(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/03, 26) < home RiV >

Der alte

Friedensrichter

 

 

Gerhard Henschel lebt und schreibt in Hamburg. Über sein 95seitiges Büchlein „Der alte Friedensrichter und seine Urteile“ bemerkte Roman Herzog: „Die größtkalibrigen Kamingeschichten seit jenen von Arno Schmidt’s Vermessungsrat a.D. Stürenburg selig.“

An jedem Sonntag erzählt der alte Friedensrichter Prof. Dr. jur. Wilhelm Seidenbart bei einem guten Glas Milch seinen auf ihr Erbe wartenden Verwandten Geschichten aus seinem bewegten Berufsleben. „Er war jetzt 114 Jahre alt und von der Pension sehr reich geworden.“ Und an jedem Sonntag verliert einer der schläfrigen Zuhörer sein Leben.

Die manchmal groteske Wortakrobatik hätte vielleicht als überzeichnete Juristensprache eines senilen Alten abgetan werden können, wenn nicht auch der Erzähler sich ihrer bedienen würde, was der Szenerie eine surrealistische Atmosphäre verleiht.

Doch lesen Sie selbst! Von den 13 Geschichten, deren äußere und innere Rahmen stets die gleiche Form zu haben scheinen (doch auch sie wird immer wieder neu verfremdet), sei hier mit freundlicher Zustimmung von Gerhard Henschel die 2. Geschichte wiedergegeben; die beiden Zeichnungen (oben und nachstehend) stammen von F. W. Bernstein.

Wolfgang Hirth

 

 

Das Urteil über

die beiden Zwillinge

 

»Schwester Paula«, sagte Wilhelm Seidenbart, der alte Friedensrichter, »diese Milch ist mir sehr bekömmlich. Sie ist auch in der Temperatur sehr gut.« Er trank in seinem hohen Stuhl mit langen Zügen die Milch aus, so daß ein weißer Halbkreis über seiner Ober­lippe in die Entstehung fiel.

Mit dem ausgeleerten Glas begab sich die Pflegeschwester fort. Jetzt waren nur noch der alte Friedensrichter und seine Familie in dem Kaminzimmer da, wo ein strahlendes Feuer den Kamin beherrlichte. Es war der Wille auf das Testament, wodurch die Angehörigen dem alten Friedensrichter ihre Aufwartung geboten, allen voran der Kronensohn Ulf, seine Frau Waltraud, die Drillinge Kurt und Hans und Markus, die Enkeltöchter Birte und Jasmin, die Tante Cordula, der Neffe Marius, ein Schwager namens Lothar und der Stiefsohn Peter.

Der alte Friedensrichter strich über die karierte Decke auf seinen Beinen. »Somit«, sagte er, »entsinne ich mich des Urteils über die beiden Zwillinge. Es war ein ausragender Präzedenzfall ...«

Die Angehörigen rutschten auf ihren Sitzgelegenheiten in die bequemste Hörerstellung.

»Ich hatte es sofort in dem Gefühl«, berichtete der alte Friedensrichter, »denn die Angeklagten waren siamesische Zwillinge. Einer von ihnen hatte eine Bank ausgeraubt und den Kassierer als Geisel entführt. Nach der Befreiung beschuldigten sich die Zwillinge in der Wechselverteilung gegenseitig des Verbrechens. Die Zwillinge waren für den ganzen Körper auf dem Bauch zusammengewachsen, aber sie hatten verschiedene Anwälte. Es war kompliziert, das Urteil zu beraten. Man hätte den einen von den beiden verurteilen können, aber man wußte nicht, welcher das Verbrechen begangen hatte. Und mit dem schuldigen Zwilling wäre auch der unschuldige unverweigerlich in die Haft abgeführt worden. Ich beriet den Fall über der Verhandlung mit meinem Gewissen, als ich telefonisch von der Sache abgerufen wurde ...«

Der Neffe Marius neigte sich herunter, um seinen rechten Schuhsenkel zu verknoten, welcher aufgegangen war.

»Ich war befugt worden«, fuhr der Friedensrichter fort, »mit einer Gesandtschaft von Bußrichtern aus Bulgarien auf die Jagd zu gehen. Diese Einladung genoß die staatliche Priorität. Ich mußte in das beigefügte Naturschutzgebiet abreisen. Man brachte mich zu einem Waldhaus, wo die Bußrichter mich empfingen. In der Frühe erging der Weckruf mit dem Hörnerklang für die große Jagd. Über eine Leiter war der Hochsitz in der Zubegehung, und im Nebel pirschte sich nach einiger Weile ein Bock in die Geschoßlinie. Die Waffen der bulgarischen Bußrichter hatten Ladehemmung, aber zum Glück war mir als Amtsgewehr eine große Bockflinte vereignet worden. Hierdurch schoß ich dem Bock das Geweih ab. Man kann es heute noch sehen, wie es in der Anbringung über dem Kamin erbracht ist. Auf meine persönliche Erbittung haben die bulgarischen Bußrichter ihre Namen und die Aktenzeichen ihrer bedeutendsten Fälle in das Geweih geritzt ...«

Die Pflegeschwester Paula brachte ein neues Glas mit Milch. Es war dem alten Friedensrichter in der Willkommenheit, denn er trank es bald auch aus.

Das Kaminfeuer schloderte knisternd auf. In einer verdunkelten Ecke war der Stiefsohn Peter verstorben. Der Schwager namens Lothar hatte ihm einen Korkenzieher ins Herz verdreht.

»Wie auch immer«, sagte der alte Friedensrichter und bewischte sich den Mund mit dem Taschentuch, »in der Folge der Jagd hatte sich in dem Fall mit den siamesischen Zwillingen eine Umkehr abgehalten. Die Geschworenen wollten die Zwillinge zur besseren Unterscheidung auseinanderschneiden lassen. Hierzu war ein Spezialistenteam von Ärzten aus Korea und Südafrika eingeflogen worden. Die Frage war dabei, welchem der beiden Zwillinge die inneren Organe und die Beine anbegeben werden sollten. So entstand auch noch ein anderer Prozeß. Beide Zwillinge erhoben Anspruch auf die beiderseitigen Organe und Beine in der Behaltung. In der Gewichtung der Abwägung wurde mir die Streitsache in die Rückübertragung gestellt, so daß ich ein salimonisches Urteil fällte. Die Zwillinge wurden auf einer Insel abgesetzt mit der Anforderung, sich zu vertragen. Brot und Wasser bringt das Schiff von der deutschen Rettungswart. So ist es nun. Für mein Urteil habe ich das Verdienstkreuz mit dem großen Blatt erhalten, und so stand es auch in der Nachricht ...«

Es war sehr spät geworden am Sonntag. Die Luft in dem Zimmer war vom Kaminrauch abgefüllt. Es war eine Gelegenheit, sich an das Nachdenken um die Bedeutung für die Wahrheit in der Befindung über ein menschliches Schicksal zu ersinnen, wie es nicht mehr schwerer zu vertreten wäre. Der alte Friedensrichter dachte auch noch lange darüber nach. Er bewischte sich noch einmal den Mund mit dem gelben Taschentuch, und es war ihm zu Genüge.

Und so wurde es auch sehr still. Die Verwandten des alten Friedensrichters applaudierten der Erzählung und überführten sich in den Abschied, der ja nur für eine Woche war, denn am Sonntag darauf sollte es in der Fortsetzung weitergehen...

 

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