Kollege Enderlein hat im letzten Mitteilungsblatt (MHR 4/2000 S. 13-15) von der Oktobertagung über "Nationalsozialismus und Justiz" in Salzau berichtet. Mit Recht meint er, Schrecken und justizielles Versagen jener Zeit würfen ein verschärftes Licht auf richterliche, rechtsethische und rechtspolitische Fragen der aktuellen Gegenwart. Dazu hatte der Schleswig-Holsteinische Verbandsvorsitzende RiOLG Andreas Martins zum Auftakt der Tagung ein paar bedenkenswerte Worte gefunden, deren Kurzfassung wir nach dem dortigen Info 3/2000 S. 5 f. zitieren:
" 'Die Bestimmungen des deutschen Jugendgerichtsgesetzes sind lediglich für den jungen Deutschen geschaffen, um ihn durch Erziehungsmaßnahmen zu einem ordentlichen Volksgenossen zu formen.'
Dieses Zitat aus dem Todesurteil des Sondergerichts beim Landgericht Bremen gegen den 17-jährigen Zwangsarbeiter Walerjan Wrobel (S. 5 Sond. KLs. 42/42) ist ein beredtes Beispiel pervertierter Rechtsanwendung. Den politischen und justitiellen Opportunitäten der Zeit folgend, wurde das eigentlich anzuwendende Jugendgerichtsgesetz, das den Angeklagten vor der Todesstrafe bewahrt hätte, mit einer fadenscheinigen Begründung für nicht anwendbar erklärt. Denn das Ergebnis stand schon fest: Da der Staatsanwalt dem Justizminister bereits berichtet hatte, er werde die Todesstrafe beantragen - was er dann auch tat -, durfte zwangsläufig auch der Strafausspruch nur auf Todesstrafe lauten.
Um eine bestimmte politisch gewollte Rechtsfolge erwirken zu können, wird eigentlich anzuwendendes, entgegenstehendes Recht einfach für nicht anwendbar erklärt. Eine Vorgehensweise, die uns Angehörige einer in eine rechtsstaatliche Tradition hineingewachsenen Juristengeneration in ungläubige Empörung versetzt.
Aber auf welchen Pfad begeben wir uns heute, wenn etwa gefordert wird, Diversionsbestimmungen im Jugendstrafrecht auf rechtsextremistische Straftäter kategorisch nicht anzuwenden, oder bei solchen Delinquenten im Heranwachsendenalter kategorisch Jugendstrafrecht auszuschließen? Soll in einem Urteil stehen:
'Die Bestimmungen des deutschen Jugendstrafrechts sind lediglich für den jungen Straftäter geschaffen, der sich bei seinen Taten nicht von neonazistischen Motiven hat leiten lassen.'
Zur Klarstellung: Rechtsextremistisches Gedankengut ist in höchstem Maße verabscheuungswürdig, als Verbrämung jedweder Gewaltkriminalität, als Vehikel skrupelloser Geschäftemacherei, als Überzeugung im politischen Meinungskampf. Dennoch: Kein Sonderrecht für Skinheads! Das strafrechtliche Denken in Tätertypen ist - Ironie der Rechtsgeschichte - ein Produkt nationalsozialistischer Rechtslehre. Wir brauchen nicht den Haftgrund der Glatzköpfigkeit. Der staatliche Strafanspruch für einen Stiefeltritt bemisst sich nicht danach, ob die Schnürsenkel weiß oder rot waren.
Natürlich können wir auf die Symptome familiärer, schulischer, gesellschaftlicher Unzulänglichkeiten, Überforderung, Fehlsteuerung mit justitieller Repression reagieren. Nur stellt sich die Gesellschaft damit selbst ihr Armutszeugnis, mehr noch: ihre Bankrotterklärung aus. Wo ist die pädagogische und soziale Kompetenz der Elterngeneration, die des Vaters oder des Lehrers Rohrstock - glücklicherweise - nicht mehr als Erziehungsmittel zulässt, statt dessen aber die Erwartungen auf die Justiz als Ersatzautorität richtet?
Wir müssen unseren Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden die Ächtung von Gewalt vermitteln, bevor sie zuschlagen, nicht hinterher. Das aber kann die Strafjustiz eben gerade nicht leisten.
Die Erwartungshaltung an die Strafjustiz treibt wahrlich kuriose Blüten. Der ehemalige Generalstaatsanwalt dieses Landes, Prof. Dr. Ostendorf, hat das schon 1994 in einem Artikel der Zeitung "Die Zeit" treffend formuliert:
'Da sind weiterhin die Widersprüchlichen, in den Redaktionsstuben der Medien, im Politikgeschäft, auch in der Wissenschaft. Nachdem sie vormals die tendenzielle Inhumanität und begrenzte Effizienz des Strafrechts beklagt haben, fordern sie jetzt bedenkenlos die Macht des Strafrechts ein, messen sie Erfolge an U-Haftquoten und Strafhöhen.'
Es nimmt gegenwärtig mitunter schon skandalöse Züge an, welche Erwartungen, ja Forderungen Parlamentarier oder Regierende an die dritte Gewalt stellen. Vollmundig werden Strafprozesse gegen rechtsextremistische Gewalttäter schon zu Beginn kommentiert, man erwarte, dass der vollen Härte des Gesetzes Geltung verschafft werde. Oder - wie jüngst der Innenminister des Landes - es wird mit juristisch ebenso konfusen wie peinlichen Argumenten die Verwaltungsgerichtsbarkeit - gegebenenfalls auch das Bundesverfassungsgericht - gescholten, weil - politisch misslich, aber versammlungs- und verfassungsrechtlich unumgänglich - die Aufmärsche Rechtsradikaler nicht verboten werden.
Anfangs war die Rede von politischen Opportunitäten, von denen sich Kollegen vor 60 Jahren bei ihrer Entscheidungsfindung leiten ließen. Lassen wir es nicht damit bewenden, aus einer sicheren zeitlichen und geschichtlichen Distanz unsere Entrüstung über diese - wie Ingo Müller sie einmal genannt hat - "furchtbaren Juristen" zu artikulieren. Allein unsere späte Geburt und auch die Teilnahme an dieser Tagung lassen uns nicht bessere Menschen sein als die Kollegen vor 60 Jahre. Der Blick zurück sollte - neben der unauslöschlichen Gewissheit, dass es nach Auschwitz kein Vergessen geben darf - auch zu der Überlegung animieren, dass wir auch heute - wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen - mit tagespolitischen Opportunitäten und Versuchungen konfrontiert sind, denen es zu widerstehen gilt."
Günter Bertram