern seine - subjektive - Sicht der Dinge?

Ist das neue außergerichtliche Schlichtungsverfahren für Nachbarstreitigkeiten und geringe Streitwerte nicht auch eine gefährliche Flucht vor dem Richter?

Wenn sich die "Schlichter" etablieren, werden sie nicht mit der Zeit Wert darauf legen, dass ihre Kompetenzen ausgedehnt werden? Ist das Modell erfolgreich, wird dann nicht auch der Gesetzgeber bereit sein, das vermeintlich billigere Schlichtungsmodell als Alternative - quasi als "justice light" oder "Gerichtsverfahren für Arme" - auszubauen?

Diese Flucht vor dem angeblich zu teuren Richter ist auch zu befürchten durch weitere Aufgabenverlagerungen auf Rechtspfleger, die bei der sog. "Binnenreform der Justiz" von der Länderjustizministerkonferenz zumindest im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit ins Auge gefasst wird.

Auf der anderen - sprich reichen - Seite haben wir dann funktionell etwas Ähnliches nämlich die "Schiedsgerichte", derer sich die Betuchten mehr und mehr bedienen, weil sie dort schneller zu Ihrem Recht kommen, und weil sie sich dort für Ihr gutes Geld die besten Koryphäen holen können.

Besteht hier nicht langfristig die Gefahr, dass die Ziviljustiz ihr Monopol verliert an nichtstaatlich bzw. halbstaatlich organisierte oder zumindest kontrollierte Personen?

Werden die Zivilgerichte vielleicht aufgerieben zwischen Schlichter und Schiedsgericht? Erleben wir, kurz gesagt, nicht schon die ersten Schritte hin zur Privatisierung, und ist der Zwang zur Güteverhandlung nicht der erste Schritt zur Angleichung an diese Konkurrenz?

Dieses "Outsourcing" bei der Streitschlichtung, um einen modernen Begriff zu verwenden, kann auch so enden, dass sich die Leute bei Richterin Salesch in einer Mischung von Talkshow und Gerichtsverhandlung präsentieren können und müssen. Vergessen Sie bitte nicht: der privatwirtschaftliche Bereich unterliegt eigenen Gesetzen, und der Wettbewerb kann eigenartige Blüten produzieren. ...

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es wäre töricht, neue Modelle der Konfliktbewältigung nicht zu erproben. Ich glaube auch nicht, dass wir in absehbarer Zeit Zivilprozesse zum Schnäppchenpreis im Discount oder bei Mc Justice kaufen können und müssen.

Es wäre aber genauso töricht, wenn man nicht rechtzeitig auf die Gefahren einer solchen Entwicklung hinweisen würde.

Vielleicht wäre es eine gangbare Lösung, wenn man diese neuen Formen der Streitentscheidung mit größtmöglicher Entfernung zum Gerichtsverfahren einführen würde, um eine Konkurrenz oder gar die Gefahr einer weiteren - vierten - Instanz mit fünfgliedrigem Gerichtsaufbau zu vermeiden. ...

Völlig verfehlt, aber stark im Kommen, ist die Suche nach Konsens und Akzeptanz im Strafprozess. Was hier unter dem Deckmantel der konsensualen Lösung angepriesen wird, entpuppt sich sehr schnell als ein Schritt zu einem weiteren obligatorischen Strafrabatt. Rechtsanwälte und Bundesjustizministerium sprechen auch schon unverblümt vom "partizipatorischen Verfahren". Gemeint und gewollt ist aber damit nur mehr Einfluss der Beschuldigten und ihrer Verteidiger auf die richterliche Entscheidung und weniger Einfluss der Staatsanwaltschaft, wobei diese Rechnung nur aufgeht, wenn erheblich mildere Urteile gefällt werden.

"Sozialkompetenz"

Ein anderer Aspekt eines Richterwunschbildes: Zur Einstimmung ein Zitat aus der Diskussion um das ZPO-Reformgesetz (aus dem Redebeitrag der Bundesjustizministerin auf dem 63. DJT in Leipzig Ende September 2000):

"Im Mittelpunkt der Reform steht die Stärkung der ersten Instanz. Denn dort machen die Bürgerinnen und Bürger ihre Erfahrungen mit der Justiz. Dort müssen sie sozial kompetente Richterinnen und Richter vorfinden, die Zeit haben, die Parteien anzuhören, Vergleichsgespräche zu führen und ein Urteil zu schreiben, das die Parteien verstehen und akzeptieren."

Was, meine Damen und Herren, wird hier wohl besonders aufmerksam zu registrieren sein? Nicht das intensive Eingehen auf die Parteien. Nicht das verständliche Formulieren von Urteilen. Das alles wird von uns voll unterstützt, und die Kollegen bemühen sich auch darum. ...

Ich habe aber ganz massive Probleme mit dem Begriff "sozial kompetenter Richter".

Was soll man darunter verstehen?

Die Zuordnung dieses "Bildes" ist für die meisten wohl sehr leicht, es handelt sich hierbei um das Richter-Wunsch-Bild der Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin und anderer. ...

Was meinen diese und andere hochrangige Juristen und Politiker wohl mit Sozialkompetenz und menschliche Qualitäten?

Es gibt ja zahlreiche Sozialberufe (Altenpfleger, Krankenpfleger u.a.), denen unser Respekt gilt, die aber wohl nicht gemeint sein können. Oder müssen wir uns vielleicht vermehrt mit dem Handwerk der Sozialpädagogen vertraut machen und diesem Berufsstand nacheifern?

Gibt es sichere Kriterien für soziale Kompetenz? Wer vermag diese Fähigkeit zu prüfen?

Nähern wir uns also dem Begriff "Sozialkompetenz" und versuchen, ihn auszulegen:

Er kommt nicht von ungefähr. Eingereiht in einen erweiterten Katalog schöner Charaktereigenschaften finden wir die soziale Kompetenz in einem Aufsatz der LG-Präsidentin Konstanze Görres-Ohde, die nur solche Kollegen für förderungswürdig hält, die "couragiert, mit sozialer Kompetenz ausgestattet, offen, einfühlsam, kreativ, ausgleichend ... eben mit all diesen wahnsinnig tollen Eigenschaften," aufwarten können. Die notwendige fachliche Kompetenz verstehe sich doch von selbst. ...

Lamprecht baut darauf auf, fordert soziale Kompetenz, die er als "Sesorium für die Werte-Vorgaben des Grundgesetzes" definiert und erreicht damit wenigstens ansatzweise juristische Dimensionen. Aber es stellt sich immer noch die Frage, wie man prüfen soll, wer dieses "Sensorium" hat, wie zwei Kandidaten miteinander vergleichen, wie im Konfliktfall, wenn es um Beförderung oder Einstellung geht, ein Verwaltungsgericht diese Kriterien überprüfen soll.

Was ich bisher gefunden und zitiert habe, das sind alles schöne Eigenschaften für einen Richter, aber leider Gottes nicht messbar, und wer glaubt, durch Psychotests, durch Belastung, durch Trockentraining ein gerechtes, notenmäßiges Ergebnis erzielen zu können, der wird scheitern. Wer ernsthaft menschliche Charaktereigenschaften als Beurteilungskriterium einführt, öffnet letztlich nur subjektiven und damit willkürlichen Ergebnissen Tür und Tor.

Bestenfalls schafft man ein Arbeitsfeld für Psychologen oder andere selbst ernannte Experten, die den Kandidaten den letzten Schliff geben, damit sie ihre "soziale Kompetenz" dem Prüfer besser vermitteln können.

Selbstverständlich wird in diesem Zusammenhang auch der absolute Paradefall für soziale Kompetenz zitiert, nämlich die Entscheidung der Frage, ob der Anblick von Behinderten einen Reiseschaden darstellt oder nicht. Das führt natürlich zu dem, was man heutzutage als Konsensfalle bezeichnet. ...

Wie wird hier ein Richter entscheiden, der sein richterliches Selbstverständnis an einer diffusen Sozialkompetenz orientiert und unter diesem Gesichtspunkt selektiert wurde? Diese Frage stellt sich dann wohl nur noch rhetorisch. ....

Aber es gibt wohl noch einen anderen Grundtenor, der hinter der "Sozialkompetenz" steckt, und zwar die bevorzugte Vertretung der Interessen der schwächeren Bevölkerungsschichten: notwendigerweise im Verhältnis zu sozial stärkeren Mitgliedern der Gesellschaft. Demnach müsste der sozial kompetente Richter die sozial Stärkeren benachteiligen. Dafür spricht wiederum ein Zitat unserer Justizministerin, die erklärt hat, dass mit der Zivilprozessreform "wieder deutlich wird, dass unser Recht auf der Seite der Schwächeren steht.

Die Kombination der angemahnten Sozialkompetenz mit der Positionierung des Rechts im Lager der Schwachen ergibt eine hochbrisante und gefährliche Mischung. Diese - klassenkämpferische - Schlussfolgerung zeigt, wo der Fehler im Denkansatz zu finden ist, denn die Grundaussage klingt ja zunächst sehr faszinierend. Ich denke, dass man dabei übersieht, dass "soziale Kompetenz" eine moralische Einordnung darstellt, d.h. wir haben es nicht mit einem objektiven Begriff zu tun, sondern mit Kategorien, die sich letztlich auf die Frage "gut oder böse" reduzieren lassen. Der "Gute" steht selbstverständlich immer auf der Seite des Schwächeren. Dem Richter, vor dem alle gleich sind, und zwar die Schwachen und die Starken, steht diese "Robin Hood Mentalität" jedoch nicht zu. ..."

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Der Bayerische Zwischenruf mag wiederum zu Zwischenrufen reizen, zumal Böhm das von ihm kritisch beäugte Szenario - zu Recht oder Unrecht - auch und nicht zuletzt in unserem nördlichen "Nahbereich" entdecken zu können glaubt. Aber Kontroversen beleben bekanntlich das Geschäft - und die MHR.

Günter Bertram