(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/01) < home RiV >
Reform des Strafverfahrens -
"partizipartorische
Verfahrensgestaltung"

Unter dem 27. September 2001 ist seitens der Justizbehörde zu den vom Bundesjustizministerium erstellten "Eckpunkten einer Reform des Strafverfahrens" Stellung genommen worden. Die Eckpunkte, denen die Justizbehörde in ihrer Stellungnahme weitgehend zugestimmt hat, werden im Falle ihrer gesetzlichen Umsetzung zu erheblichen Veränderungen des bisherigen Strafprozesses führen (etwa auch durch Einführung eines "Anhörungstermins im Zwischenverfahren" oder einer "Eingangsstellungnahme der Verteidigung" in der Hauptverhandlung), was zum Teil auf heftige Kritik gestoßen ist (siehe z.B. Bittmann, ZRP 2001, 441). Über die beabsichtigten Einzelregelungen hinaus besonders bemerkenswert ist dabei die von der Justizbehörde befürwortete Grundtendenz der Eckpunkte betreffend eine "Stärkung der Rechte der Verteidigung" und "der Stellung des Beschuldigten", weil hier ein völlig neues Bild der strafprozessualen Rolle des Beschuldigten (Angeschuldigten/Angeklagten) zutage tritt.

So heißt es in der Stellungnahme der Justizbehörde vom 27. September 2001 unter "Zielrichtung" u.a.:

"Die Justizbehörde befürwortet aber auch den weiteren Ansatz, ... durch eine stärkere Einbindung der Verteidigung im Ermittlungs- und Zwischenverfahren zu einer effizienteren Hauptverhandlung zu gelangen. Nach hiesiger Auffassung ist dies ein sinnvoller Ausgangspunkt für eine effektive Reform des Strafverfahrens. Seit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9. Dezember 1974 zielten fast alle weiteren Reformbestrebungen auf das Hauptverfahren. Dabei wird seit langem darauf hingewiesen, dass bereits im Ermittlungsverfahren die Weichen für die Hauptverhandlung gestellt werden und sich viele Konfrontationen in der Hauptverhandlung vermeiden ließen, wenn das Vorverfahren offener gestaltet würde. ... Hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungsrichtung einmal festgelegt, ist sie für das Gericht mit - informationspsychologisch belegter - prägender Wirkung in der Anklage und den Ermittlungen perpetuiert. Die Verteidigung steht dann vor erheblichen Schwierigkeiten, in der späteren Hauptverhandlung erfolgreich auf die Korrektur früherer Weichenstellungen hinzuwirken. Der Ansatz der Eckpunkte, die Verteidigung frühzeitig einzubinden, um zeitraubende und konfrontations-fördernde spätere Korrekturen zu vermeiden, sollte deshalb im Interesse aller Verfahrensbeteiligten liegen.

Zu betonen ist allerdings, dass die Stellungnahmen aus der Praxis von einem überwiegend kritischen bis ablehnenden Tenor geprägt sind. Die Staatsanwaltschaft befürchtet, dass die Vorschläge insgesamt eher zu einer Verfahrensverzögerung führen werden. Sie vermutet, dass der Ausbau individueller Rechtspositionen - sei es von Tatopfern oder Beschuldigten - zu einer weiteren Überfrachtung und damit Verlangsamung des Verfahrens führen werde. Das Amtsgericht teilt die Sorge, dass Verfahrensverlängerungen eintreten könnten. ... Nach Ansicht der Justizbehörde dürfte die Kritik verfrüht sein."

Zur "Stärkung der Rechte der Verteidigung" heißt es u.a.:"Von der Praxis wird gegen eine Stärkung der Verteidigerrechte geltend gemacht, dass bereits der gedankliche Ansatz fehl gehe, durch Anwesenheits- und Beteiligungsrecht eine engagiertere Einbindung der Verteidigung und damit im Ergebnis eine Straffung des Verfahrens zu bewirken. Eine moderne und von einem gewandelten Verständnis geprägte Strafverteidigung erachte es nicht als ihr Interesse, Ermittlungsverfahren durch auf die Ermittlung der Wahrheit gerichtete Beweiserhebungen zu fördern. Sie werde stets das Interesse des Beschuldigten im Blick haben und entsprechend taktisch agieren. Eine stärkere Einbindung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren werde sich daher zu Lasten der Beschleunigung auswirken.

Die Justizbehörde steht demgegenüber der angestrebten Stärkung der Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren grundsätzlich positiv gegenüber. Für diesen Vorstoß des Bundesministeriums der Justiz sprechen nicht nur die bereits angeführten grundsätzlichen Erwägungen. ... Die Vorschläge sind auch im einzelnen zu begrüßen.

Sofern die Eckpunkte vorsehen, der Verteidigung bei von ihr beantragten Beweiserhebungen ein Anwesenheits-recht einzuräumen, stellt dies eine sinnvolle Ergänzung der Regelung des § 163 a Abs. 2 StPO dar. Nach dieser Vorschrift steht der Verteidigung im Ermittlungsverfahren kein durchsetzbarer Beweiserhebungsanspruch zu. Beweise brauchen nur dann erhoben zu werden, wenn sie nach der gerichtlich nicht überprüfbaren Auffassung der Staatsanwaltschaft "von Bedeutung" sind. ... Werden sie aber erhoben, ist es nur legitim, dass der Verteidiger bei der - von ihm beantragten - Beweisaufnahme auch das Recht hat, anwesend zu sein.

Es ist leicht nachvollziehbar, dass die derzeitige Regelung unnötig zu einer Verlagerung von Beweisanträgen in die Hauptverhandlung führt, weil kaum ein Verteidiger bereit ist, eine Zeugenvernehmung zu beantragen, wenn ihm dann bei der Vernehmung kein Anwesenheitsrecht zusteht.

Zu Recht ist auch vorgesehen, der Verteidigung die Anwesenheit bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten zu gestatten. Die gegenwärtige Regelung, ein solches Anwesenheitsrecht zu versagen, erscheint für ein modernes rechtsstaatliches Strafverfahren kaum haltbar. Auch bei der richterlichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Vernehmung des Mitbeschuldigten sollte der Verteidiger ebenso anwesend sein dürfen wie bei Zeugenvernehmungen durch die Staatsanwaltschaft. ...

Sofern die Eckpunkte schließlich vorsehen, die Verteidigung bei der Auswahl des Sachverständigen zu beteiligen, ist dies - angesichts der häufig präjudiziellen Bedeutung des Sachverständigengutachtens für den Ausgang des Prozesses - ebenfalls zu begrüßen. ...

Die staatsanwaltschaftliche Praxis hat zwar davor gewarnt, dem Verteidiger ein Mitspracherecht im Sinne einer Einigung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung einzuräumen. Gemeint ist mit "Beteiligung" jedoch wohl (nur) die Möglichkeit zur Stellungnahme."

Zur "Stärkung der Stellung des Beschuldigten" wird u.a. ausgeführt:

Die von den Reformüberlegungen angesprochene offenere ("partizipatorische") Verfahrensgestaltung wird von der Staatsanwaltschaft entschieden abgelehnt. Ziel könne es nicht sein, konsensuale Lösungen herbeizuführen. Zentrales Anliegen des Ermittlungsverfahrens sei die Ermittlung des wahren Sachverhaltes. Deshalb müsse es auch der Staatsanwaltschaft überlassen bleiben, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann sie den Beschuldigten von dem Verfahren und einzelnen Ermittlungshandlungen in Kenntnis setze. Ein Richter am Amtsgericht hat gleichfalls geäußert, dass eine offenere Handhabung der Staatsanwaltschaft überlassen bleiben müsse. Der gegenwärtige Rechtszustand sei sachgerecht und habe sich bewährt. Die Vorstellung eines - wechselseitig - gleichen Informationsstandes sei ohnehin eine Illusion, da der Beschuldigte nie seine Karten auf den Tisch legen werde.

Eine Kritik, die partizipatorische Elemente von vornherein ablehnt, ist nach Auffassung der Justizbehörde jedoch nicht berechtigt. Auch nach den Eckpunkten kommt eine partizipatorische Verfahrensgestaltung nur insoweit in Betracht, als die Erfordernisse einer effektiven Strafverfolgung nicht beeinträchtigt werden. Unter Beachtung dieser Maßgabe stellt es aber geradezu das Kennzeichen rechtsstaatlicher Strafverfahren dar, dass sie "partizipatorisch" ausgestaltet sind. Partizipatorische Elemente der Verfahrensteilhabe drücken gerade die Prozesssubjektsstellung des Beschuldigten aus. Kam die Verfahrensteilhabe bislang weitgehend nur im Hauptverfahren zum Ausdruck, streben die Eckpunkte nunmehr eine stärkere Partizipation bereits in den vorgelagerten Verfahrensabschnitten (Ermittlungs- und Zwischenverfahren) an. Das ist nicht nur unter rechtsstaatlichem Blickwinkel grundsätzlich zu begrüßen. Eine frühzeitige Beteiligung des Beschuldigen und seines Verteidigers kann zudem dazu beitragen, dass Strafverfahren dialogischer und weniger konfrontativ geführt werden."

Gegenüber alledem bleibt festzuhalten, dass zentrales Anliegen des Strafprozesses unverändert die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils ist (so BVerfGE 63, 45, 61). Auf die Verwirklichung dieses Zieles hinzuwirken ist, wie gleichfalls festzuhalten bleibt, nicht Sache des Beschuldigten (auch wenn ihm ein solches Verhalten natürlich frei steht), ebenso wenig (grundsätzlich - wenn nämlich nicht ausdrücklich von dem Beschuldigten gewollt - ) der Verteidigung. Gerade in besonders schwerwiegenden Verfahren wird eine solche "Kooperation" wie bisher auch künftig zumindest sehr oft nicht erfolgen. Die Vorstellung eines an seiner eigenen Überführung "partizipierenden" Beschuldigten als Bestandteil des strukturellen Grundmusters des Strafverfahrens entspricht insbesondere in derartigen Verfahren nicht der Realität, in der sich (wie vorstehend bemerkt prinzipiell keineswegs zu Unrecht) Beschuldigte und Verteidiger vielmehr "kontradiktorisch" verhalten.

Der Deutsche Richterbund hat hierzu in seiner Presseerklärung vom 8. Juni 2001 (DRiZ 2001, 315) treffend erklärt:

"Forderungen nach einem 'partizipatorischen Strafverfahren' sind bereits im Ansatz verfehlt."

Die Hamburger Praxis hat sich nicht anders geäußert. Die Justizbehörde ist in ihrer Stellungnahme über die Praxis hinweggegangen. Es steht zu hoffen, dass dies nicht das letzte Hamburger Wort zu dieser gravierend wichtigen Problematik bleiben wird.

Gerd Augner