Strafvollzug
Der
Richterverein plant für Anfang des Jahres 2003 eine Podiumsdiskussion zum Thema
Strafvollstreckung. Der nachstehende Artikel des Kollegen Roth ist deshalb ein
besonders aktueller Beitrag zur kontrovers geführten Diskussion. Zu weiteren
Positionen vergleiche www.richterverein.de/aktuell/aktuell.htm#Heime.
Die Redaktion
I.
FIKTION [1]
Wir
schreiben das Jahr 2013. Weil die Öffentlichkeit Kriminelle jedweder Art
weggesperrt sehen will, haben die Politiker zum wiederholten Mal die Gesetze
verschärft. Immer öfter bringt die Justiz große und kleine Verbrecher hinter
Schloss und Riegel. Die Gefängnisse, auch die vielen neuen, die der Staat in
den vergangenen Jahren in großer Zahl aus dem Boden gestampft hat, sind überfüllt.
Das Programm verschlingt Milliarden. Weil die Strafanstalten inzwischen zu teuer
und zu voll sind, erfindet Großbritannien für Schwerkriminelle eine neue
Strafe: das Schlafkoma. Mit einem mittels Spritze verabreichten Medikament wird
der Verbrecher für Jahre in einen Dämmerzustand versetzt – eine
Zwischenexistenz zwischen Leben und Tod.
So
beschreibt Philip Kerr in seinem preisgekrönten Kriminalroman „Das
Wittgensteinprogramm“ die Zukunft des Bestrafungswesens. Das Schlafkoma erklärt
er so: „Im Vergleich zu den Kosten, die eine zehn- bis fünfzehnjährige Gefängnisstrafe
verursachte, war es billig. Seit es intelligente Betten, computergesteuerte
Kokons, billige Herz-Lungen-Maschinen und kostengünstige Möglichkeiten der
intravenösen Ernährung gab, konnte man einen Strafgefangenen für weniger als
ein Zehntel der Kosten, die eine Gefängnisstrafe verursacht hätte, im Koma
halten.“
Und
noch ein Vorteil: „Das Koma verhindert auch jede Gelegenheit zu weiterer
krimineller Aktivität, wie sie in Gefängnissen üblich war. Über Nacht zerstörte
die Einführung des Schlafkomas eine Gesellschaft von Verbrechern und machte
teure Gefängnisrevolten zu einer Angelegenheit der Vergangenheit. Und je nach
Wahl der angewandten Chemikalien konnte das Koma ohne größere physische oder
seelische Schäden rückgängig gemacht werden.“
II.
WIRKLICHKEIT
1.)
Boot-Camps
bei „Sheriff Joe“ in Arizona
Zwar
ist das von Kerr beschriebene Schlafkoma medizinisch noch nicht machbar, aber
andere kostengünstige Möglichkeiten des Strafvollzuges gibt es bereits, zum
Beispiel das „Tents-City-Jail“ außerhalb von Phönix, Arizona[2].
Die
Insassen sitzen hier unter sengender Sonne in ausgedienten Armeezelten. Im Lager
stinkt es unaufhörlich und bestialisch. „Wir haben die Zelte in die Nähe
einer Müllkippe gebaut, damit die Häftlinge gleich wissen, wo sie hingehören“,
erklärt der Leiter dieser Einrichtung, Sheriff Joe Arpaio (70). Er schuf mehr
als 2000 neue Haftplätze und hielt die Kosten niedrig. „Arizona hat genug
Platz in der Wüste und Zelte gibt es reichlich“, frohlockt der Sheriff.
Arpaio lässt seine Gefangenen in Ketten arbeiten und gibt für das tägliche
Futter seines Schäferhundes dreimal so viel aus wie für die Tagesration eines
Häftlings. Nur 45 Cents am Tag darf das Essen eines Gefangenen (altes Weißbrot,
ranzige Wurst und vertrocknete Apfelsinen) kosten. Unter jedem der 50 Zelte
finden 20 Pritschen Platz. Die Gefangenen tragen gestreifte Anstaltskluft, dazu
rosafarbene Unterwäsche, weil sich selbst die größten Machos darin schwach fühlen,
weiß Sheriff Arpaio.
Funktioniert
hat dieses System bisher allerdings nicht: Die Rückfallquote liegt bei 60%.
Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Behandlungsforschung über die
Boot-Camps-Programme im Strafvollzug der USA mit gegenwärtig mehr als 10.000
Haftplätzen. Diese Programme haben keine ihrer kriminalpolitischen
Zielsetzungen erreicht, insbesondere keine Verminderung der Rückfalldaten[3].
Im
Gegenteil: Die jüngst veröffentlichte, umfangreichste US-Studie seit 10 Jahren
über rund 270.000 Gefängnisinsassen hat ergeben, dass trotz härterer Strafen
und trotz härteren Strafvollzuges der Anteil rückfälliger Täter um rund 5%
gestiegen ist. Dies wird in erster Linie darauf zurückgeführt, dass in vielen
US-Bundesstaaten die Rehabilitationsprogramme zu Gunsten von immer neuen Gefängnisbau-Programmen
zusammengestrichen worden sind[4].
2.)
Strafvollzug in Deutschland
Rechtliche Grundlagen für den
Strafvollzug
Rechtlich
gesehen steht der Strafvollzug in Deutschland – anders als in den USA – auf
einem solide ausgestatteten Fundament: Schon vor Inkrafttreten des
Strafvollzugsgesetzes am 1.1.1977 hatte das Bundesverfassungsgericht die
Resozialisierung als das „herausragende Ziel“ des Vollzuges von
Freiheitsstrafen festgeschrieben[5],
um dann fortan zu betonen, dass sich das Resozialisierungsgebot unmittelbar aus
der Verfassung ableitet[6].
In
seiner Entscheidung vom 1.7.1998 zum Arbeitsentgelt für Gefangene[7]
hat das Bundesverfassungsgericht seine jahrzehntelange Rechtsprechung hierzu
u.a. wie folgt zusammengefasst: „Die Verfassung gebietet es, den Strafvollzug
auf das Ziel der Resozialisierung hin auszurichten. Der einzelne Gefangene hat
einen grundrechtlichen Anspruch aus Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.1 Abs.1
GG darauf, dass dieser Zielsetzung genügt wird. Dieses Gebot folgt aus dem
Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft, die die Menschenwürde in den
Mittelpunkt ihrer Werteordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet
ist.
Die
Resozialisierung dient auch dem Schutz der Gemeinschaft selbst. Diese hat ein
unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der Täter nicht wieder rückfällig
wird und erneut seine Mitbürger und die Gemeinschaft schädigt. Dieses
verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot bestimmt den gesamten
Strafvollzug.(und) ist für alle staatliche Gewalt verbindlich.“
Das
Strafvollzugsgesetz hat demgemäß die Resozialisierung in § 2 Satz 1 zum
alleinigen Vollzugsziel und damit zur vorrangigen Vollzugsaufgabe erklärt[8].
Dieses Gebot zur Wiedereingliederung des Verurteilten in die Gesellschaft findet
naturgemäß seine Grenze an der weiteren Vollzugsaufgabe, während der
Strafhaft neue Straftaten des Gefangenen zu verhindern, § 2 Satz 2 StVollzG.
Tatsächliche Situation im
Strafvollzug
Tatsächlich
gesehen ist die Durchführung des Strafvollzuges in Deutschland auch nach dem
Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes vor 25 Jahren weiterhin eine „Mängelveranstaltung“,
allerdings mit einer Reihe von durchaus erfolgreichen Behandlungsansätzen. Zum
einen hat das Gesetz mit seiner bisher in Kraft gesetzten Fassung sein
Resozialisierungskonzept bisher nur als Torso verwirklicht[9],
und zum anderen ist selbst dieser Gesetzestorso mangels ausreichender
personeller und sachlicher Ressourcen bisher nur unzureichend umgesetzt worden.
Strafgefangene
haben keine Lobby. Jede politische Partei muss sich bei dem derzeitigen öffentlichen
Meinungsstand vergegenwärtigen, dass sie mit dem Eintreten für das
verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot im Strafvollzug potentielle Wähler
verliert. Die zuständigen Gerichte – die Strafvollstreckungskammern bei den
Landgerichten – können demgegenüber bei Rechtsverletzungen jedoch nur in den
Einzelfällen tätig werden, in denen sie von den Gefangenen angerufen werden.
Was
indes das Verhältnis von Öffentlichkeit und Strafvollzug seit jeher belastet,
sind offenkundige Defizite in der Informationsvermittlung und Meinungsbildung über
den Sinn und den Zweck des Strafvollzuges und über dessen rechtliche Grundlagen[10].
Dem Bürger wird von den Medien seit über einem Jahrzehnt zunehmend immer öfter
– vielfach suggestiv – vermittelt, dass es in der Strafjustiz und im
Strafvollzug zu lasch und zu lau zugehe: Der Schutz der Allgemeinheit werde
ausweislich einer – angeblich – ständig wachsenden Kriminalität sträflichst
vernachlässigt, während die Täter, wenn sie denn überhaupt Strafe verbüßen
müssten, in den Haftanstalten eine Art Luxusurlaub – mitunter gar mit
Schwimmbädern und Fitnessräumen – verbrächten.
Demgegenüber
ist festzuhalten, dass es in der Strafjustiz und im Strafvollzug auch in
Deutschland weder lasch noch lau zugeht. Obwohl die Kriminalitätsbelastung in
der Bundesrepublik insgesamt gesehen eher rückläufig ist (1993: 8.337 Delikte
pro 100.000 Einwohner, 2000: 7.625 Delikte pro 100.000 Einwohner)[11],
ist die Gefangenenzahl ständig angestiegen. Kamen Anfang der neunziger Jahre
noch rund 80 Verurteilte pro 100.000 Einwohner in das Gefängnis, sind es heute
bereits 96 Verurteilte pro 100.000 Einwohner. Zwischen 1990 und 1998 hat sich in
den alten Bundesländern die Zahl der verhängten Haftjahre um 40% vermehrt, die
Zahl der Angeklagten hat jedoch nur um 7,2% zugenommen[12].
Die
im Zusammenhang mit der Resozialisierung von interessierter Seite immer wieder
zu hörende These des „nothing works“ ist längst widerlegt. Zur Überraschung
mancher hat das Gesamtbild der in Wissenschaft und Praxis geführten
Generaldiskussion eine im Ganzen positive Bilanz ergeben[13].
Ohne die – bisher nur in bescheidenem Umfang – vorgehaltenen
Resozialisierungsangebote im Vollzug wäre eine höhere Rückfallquote und damit
eine zusätzliche Beeinträchtigung der Sicherheit der Allgemeinheit zu
verzeichnen gewesen.
Resozialisierung
stellt für den Täter regelmäßig eine anstrengende und häufig auch
schmerzhafte Herausforderung dar, weil er sich dann ernsthaft mit dem von ihm
begangenen Unrecht, dem Leid seiner Opfer und seinen Persönlichkeitsmängeln
auseinandersetzen muss. So kann es nicht verwundern, wenn der Vorsitzende des
„Weißen Ringes“ öffentlich die deutliche Verbesserung der
Resozialisierungsangebote im Vollzug als unentbehrlich für einen effektiven
Opferschutz anmahnt[14].
Demgegenüber
verdient eher der Verwahrvollzug, bei dem der Täter seine Strafe ohne diese
innere Auseinandersetzung einfach absitzt, und nicht der
Resozialisierungsvollzug das Etikett „Täterschutz“. Der Verurteilte kann in
einem solchen Vollzug in Ruhe seine Strafe absitzen, ohne sich den Mühen seiner
Resozialisierung zu unterziehen. Selbst wenn er von sich aus um seine
Stabilisierung bemüht sein sollte, wird ihm mangels entsprechender Angebote
kaum Hilfe im Vollzug zuteil werden können.
Die
aktuelle Entwicklung im deutschen Strafvollzug verläuft nicht vollkommen
einheitlich. Eine groß angelegte Umfrage bei den Landesjustizverwaltungen[15]
lässt jedoch überwiegend eine Aufbruchstimmung erkennen. Die Einführung von
fachlich belegten neuen Behandlungskonzepten, verbunden mit den Gesichtspunkten
der Kosteneffektivität und der Qualitätskontrolle, wird letztlich zu mehr
Resozialisierung und damit zu einer weiteren Steigerung der Sicherheit für die
Allgemeinheit führen.
Andererseits
gibt der Ruf nach mehr Härte angesichts besonderer Problemgruppen im Vollzug
(insbesondere gewalttätige, drogensüchtige und ausländische Gefangene) Anlass
zur Sorge. Gleichwohl bedarf es einer Rückbesinnung auf das Ziel der
gesetzlichen Vollzugsreform der 70er Jahre, das im Einklang mit allen gewonnenen
fachlichen Erkenntnissen steht. Eine Gegenreform, die über die (Leer-) Formel
der „Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung“ wählerwirksam transportiert
wird[16],
entbehrt jeglicher Fachlichkeit und führt mit einer Erhöhung der Rückfallquote
zu einem Abbau des Opferschutzes. Aktuelle Fachtagungen befassen sich daher auch
nicht mit Themen wie „Mehr Sicherheit durch harten Verwahrvollzug“, sondern
mit Problemstellungen wie „Kontinuierliche Verbesserung des
Behandlungsvollzuges als Daueraufgabe“ oder “Grundrechte im Strafvollzug –
Anspruch und Wirklichkeit“[17].
3.) Strafvollzug in Hamburg
Stets
haben die jeweils amtierenden Justizsenatorinnen und –senatoren in Hamburg,
gleich welcher Partei sie angehört haben, über Jahrzehnte selbstverständlich
die rechtlichen Grundlagen für den Strafvollzug und dabei insbesondere das
verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot befolgt. Wenn auch manche Umsetzung
der rechtlichen Vorgaben unzureichend blieb, so bestand doch durchgängig auch
mit der Richterschaft ein Konsens über das rechtliche Fundament und damit über
das Vollzugsziel.
Vorrang des Verwahrvollzuges
als neues Vollzugsziel
Dies
hat sich seit etwa einem Jahr radikal geändert, obgleich sich zwischen-zeitlich
weder die Gesetzeslage verändert hat, noch grundlegend neue fachliche
Erkenntnisse zur Optimierung des Strafvollzuges erkennbar geworden sind. „Auch
im Vollzug weht ein neuer Wind“ schreibt der durch den Regierungswechsel vom
September 2001 in Hamburg neu ins Amt gekommene Justizsenator Dr. Roger Kusch
(CDU) im Januar 2002 in „Justiz intern“. In der Tat: Seit dem Herbst des
letzten Jahres werden von der neuen Koalition in Hamburg (CDU, Schill-Partei und
FDP) immer wieder Maßnahmen angekündigt und mittlerweile auch Schritt für
Schritt umgesetzt, die nicht mit der verfassungsrechtlichen Vorrangstellung der
Resozialisierung in Einklang zu bringen sind.
Mit
der populistischen Parole, Haft dürfe kein Luxusurlaub sein, Haft müsse wieder
als Haft spürbar sein, wird contra legem ein anderes Vollzugsziel – der
Verwahrvollzug – in den Vordergrund gestellt. „Im Mittelpunkt des
Strafvollzuges steht zukünftig der Schutz der Bevölkerung“, heißt der
Leitsatz zum Strafvollzug im Koalitionsvertrag. In den Grundsätzen der
Schill-Partei, die den zweiten Bürgermeister und Innensenator Ronald Barnabas
Schill stellt, wird dazu ausgeführt:
„Der
Staat darf seine Bürger nicht weitgehend dem Verbrechen schutzlos ausliefern.
Der Schutz der Gemeinschaft sowie von Opfern muss Vorrang vor dem Gedanken der
Resozialisierung erhalten.“
„Für
mich ist der geschlossene Vollzug die Regel, nicht der offene“, erklärt der
Justizsenator im Hamburger Abendblatt (HA) vom 29.1.2002 entgegen der Regelung
des § 10 StVollzG und der dazu ergangenen Rechtsprechung[18].
Gegenüber der Welt am Sonntag (WamS) kündigt Dr. Kusch an, die Zahl der
offenen Haftplätze zu reduzieren[19].
Der Zugang zum offenen Vollzug soll erschwert werden. Gleiches soll für
Lockerungen in Betracht kommen (WamS 6.1.2002). „Wir werden überlegen, ob wir die Zahl der Besuche (bei
Gefangenen) reduzieren“, zitiert das HA am 18.1.2002 den Justizsenator.
300.000 Euro sollen beim Arbeitslohn und Taschengeld der Gefangenen gespart
werden, weiß das HA am 16.1.2002 zu berichten und fügt hinzu: Weniger
Gefangene dürfen arbeiten, die Leistungszulagen werden abgeschafft. Drogenabhängige,
kündigt der Justizsenator im HA vom 8.6.2002 an, erhalten von sofort an nur für
die Dauer eines Entzuges Methadon. Konsumenten, die in der Haft mit Drogen
erwischt werden, sollen mit Fernseh- oder Radioentzug oder mit Besuchsbeschränkungen
und Arrest bestraft werden.
Verfassungswidrige
Doppelbelegung von 8 qm - Einzelzellen
Im
März 2002 wenden sich die Vorsitzenden der Hamburger Strafvollstreckungskammern
mit einem gemeinsamen Schreiben auf dem Dienstweg über den Landgerichtspräsidenten
und den Oberlandesgerichtspräsidenten an den Justizsenator mit der Bitte, die
von ihm angeordnete rechtswidrige Doppelbelegung von Einzelzellen in der
Justizvollzugsanstalt Am Hasenberge („St. Fu“) generell zu beenden, und
nicht nur dann, wenn sich ein Gefangener an das Gericht wendet.
Vorausgegangen
war dem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.7.2000 – 2BvQ
25/00 -, die in der Doppelunterbringung von Gefangenen in ca. 8 qm großen
Einzelzellen mit offenen Toiletten ohne Entlüftung in der JVA Am Hasenberge
einen Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) sieht. Die in diesem
Zusammenhang seinerzeit ergangenen Entscheidungen der Hamburger
Strafvollstreckungskammern haben dem folgend einhellig in allen Fällen die
Aufhebung der rechtswidrigen Doppelbelegung angeordnet. Daraufhin erklärte das
dem Justizressort unterstehende Strafvollzugsamt im Herbst 2000 verbindlich,
eine derartige Belegungspraxis künftig zu unterlassen.
Gleichwohl
ordnete der jetzige Justizsenator in Kenntnis der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes im Februar 2002 erneut die menschenunwürdige
Doppelbelegung von Einzelzellen in der JVA Am Hasenberge an. Im Wege des
Eilrechtsschutzes mussten die Strafvollstreckungskammern dem abermals in den
geltend gemachten Fällen ein Ende bereiten. Bald darauf wurde jedoch offenbar,
dass die unzulässige Doppelbelegung nunmehr in Einzelfällen ebenso
rechtswidrig auf freiwilliger Basis fortgesetzt wurde. Auch dem Justizsenator dürfte
geläufig sein, dass eine im Einzelfall durchaus fragwürdige Einwilligung der
Gefangenen nicht den Verstoß gegen unseren obersten Verfassungsgrundsatz zu
heilen vermag. “Die Würde des Menschen ist unantastbar“, beginnt Art. 1
Abs.1 GG und fährt fort: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt.“ Im übrigen soll mit der gesetzlichen Regelung der
Einzelunterbringung zur Nachtzeit (§18 StVollzG) insbesondere auch dem
Entstehen von Subkulturen und Abhängigkeitsverhältnissen unter den Gefangenen
entgegen gesteuert werden und damit mehr Sicherheit für die Allgemeinheit
erreicht werden.
Als
dann den Strafvollstreckungskammern auch noch ein Schreiben des
Strafvollzugsamtes vom 4.3.2002 zur Kenntnis gelangte, mit dem der Justizsenator
die Anstaltsleitungen anweist, keine Doppelbelegungen vorzunehmen, „wenn
erkennbar sei, dass die Strafvollstreckungskammern im konkreten Fall diese
Entscheidung aufheben werden“, wandten sich die Kammervorsitzenden mit dem
bereits genannten Schreiben an Dr. Kusch. Dieses Schreiben blieb bis heute
unbeantwortet. Die erbetene Zusicherung, die rechtswidrige Doppelbelegung von
Einzelzellen in der JVA Am Hasenberge generell zu beenden, hat der Justizsenator
bisher nicht abgegeben. In einem anhängigen Vollzugsverfahren verweigert die
JVA Am Hasenberge seit April 2002 jegliche Stellungnahme zu diesem Fragenkreis.
Der
Anfang September 2002 vorgelegte Haushaltsplan-Entwurf für 2003 gibt demgegenüber
im Einzelplan 2 „Justizbehörde“ im Bereich „Justizvollzug“ zum Thema
Haftplätze u.a. wie folgt Auskunft: „Durchschnittliche Zahl der doppelt
belegten Einzelhaftplätze (ohne U-Haft): Plan 2002: 130, Plan 2003: 135.“
Das
Bundesverfassungsgericht hatte zwischenzeitlich mit zwei weiteren Entscheidungen
vom 27.2. und vom 13.3.2002 seine Rechtsprechung zur menschenunwürdigen
Doppelbelegung von zu kleinen Einzelzellen bestätigt (BvR 553/01 u. BvR 261/01)[20].
Da über diese Entscheidungen auch in der Hamburger Tagespresse berichtet wurde,
sah Dr. Kusch sich gleichwohl zu einer Stellungnahme genötigt. So nutzte er die
Jahresversammlung des Hamburgischen Richtervereins am 4.4.2002 dazu, den
Verfassungsverstoß zu bagatellisieren, indem er an die zuständigen Richter
appellierte, „im Rahmen der richterlichen Tätigkeit bei der Bewertung von
Zuständen im Strafvollzug auch an die Situation der Justizvollzugs- und
Polizeibeamten zu denken. Auch das Wachpersonal müsse seinen Dienst oft unter
unwürdigen bzw. schwierigen Umständen verrichten[21]“.
Dieser rechtlichen Vernebelung sind die angesprochenen Richter jedoch nicht
erlegen.
Die
„Totengräber des Strafvollzuges“ und die „Träumer, denen das Opferblut
an den Händen klebt“
Szenewechsel
- wenige Tage später in der Haushaltsdebatte der Hamburgischen Bürgerschaft:
Am 16.4.2002 rechnet der Justizsenator mit der SPD-GAL-Opposition ab: „War es
sozial, Hamburg zur Hauptstadt des Verbrechens[22]
verkommen zu lassen? Was wir im Gegensatz zu Ihnen unter sozial verantwortlicher
Justizpolitik verstehen, lässt sich sehr gut am jüngsten Beispiel des
Strafvollzuges erkennen. Wir werden statt der 400 geplanten offenen Plätze in
Billwerder 800 geschlossene bauen. Erstmals seit Jahren gibt es einen Senat, dem
es ein Herzensanliegen ist, die Menschen vor Verbrechen zu schützen. Es mag
sein, dass Sie sich in den letzten 44 Jahren angewöhnt haben, gesetzliche
Vorgaben nur noch dann ernst zu nehmen, wenn Sie Ihnen ins politische Kalkül
passen. Aber nehmen Sie zur Kenntnis, dass dieser Senat sich in seinen
politischen Entscheidungen an Gesetz und Recht orientiert. Sie sind die Totengräber
des Hamburger Strafvollzugs und nehmen das Wort Betonvollzug in den Mund.“[23]
Am
17.4.2002 hat Innensenator Schill das Wort in der Haushaltsdebatte: „Was hören
wir da? Die alten Schnacks wie „Menschen statt Mauern“, „Erziehen statt
Strafen“ oder „der noch so schlimme Verbrecher ist Opfer der
Gesellschaft“. Solche Träumereien sind verantwortlich für Tausende von
Opfern unverhinderter Gewaltverbrechen. Wer solchen Träumereien nachhinkt und
diese in den letzten Jahren verwirklicht hat, der hat Blut der unverhinderten
Gewaltverbrechen und ihrer Opfer an den Händen.“[24]
Presseerklärung der
Kriminologischen Iniative vom
9.7.2002
Am
9.7.2002 wendet sich die Kriminologische Initiative Hamburg e.V. (KIH), ein seit
über 15 Jahren bestehender Zusammenschluss von etwa 130 – 150
Wissenschaftlern und Praktikern aus den Bereichen der Kriminologie, des Straf-
und Strafvollzugsrechtes und der Straffälligenhilfe[25],
mit einer Presseerklärung zum Hamburger Strafvollzug an die Öffentlichkeit. In
dieser Erklärung heißt es unter Hervorhebung der verfassungsrechtlichen und
gesetzlichen Vorgaben zum Strafvollzug u.a. wie folgt:
„Es
verstößt gegen Gesetz und Recht, an die Stelle des verfassungsrechtlichen
Resozialisierungsgebotes ein anderes Vollzugsziel – nämlich den
Verwahrvollzug – in den Vordergrund zu stellen. Eine gesetzwidrige
Orientierung des Strafvollzuges an populistischen Parolen von „law and
order“, deren eigentliches Ziel letztlich darin besteht, dem politischen
Machterwerb und Machterhalt zu dienen, ist nicht hinnehmbar. Es ist
wissenschaftlich belegt, dass fehlende Rehabilitationsmaßnahmen für Gefangene
die Rückfallquoten steigen lassen. Wirksamer Opferschutz wird daher allein mit
der gesetzesgetreuen Befolgung des Resozialisierungsgebotes gewährleistet!“
Justizsenator Dr. Kusch vom 8.
– 12.8.2002 bei „Sheriff Joe“
Auch
die Presseerklärung der KIH hat den Justizsenator offensichtlich nicht
veranlasst, sich der gesetzlichen Vorgaben für den Strafvollzug zu
vergewissern. Vielmehr fand dieser im August 2002 Zeit für einen fünftägigen
Besuch bei „Sheriff Joe“ in Arizona. Der Justizsenator begründete diese
Reise wie folgt: „Im Interesse der Modernisierung des Hamburgischen
Strafvollzuges halte ich es für unerlässlich, aus einem breit gefächerten
Feld von Möglichkeiten Anregungen zu holen.“[26]
Die fragwürdige Wissbegier des Senators rief erhebliche Kritik hervor. „Was
bitte“, heißt es in Regierungskreisen unter vorgehaltener Hand, „soll eine
Reise in Gefängnisse bringen, deren Praxis schon im Ansatz an deutschen
Gesetzen scheitert?“[27]
Selbst in den eigenen Reihen droht die mühsam gewahrte Akzeptanz umzuschlagen,
ist zunehmend von einem „Sicherheitsrisiko“, von „einer neuen offenen
Flanke“ die Rede[28].
Noch
deutlicher wurde der rechtspolitische Sprecher der SPD Rolf-Dieter Kloß: Mit
dieser Reise habe der Justizsenator eine „Serie von Fehlleistungen“
fortgesetzt.
Das
Binnenverhältnis in seiner Behörde sei inzwischen durch „Eiseskälte und
Entfremdung“ geprägt, ebenso seien das Band zum Strafvollzug wie auch zu den
Richtern am Sievekingplatz irreparabel „zerschnitten“, hochrangige
Mitarbeiter „kalt gestellt, strafversetzt worden oder freiwillig gegangen“ 28.
Bitte
aller 17 Strafvollstreckungs-richterinnen und –richter um ein klärendes Gespräch
mit dem Senator
Die
Hamburger Strafvollstreckungskammern haben das Strafvollzugsamt mit Schreiben
vom 1.8.2002 gebeten, folgenden Punkt auf die Tagesordnung für den anstehenden
jährlichen Meinungsaustausch zu setzen: „Verfassungsrechtlich und gesetzlich
fundierter Vorrang des Resozialisierungsgebotes im Strafvollzug“. Mit einem
weiteren Schreiben vom 23.8.2002 haben sie einhellig um die Teilnahme des
Justizsenators an einer solchen Besprechung gebeten, weil sich auf Grund der
derzeitigen Umgestaltung des Strafvollzuges in Hamburg zahlreiche, zum Teil
grundlegende Fragen ergeben hätten. Diese Besprechung soll am 31.10.2002
stattfinden. Erfreulicherweise hat der Justizsenator nach längerem Zögern
seine Teilnahme an diesem Gespräch zugesagt.
III.
WIRKLICHKEIT ODER FIKTION?
Die
Frage, wie wir den Strafvollzug verstehen und handhaben, steht in engem
Zusammenhang mit der Rechtskultur unseres Landes, ja der Zivilisation im Ganzen[29].
Ist
es zu viel verlangt oder gar wirklichkeitsfremd, sich eine
Strafvollzugsverwaltung vorzustellen, die im Einklang mit allen fachlichen
Erkenntnissen den Geboten unserer Verfassung und des Strafvollzugsgesetzes folgt
und sich verpflichtet sieht, ihr ganzes Können und Bemühen auf das vorgegebene
Ziel der Resozialisierung hin auszurichten, um damit die Täter möglichst
nachhaltig zu bessern und die Allgemeinheit möglichst wirksam zu schützen?
Der
Amtseid aller Senatoren in Hamburg lautet gemäß Art. 38 Abs.1 der
hamburgischen Verfassung wie folgt: „Ich schwöre, dass ich Deutschland , dem
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der hamburgischen Verfassung die
Treue halten, die Gesetze beachten, die mir als Mitglied des Senats obliegenden
Pflichten gewissenhaft erfüllen und das Wohl der Freien und Hansestadt Hamburg,
soviel ich vermag, fördern will.“
Reinhold Roth
[1] Dieser Abschnitt ist wörtlich dem Beitrag „Einsperren ist teuer und sinnlos“ von Martin Klingst, Die Zeit v. 14.4.02, S. 8, entnommen
[2] Vergl. zum Folgenden HA v. 10.8.02, S. 11
[3]
Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl.
2002, S.115; Walter, Strafvollzug, 2. Aufl.
1999, S. 326
[4] New York Times v. 2.6.02: „Prison boom has not deterred crime“; Der Spiegel vom 10.6.02, S. 168
[5]
BVerfG E 35, 202,
235
[6]
BVerfG E 45, 187,
238f; 98, 169, 200 f
[7]
BVerfG E 98, 169,
200 f
[8]
Calliess/Müller-Dietz,
9. Aufl. 2002, § 2 Rnr. 1; AK-Feest-Lesting, 4. Aufl.
2000, § 2 Rnr .6-15; Schwind-Böhm, 3. Aufl. 1999, § 2 Rnr. 9, 15-17;
Kaiser/Schöch, a.a.O., S.231f; Walter, a.a.O., S. 89-91; Laubenthal,
Strafvollzug, 2. Aufl. 1998, S. 53-57
[9] BVerfG E 98, 169, 208
[10] Müller-Dietz, ZfStrVo 2000, S. 230 f
[11]
BKA-Kriminalstatistik
2000, S. 26 (zitiert nach
Reuband, NKP 2002, S.9)
[12] Klingst, s. Fn.1
[13]
Calliess/Müller-Dietz, a.a.O., § 2
Rnr. 15 u. 16; AK-Feest-Lesting, a.a.O., vor § 2 Rnr. 5 ff; Schwind/Böhm,
a.a.O., § 2 Rnr. 12; Kaiser/Schöch, a.a.O., S. 60 u. 159-167; Walter,
a.a.O., S. 322-334; Laubenthal, a.a.O., S. 59-63
[14] Weber, Referat auf der ASJ-Tagung zum Hamburger Strafvollzug am 13.4.02
[15]
Vergl. zum Folgenden Dünkel/Drenkhan,
NKP Heft 2/01, S. 16 ff
[16]
Dünkel/Drenkhan, aaO., S.21
[17] Preusker in Baden-Baden am 28.11.02; Rosenfeld in Bad Böll am 19.9.02
[18]
Calliess/Müller-Dietz, a.a.O., § 10
Rnr.1 m.w.N.;
HansOLG
ZfStrVo 1980, S.185
[19] Inzwischen ist die Reduzierung der Haftplätze im „offenen Männervollzug“ von 639 auf 320 fest eingeplant. Zugleich rechnet man im Rahmen der derzeitigen Umgestaltung des Strafvollzuges in Hamburg mit einer erheblichen Zunahme der Gefangenenzahlen. Die Jahresdurchschnittsbelegung soll innerhalb von 3 Jahren von 2899 auf 3600 steigen, was naturgemäß mit erheblichen Kosten verbunden ist (vergl. dazu Bürgerschafts-Drucksache 17/802 v. 7.5.02, S. 3 u. 4)
[20]
Die Sache BvR 261/01 betrifft abermals
die verfassungswidrige Doppelbelegung einer Einzelzelle in der JVA Am
Hasenberge
[22]
Frankfurt hatte 2000 seinen
Spitzenplatz zulasten von Hamburg verloren, weil dort die Kriminalstatistik
leicht rückläufige Zahlen auswies, während die Kriminalitätsbelastung in
Hamburg von 1993 bis 2000 nahezu gleich blieb (1993: 16841 Delikte pro
100.000 Einwohner, 2000: 16657 Delikte pro 100.000 Einwohner; Quelle: BKA
1994-2001, zitiert nach Reuband, aaO.
[23] Plenarprotokoll der Bürgerschaft 17/13 v. 16.4.02, S. 557 f
[24] Plenarprotokoll der Bürgerschaft 17/14 v. 17.4.02, S. 663
[25] Verfasser ist Beisitzer im Vorstand der KIH; zur KIH vergl. auch MHR Heft 2/1987, S.10 ff,13
[26] HA v. 10.8.02
[27] Die Welt v. 12.8.02
[28] Die Welt v. 13.8.02
[29] Müller-Dietz, ZfStrVo 2000, S. 230, 236