Assessorenstudienfahrt
nach Amsterdam
Vom 16.10. bis zum 19./20.10.2002
fand – erstmalig in der Hamburger Justiz – eine Studienfahrt für Assessoren
nach Amsterdam statt. Die Teilnahme war nicht auf Assessoren beschränkt.
Organisiert wurde diese Reise von den Assessorenvertretern des Hamburgischen
Richtervereins, bezahlen musste jeder selbst. Teilgenommen haben zu gleichen
Teilen insgesamt 30 Amtsrichter, Landrichter und Staatsanwälte (nicht nur
Assessoren).
Das Fachprogramm beinhaltete den
Besuch einer Anwaltskanzlei in Amsterdam, den Besuch der Niederländischen
Anwaltskammer in Den Haag sowie den Besuch des Amsterdamer Gerichtshofs
(verbunden mit einem Gespräch mit dem Präsidenten und einer Staatsanwältin
sowie der Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung).
In der Kanzlei „Boekel de Nerée“
berichteten uns zwei deutsche Rechtsanwältinnen, die zwischenzeitlich in den
Niederlanden zugelassen sind, zunächst über die dortige
Rechtsanwalts-Situation im Vergleich zu Deutschland. Seit etwa 15 Jahren, also
viel früher als bei uns, gab es dort einen Trend zur international
ausgerichteten Großkanzlei. Interessanterweise ist dieser Trend mittlerweile
gebrochen. Gefragt sind nunmehr große nationale Kanzleien.
Näher betrachtet haben wir dann
das niederländische Zivilverfahren. Anders als bei uns wird der Richter dort
erstmals vor der mündlichen Verhandlung mit der Akte betraut. Zuvor findet der
Schriftverkehr unter Anleitung der Geschäftsstelle ausschließlich von
Rechtsanwalt zu Rechtsanwalt statt. Die Folgen davon sind oft unnötig dicke
Akten. Zudem ist es nach dem niederländischen Verfahrensrecht möglich und auch
üblich, dass zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Urteil ein Jahr
liegt, ohne dass inhaltlich noch irgendetwas passiert. Es folgte eine Diskussion
über die Situation in Deutschland, in der die Vor- und Nachteile beider Systeme
verglichen wurden. Dargestellt wurden auch niederländische Reformbestrebungen
mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung und der Stärkung des richterlichen
Einflusses auf die Verfahrensgestaltung.
Deutlich anders als bei uns ist die
niederländische Juristenausbildung. Nach vier Studienjahren, auf die kein
Examen folgt, muss der Niederländer sich entscheiden, ob er die anwaltliche
Laufbahn oder die richterliche/ staatsanwaltliche Laufbahn einschlagen will.
Will er Anwalt werden, muss er zwei Jahre als Rechtsanwalt auf Probe arbeiten,
bevor er zugelassen werden kann. Will er Richter oder Staatsanwalt werden, muss
er zuvor jeweils zwei Jahre bei Gericht, bei der Staatsanwaltschaft und beim
Rechtsanwalt tätig sein. Er darf aber jeweils nur Hilfstätigkeiten wahrnehmen.
Insbesondere der Proberichter darf nur sehr eingeschränkt
Rechtsprechungsaufgaben wahrnehmen. Die Gesamtausbildungszeit für Richter und
Staatsanwälte beträgt danach 10 Jahre, die von Rechtsanwälten nur 6 Jahre.
In der Rechtsanwaltskammer
empfing uns der dortige Generalsekretär und erläuterte uns die Aufgaben der
Kammer in den Niederlanden. Auch dort gibt es die Pflichtmitgliedschaft der
Rechtsanwälte. Bemerkenswert ist die von der Rechtsanwaltskammer streng überwachte
Pflicht zur Fortbildung, die alle niederländischen Rechtsanwälte, unabhängig
von etwaiger Spezialisierung oder Berufserfahrung trifft.
Insgesamt gesehen ist die
wirtschaftliche Situation der Rechtsanwälte noch deutlich besser als in
Deutschland. Der Bedarf an Rechtsanwälten ist nicht gedeckt. Allerdings ist die
Zahl der niederländischen Rechtsanwälte in den letzten Jahren um ein Drittel
gestiegen, so dass der Markt in absehbarer Zeit gesättigt sein dürfte.
Höhepunkt des Fachprogramms war
der Besuch des „Gerechtshof Amsterdam“ (vergleichbar unserem
Oberlandesgericht). Wir wurden empfangen vom Präsidenten des Gerechtshofs und
von einer hochrangigen Staatsanwältin. Beide nahmen sich sehr viel Zeit für
ein Gespräch mit uns. Der Präsident stellte zunächst den Instanzenzug und
dann die Gerichtsverwaltung dar. Ähnlich wie bei uns gibt es auch dort seit
einigen Jahren Ansätze zur vermehrten Selbstverwaltung.
Auch dort gibt es eine
Budgetierung, und zwar auch über die Justizbehörde, nicht direkt über das
Parlament. Letzteres wäre nach Auffassung des Präsidenten sogar
verfassungswidrig. Ein wenig lustig machte er sich über die deutsche Gründlichkeit.
So kommen nach seinen Angaben auf 100.000 Einwohner in den Niederlanden 10, in
Deutschland 28 Richter.
Am Beispiel der Strafrahmen zeigte
sich, wie sehr wir alle durch unsere Gesetze „geimpft“ sind. Als der Präsident
erwähnte, dass es keine Strafrahmen gebe, sondern es möglich sei, für einen
Mord nur einen Tag Freiheitsstrafe zu verhängen – was in der Praxis natürlich
nicht geschehe -, hielten viele von uns das für geradezu absurd. Ohnehin ist
die Strafzumessung freier. Als Hauptstrafe gibt es neben den Geld- und
Freiheitsstrafen auch die Leistungsstrafen, die sich unterteilen in
Arbeitsstrafen (unentgeltliche gemeinnützige Arbeit, z.B. im Krankenhaus) und
Lernstrafen (Teilnahme am Kurs „soziale Fertigkeiten“, häufig bei Minderjährigen;
das Erwachsenenstrafrecht wird in den Niederlanden früher als bei uns
angewendet. In unserem Sinne Heranwachsender ist der Angeklagte nur mit 16 bis
18 Jahren. Schlechte Erfahrungen gibt es damit keine).
Die Staatsanwältin bot uns dann in
schonungsloser Offenheit ein erschreckendes Bild. Es gibt aktuell 6.000 offene
Verfahren bei 80 Amsterdamer Staatsanwälten (insgesamt gibt es in den
Niederlanden etwa 450 Staatsanwälte).
Obwohl schon diese Quote hoch
erscheint, ist die Wirklichkeit noch schlimmer. So wird zum Beispiel
Ladendiebstahl zur Zeit überhaupt nicht verfolgt. Uns – vor allem den
mitreisenden Staatsanwälten - war das unbegreiflich. Erst als die niederländische
Staatsanwältin den Begriff „Opportunitätsprinzip“ verwandte, legte sich
unsere Aufregung etwas. Die niederländische StPO kennt kein Legalitätsprinzip.
Es gilt durchgängig das Opportunitätsprinzip (abgesichert durch ein
Beschwerderecht des unmittelbar Betroffenen). Davon wird - leider auch aus
schlichter Not – reger Gebrauch gemacht.
Vor dem Hintergrund sind sogenannte
Dreiecksberatungen institutionalisiert: Staatsanwaltschaft, Polizei und Bürgermeister
legen gemeinsam, angelehnt an vorgegebene Leitlinien des Justizministers und der
Generalstaatsanwaltschaften,
die
regionalen Schwerpunkte der Verbrechensbekämpfung fest.
Sehr interessant ist die unserem
Strafbefehlsverfahren ähnliche Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, dem Täter
ein Bußgeld aufzuerlegen. Oft wird bei leichteren Vergehen schon auf dem
Polizeirevier der zu zahlende Betrag festgesetzt und dem Täter (nur) die
entsprechende Zahlkarte übergeben. Zahlt er nicht, so wird er doch noch vor
Gericht geladen, sonst ist der Fall erledigt. Die Vorteile liegen auf der Hand:
Der Beschul-digte weiß sofort, woran er ist, die Strafsachen werden zügig
erledigt und die Gerichte werden entlastet.
Anschließend hatten wir
Gelegenheit, einem Strafprozess zweiter Instanz beizuwohnen. Der Vorwurf, mit
dem uns der Gerichtspräsident vertraut gemacht hatte, bestand im versuchten
Automatenbetrug und im Besitz von Haschisch. Letzterer ist eben gerade nicht
straffrei, sondern wird unter Anwendung des Opportunitätsprinzips nur nicht
verfolgt. Das war hier anders, weil ein weiterer Tatvorwurf im Raume stand. Der
Prozessablauf war dem unseren sehr ähnlich. Auffällig war, dass der Angeklagte
sich bereits im Gerichtssaal befand, als das Gericht hereintrat. Das Gericht hat
außerdem in weiterem Umfang von der Möglichkeit, Aussagen zu verlesen,
Gebrauch gemacht als bei uns zulässig gewesen wäre. Was wir nicht verstanden
haben, wurde uns anschließend mit allergrößtem Entgegenkommen ausführlich
erklärt.
Neben
dem Fachprogramm bot die Reise ausgiebig Gelegenheit, die Kollegen näher kennen
zu lernen. Gerade im Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht ist
dieser Effekt gar nicht hoch genug einzuschätzen. Sehr vieles ist leichter,
wenn man den Gegenüber kennt, mit dem man zu tun hat. Außerdem wurde durch die
Vielzahl der Gespräche untereinander über die tägliche Arbeit großes Verständnis
für die Tätigkeit der jeweils anderen geweckt.
Besonders intensiv diskutiert wurde
zum Beispiel die Frage, welche Vor- und Nachteile die Wahrnehmung des
Sitzungsdienstes der Staatsanwaltschaft durch Nicht-Sachbe-arbeiter hat.
Interessant war auch die unterschiedliche Wahrnehmung zur Rolle der
Staatsanwaltschaft im Rahmen von Absprachen im Strafprozess. So wurde seitens
der Staatsanwälte darauf hingewiesen, dass sie sich manchmal ein wenig außen
vor fühlen, was manchen Richter erstaunte. Gerade für die jüngeren
Amtsrichter war es zudem sehr lehrreich, die unterschiedlichen Arbeitsweisen
untereinander zu vergleichen.
Zum
Glück blieb auch für die Besichtigung der Amsterdamer Sehenswürdigkeiten genügend
Zeit. Die Reise war so organisiert, dass sie von Mittwoch bis Sonnabend
(wahl-weise bis Sonntag) dauerte. Das Fachprogramm endete am Freitag. So konnten
die Abende und das Wochenende ausgiebig genutzt werden, um eine Grachtenfahrt zu
machen, das van-Gogh-Museum, das Anne-Frank-Haus, das Rijksmuseum, das
Rotlichtviertel oder die Heineken-Brauerei zu besuchen. Die persönlichen Präferenzen
waren dabei ganz unterschiedlich.
Fazit: Alle Beteiligten hoffen,
dass diese Reise im nächsten Jahr in eine andere Stadt wiederholt werden wird.
Thomas
Grote