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Kurt Rosenow in memoriam

"Mit jedem dieser Sehr-Alten, deren Namen uns seit Jahrzehnten vertraut sind, geht mehr dahin als eine Person: Eine Zeit nimmt Abschied."

Dies steht in Ernst Jüngers Tagebuchnotizen "Siebzig verweht" - niedergeschrieben aus irgend einem der Anlässe, die ihn (selbst Jahrgang 1895) seit den 80ern immer wieder, zuletzt in sicherlich abnehmender Häufigkeit trafen.

Kurt Rosenow, der jetzt im April, 96 Jahre alt, gestorben ist, wird jedenfalls einigen von uns erinnerlich sein: als Gast und wiederholt Vortragender beim Hamburgischen Richterverein, Referent in Trier (vgl. z.B. DRiZ 1985, 71 ff.), Königslutter und auf sonstigen Veranstaltungen insbesondere in Niedersachsen, die dem jüdischen Juristenschicksal zur NS-Zeit ihr Augenmerk schenkten.

Das XX. Jahrhundert, soweit dessen erste Hälfte zwölf lange Jahre vom deutschen Nationalsozialismus geprägt war, nimmt immer noch seinen zähen, quälenden Abschied: Ahnungslos Böswillige grölen herum, recken die Arme, halten sich selbst für die wiederauferstandene SA und fabulieren von "arischer Rasse"; ahnungslos Gutwillige zelebrieren "Rock gegen Rechts", rühmen sich der Zivilcourage, wenn sie vorgefertigte Aufrufe gegen Neofaschisten unterschreiben und lassen auch sonst keine Gelegenheit aus, den früher von den Altvorderen versäumten Widerstand gegen Hitler jetzt selbst nachzuholen. Die Vergangenheit scheint also in einer merkwürdig irrealen, theatralischen und verschrobenen Weise dauerpräsent zu sein. Wie wird man urteilen, wenn die letzten - "sehr alten" - Zeugen der Zeit abgetreten sein werden? "Man" - das ist weniger die Historikerzunft, deren alte und junge Vertreter das Dritte Reich so umfassend und detailliert erforscht haben wie keine Geschichtsepoche zuvor - wozu auch die Justiz und die Zentrale Stelle in Ludwigsburg ihren Teil beigesteuert haben. Es dreht sich vielmehr um die Vorstellungen von der Nazizeit, die sich heute jedermann, vor allem jedoch der politische Volksbildungsbetrieb zur pädagogischen Nutzanwendung ("damit ...!" oder: "damit niemals wieder ...!"), zurecht macht.

Rosenow hatte kein Talent zur Volkspädagogik, der er mit Recht nicht viel zutraute. Er war Berichterstatter - nicht mehr, aber auch nicht im mindesten weniger. Die leise Stimme dieses preußischen Juden (genau genommen war er das zur Zeit seiner Vorträge längst nicht mehr; dazu später) war nicht nur ein akustisches Phänomen, das zu gespannter Aufmerksamkeit zwang; sie war zugleich Charakterausdruck eines Mannes von ungewöhnlicher Bescheidenheit, dem es nicht gegeben war, auch nur das geringste um sich "herzumachen".

Anno 1932 legte Rosenow in Berlin am Kammergericht das Assessorexamen ab, konnte als Jude dann aber nicht Anwalt werden und musste sich als Bürovorsteher in Berlin und Rostock durchschlagen. In diese üble, unheildrohende Zeit, geprägt durch Demütigung, Schikanen und Furcht, gehörte dann auch, dass sich ihm kraft dessen, was die moderne Soziologie wohl "teilnehmende Beobachtung" nennen würde, ein ganz eigentümlicher Blick in die Naziszene eröffnete:

So pathetisch die Ehe damals offiziell als heiliger Quell des Volkes gepriesen wurde, so schnell waren Scharen alter Kämpfer (Parteigenossen der frühen "Kampfzeit") nach der "Machtergreifung" vom Januar 1933 darauf erpicht, ihre in die neue Zeit hinüber mitgebrachten Ehefrauen schnurstracks los zu werden, um ihren eigenen Beitrag zur Mehrung des Volkes gemeinsam mit jüngeren, attraktiveren Volksgenossinnen zu leisten.

Rosenows "arischer" Rechtsanwalt, für den er unsichtbar im Hinterzimmer die Arbeit machte, wurde also mit entsprechenden Scheidungsbegehren bewährter Parteigenossen geradezu überschüttet; so dass der unsichtbare Jude in seiner Mansarde alles lesen und artig in Schriftsätze - des offiziellen, arischen Rechtsanwalts, versteht sich! - für das Gericht übersetzen musste, was die braunen Helden über ihr freudlos frustriertes Liebes- und Eheleben von sich gegeben hatten. ...

Novemberpogrom 1938
Reichskristallnacht:

Rosenow trifft auf die plündernde, grölende Meute, die sich die Berliner Friedrichstraße hinaufwälzt - "Juda verrecke!" - : ihm entgegen! Er versucht, das Anwaltsbüro zu erreichen, um dort zu verschwinden. "Kommen Sie schnell hier herein, wir verstecken Sie bei uns", mit dieser Flüsterrede zieht die Bordell-Madame von nebenan den Gehetzten zu sich. Den rührt das hochherzige, für die Frau selbst riskante Anerbieten: Solidarität unter Verfemten! Aber ihm schießt auch durch den Kopf: "Wenn die dich dort finden, hängen wir beide wegen "Rassenschande" am nächsten Laternenpfahl! Weiter geht also die Flucht, ein Stockwerk hinauf, ins Büro. Die Meute dringt ins Haus, verliert dann aber im Erdgeschoss die Lust und zieht - oh Wunder ! - ab. ... So fügt der Berichterstatter eines ans andere, erzählt Geschichten von Niedertracht, Denunziation, Verfolgung, aber auch von behutsamer Hilfe, gelegentlichem Anstand, erstattet also Bericht über eine sechs Jahre währende innere Emigration, ehe dann - gerade noch rechtzeitig vor dem Kriegsbeginn 1939 - die äußere folgt, die ins westliche Ausland und schließlich die USA führt.

Fünf Jahre später kehrt Rosenow als junger US-Offizier im Stabe Eisenhowers nach Europa zurück; zunächst mit den Invasionstruppen nach Frankreich, dann ins geschlagene Deutschland: nach Berlin. Dort sammeln seine Frau und er alsbald einen Kreis junger Leute um sich: Schüler, Studenten, entlassene und entlaufene Soldaten - orientierungsloses menschliches Strandgut, das der Krieg in die Trümmer der alten Reichshaupt-stadt gespült hatte. Man sitzt im Warmen beisammen, Lotte Rosenow serviert Tee, Coca-Cola, Kekse udgl., was die Ausgemergelten kaum noch kennen, woran die Army aber keinen Mangel leidet. Wichtiger indessen ist das Gespräch: über Gott und die Welt, Deutschland und das Ausland, die Schrecken des Krieges, persönliche und politische Zukunftsentwürfe: wie kann man nun die physischen und geistigen Trümmer aufräumen? Weder "reeducation" noch politische Schulung - und doch unaufdringliche Lehrstunden über Demokratie und anständige Politik. Die "Montagskinder" (man traf sich montags) hielten dann lange noch zusammen; zuletzt kamen einige Veteranen zu Lotte Rosenows 80. Geburtstag in Hannover zusammen, wo das Ehepaar inzwischen wohnte. ...

In Berlin wird Rosenow, einem Experten in der Dokumentationsabteilung des Armeestabes, die Leitung des Document-Center ("DC") übertragen. Das DC (jedem späteren NS-Sachbearbeiter bestens vertraut!) war die Frucht eines bemerkenswerten historischen Zufalls (oder einer Fügung - je nach Deutung!): Die NS-Parteileitung, das Kriegsende vor Augen, hatte im April 1945 einen bayerischen Papiermüller dringlich damit beauftragt, rund 65.000 Kilo NS-Personalakten zu verbrennen, wozu der aber aus irgendwelchen Gründen nicht gekommen war, so dass die Bestände den Amerikanern in die Hände fielen. ...

Ende 1945 werden dem DC-Leiter 1500 Blatt Akten unbekannter Herkunft zur Prüfung

 

übergeben. Schon die flüchtige Durchsicht fasziniert ihn: Er stößt auf den Namen eines Berliner Studienkollegen der 20er Jahre, über den der Präsident des Kammergerichts am 28.04.1935 an den Reichsjustizminister berichtet, der Genannte habe es gewagt, als Arbeitsrichter den "Völkischen Beobachter" (NS-Blatt) einen Prozess verlieren zu lassen, und deshalb habe der Reichsleiter Max Amann dem Richter gedroht, ihn mit einer Hundepeitsche ins Gesicht zu schlagen. ... Und so geht es weiter: Schriftwechsel, Berichte, Meldungen über gesetzwidrige Nazischikanen und - Übergriffe auf wirkliche oder vermeintliche Gegner, auf rassisch, politisch oder kirchlich Verpönte oder Unliebsame: alle Dokumente weitergeleitet über Gerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälte und andere Behörden an das Reichsjustizministerium, oder dem RJM irgendwie zugespielt und dort sorgfältig gesammelt und registriert. Eine chronique scandaleuse von Nazischweinereien, wie sie inzwischen allenthalben eingerissen waren. Bei dem Konvolut dreht es sich um das Diensttagebuch des Reichsjustizministers Dr. Franz Gürtner (am 1. Februar 1933 ins Kabinett Hitler berufen, am 29.01.1941 unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen), akribisch geführt von dessen persönlichem Referenten Hans von Dohnanyi (seiner Verbindung zum Attentat auf Hitler wegen nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet; Vater des späteren Hamburger Ersten Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi).

Als Rosenow fast 40 Jahre nach diesem Fund in der Richterakademie Trier darüber vorträgt und meint, Gürtner habe in schlimmen Zeiten immerhin versucht, einiges vom wenigen zu retten, was er noch habe geglaubt retten zu können, sei in teuflischer Zeit anständig geblieben und kein schlechter Kerl gewesen, da schlägt ihm dann doch deutliches Unverständnis entgegen: Hatte nicht Gürtner als Bayerischer Justizminister nach dem Münchener Putschversuch von 1923 (sog. Marsch auf die Feldherrnhalle) seine schützende Hand über Hitler gehalten und dafür gesorgt, dass er nicht vor den Leipziger Staatsgerichtshof, sondern in Bayern vor gnädig - voreingenommene Richter gestellt wurde - also eine fatale Rolle gespielt? Das wusste Rosenow genauso gut, ja viel besser als die Zuhörer. Aber er malte nicht in schwarz und weiß, sondern beschrieb eine Zeit voller Widersprüche und moralischer Ambivalenzen, vor deren Hintergrund er der tragischen Gestalt Gürtners seinen Respekt nicht versagen wollte. Sein persönliches Chronistenurteil wird übrigens von der Geschichtsforschung durchaus bestätigt, wie man in den weitgreifenden Forschungen Lothar Gruchmanns (Justiz im Dritten Reich 1933 - 1940: Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988) auf über tausend Seiten nachlesen kann.

Rosenow hätte - nach Eintritt in den Ruhestand - die Tagebücher gern ediert, was mit viel Arbeit verbunden gewesen wäre, die ihm aus persönlichen Gründen (ihm oblag die Pflege seiner leidenden Frau), wie er einsah, über den Kopf gewachsen wäre. ...

Eigentlich sei Rosenow zur Zeit seiner Vorträge in Trier u.a. kein Jude (mehr) gewesen, war oben bemerkt worden:

Er hatte, wie er einmal interviewweise gesagt hatte, schon sehr früh eine Neigung gehabt, Christ zu werden, hielt einen solchen Schritt aber für schäbig in einem Land, in dem eine pervertierte deutsche Obrigkeit sich anmaßte, die Juden als Untermenschen abzustempeln und sie mit brachialer Brutalität auszugrenzen. In den USA aber habe er sich in seiner Entscheidung wieder frei gefühlt und sei zum Christentum übergetreten.

Normalerweise würde man derart persönliche Daten ihres intimen Charakters wegen gar nicht schwarz auf weiß notieren. Aber leider ist im christlich-jüdischen Verhältnis das wenigste "normal". Judenmission z.B. wird von einigen protestantischen Kirchen schlechthin und mit eifernder Härte verdammt, weil jedweder Versuch eine "Verleitung zur Untreue", zum Bruch des Alten Bundes pp. sei (womit also jeder entsprechende Bekenntniswechsel - Mission hin oder her - verdammt wird). Wieder eine angebliche Lehre aus der Geschichte: diesmal ein theologisch dürftig verbrämter Religions-Masochismus.

Auch gegen solches Flagelantentum war Kurz Rosenows vita ein stummer aber gewichtiger Einwurf.

Das letzte, was ich am Sylvesterabend 2000 telefonisch von ihm hörte, war sein Wunsch, das Jahr 2001 keinesfalls zu überleben: viermal wöchentlich in aller Herrgottsfrühe zur Dialyse ... und andere Quälereien: das sei dann doch zu viel. Sein Wunsch hat sich schon bald erfüllt; und eine sehr alte - zuletzt altersmatt gewordene - Stimme ist für immer verstummt: ein Zeitalter versunken.

Günter Bertram