(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/05, 3) < home RiV >

Emil-von-Sauer-Preis

 

Mit dem im Juristenvolksmund „saurer Emil“ genannten Preis zeichnet der Hamburgische Anwaltverein seit 1973 jährlich Persönlichkeiten aus, die sich um das hamburgische und deutsche Rechtswesen verdient gemacht haben“. In diesem Jahr traf es ein Duo: unsere Vorsitzende des Hamburgischen Richtervereins, Inga Schmidt-Syaßen, und ihren ebenfalls jedem Juristen bekannten Ehemann, den Rechtsprofessor und (u.a.) Vizepräsidenten der Bucerius Law School Karsten Schmidt. Nach Makowka im Jahre 1995 (MHR 2/95, 4) wurde nun also zum zweiten Male ein/e Vorsitzende/r unseres Verbandes geehrt.

Die Laudatio hielt Martin Wilhelmi, Moderator beim NDR und selbst promovierter Volljurist. Sie enthält viel Persönliches (insbesondere vom Leben in der Kindheit auf einer Geflügelfarm mit Torfstechen für die Schulheizung); man kann sie nachlesen beim Anwaltverein:

www.havev.de/doc/emil_von_sauer-laudatio.doc.

Nachstehend abgedruckt wird jedoch das vom Ehepaar selbst gehaltene Zwiegespräch.

die Redaktion

 

 

Küchengespräch

 

- Ein Gespräch der in der Küche beschäftigten Richterin mit dem mitternächtlich heimkehrenden Professor, wie es in der Realität garantiert nicht stattfindet -

 

Inga: (ironisch) Hallo, kommst du auch noch mal nach Hause? Dass wir heute die Rede für den sauren Emil besprechen wollten, hast Du wohl ganz vergessen? Und den Spargel habe ich nun allein essen müssen! Nimm mal (gibt ihm Teller und Geschirrhandtuch). Du kannst dich nützlich machen, vielleicht ja zum ersten Mal seit dem Aufstehen.

Karsten: Tut mir leid, ich war gerade so toll in Fahrt und habe gar nicht gemerkt, ...

Inga: In Fahrt? Was gab's denn zu tun?

Karsten: Nun ja, ich habe das Recht fortgebildet!

Inga: Ach, sooo ... ohoo … mein Mann, der Rechtsfortbilder. Und wo wird dein fortgebildetes Recht verkündet? Doch wohl nicht im Bundesgesetzblatt?

Karsten: Nun, voraussichtlich in einer Festschrift.

Inga: Na toll, d.h. unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dann kann ja nicht viel passieren. Was für ein Glück! Ich war schon ganz beunruhigt.

Karsten: Da vertu' dich 'mal nicht. Spätestens in 10 Jahren habe ich den Bundesgerichtshof da, wohin ich ihn haben will. Und euch hier am Hanseatischen Oberlandesgericht habe ich vielleicht schon in fünf Jahren auf meiner Seite, dich hoffentlich auch.

Inga: Ich steh' doch immer auf deiner Seite! Aber ich kann dich beruhigen. In fünf Jahren bin ich pensioniert oder tot. Aber sag mal, worum geht es denn bei deiner intellektuellen Palastrevolution?

Karsten: Nun, ich gebe zu, die Welt habe ich heute nicht verändert. Dazu hätte die Zeit vor dem Spargelessen ja auch nicht ausgereicht. Ich räume also ein: Es ging nur um eine eher spezielle Sache: um die GmbH & Co. KG in Gründung, Umwandlung und Insolvenz.

Inga: Soso ... Sehr spannend und ach, so neu. Die Begriffe habe ich doch schon irgendwie mal gehört! Und was gibt es da fortzubilden?

Karsten: Ich fange mal beim Insolvenzfall an. Der ist am einfachsten zu begreifen.

Inga: Danke für das Kompliment (ironisch). Also erklär das mal, aber bitte nicht so lange. Bei mir liegt noch ernsthafte Arbeit auf dem Schreibtisch.

Karsten: Also gut. Stell' dir mal so eine GmbH & Co. vor: ein Unternehmen, aber zwei Gesellschaften. Im Insolvenzfall heißt das: eine Pleite, aber zwei Insolvenzverfahren: zwei Verwalter, zwei Massen, zwei Insolvenztabellen. Verrückt, oder nicht?

Inga: Was heißt da verrückt? Die Leute müssen sich doch nicht wundern. Sie haben eben zwei Gesellschaften gegründet, eine GmbH und eine Kommanditgesellschaft. Und die müssen jetzt abgewickelt werden. Das kann man doch praktisch koordinieren. Ich stelle mir vor, man setzt zum Beispiel zweimal denselben Verwalter ein. Also: Wo ist das Problem? Im Übrigen: Wo ist da die Rechtsfortbildung, auf die du so stolz zu sein scheinst?

Karsten: Die kommt ja noch.

Inga: Nun aber zu.

Karsten: Sieh' mal: im Handelsgesetzbuch steht seit 1998, dass der persönlich haftende Gesellschafter im Fall seiner Insolvenz aus der Gesellschaft ausscheidet (§ 131 Abs. 3 Nr. 4 HGB). Das würde im Fall der Doppelinsolvenz bedeuten, dass die Kommanditgesellschaft und die GmbH separat abgewickelt werden, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Die Komplementär-GmbH fliegt mir nichts dir nichts aus der Unternehmenseinheit heraus. Das Unternehmen bricht gewissermaßen auseinander, kann nicht als Ganzes abgewickelt werden. Und da nützt auch die Einsetzung desselben Insolvenzverwalters nichts. Kann das richtig sein?

Inga: Klingt in der Tat sonderbar. Und worin besteht nun deine tolle Rechtsfortbildung?

Karsten: Nun: ich betone noch einmal, die Insolvenz ist nur der einfachste Teil meines Konzepts. Die Sache hört sich also jetzt kleiner an als sie ist. Aber, um mich auf die Insolvenz zu beschränken: Es geht um ein Ganzheitsmodell. Die GmbH & Co. muss als organische Einheit gesehen werden. In der Insolvenz der GmbH & Co. KG läuft das auf eine koordinierte Abwicklung oder Reorganisation des ungeteilten Unternehmens hinaus: Aus rechtstechnischer Vielheit wird reale oder jedenfalls virtuelle Einheit.

Inga: Hört sich vernünftig an. Aber ist das Rechtsfortbildung?

Karsten: Komische Frage. Das Gegenteil meiner Lösung steht doch im Gesetz!

Inga: Ich will dir mal eines sagen: Was du da zur Rechtsfortbildung aufplusterst, ist doch nichts als die teleologische Reduktion deines § 131 HGB. Sag doch einfach: die Vorschrift passt nicht auf die Doppelinsolvenz der GmbH & Co. und wird deshalb nicht angewendet. C'est tout! Ein Normenkonflikt unter Tausenden! Den mag man so lösen, wie Du es meinst, oder anders. Aber „Rechtsfortbildung“ und „organische Einheit“. Das ist doch Großsprecherei.

Karsten: Nochmal: Wir besehen ja nur ein kleines Element meines neuen Modells. Und wenn das nicht Rechtsfortbildung ist: Was, meinst du denn, ist Rechtsfortbildung? Und wer darf das tun?

Inga: Jetzt willst du ein Referat von mir hören. Kannst du haben, wenn es kurz sein darf.

Karsten: Nur zu.

Inga: Also ich fange auch ganz einfach an und ganz aus der eigenen Sicht heraus: Zunächst einmal bin ich nicht Richterin geworden, um das Recht fortzubilden. Mir genügt es, leichtere und manchmal auch schwierige Fälle so zu entscheiden, wie es der Sachverhalt und das Recht von mir verlangen. Das ist die Regel, das ist der Richteralltag. „Konzepte“, von denen du sprichst, werden da nicht gebraucht. Harte Arbeit am Sachverhalt, ja! Beherrschung von Gesetz und Rechtsprechung, ja! Aber keine Visionen!

Karsten: Aber es gibt doch Grundsatzurteile.

Inga: Klar. Aber selbst wenn ich einen Gang hoch schalte, kann ich nur sagen, dass ich mich nie danach gedrängt habe, solche Grundsatzentscheidungen zu treffen. Das können wir doch getrost dem Bundesgerichtshof überlassen. Das Recht ist doch so schon ein schwieriges Gelände. Umso mehr muss Recht ein fester Boden sein. Auf diesem Boden agieren nun, wie auf einer Bühne oder auf einem Spielfeld, als Akteure die Parteien und ihre Anwälte. Und die Richter gehören dazu. Ich verstehe mich durchaus als aktiven Teil dieses Schauspiels. Auch  Richter und Schiedsrichter arbeiten ja nicht fernab am Bildschirm, sondern sind mittendrin. Aber Rechtsfortbildung ist dabei nur um so weniger gefragt. Einfach gesagt: Ich frage nicht: Was erwartet die Rechtsordnung von mir? Ich frage: Was erwarten die Parteien und ihre Rechtsanwälte von mir? Was erfordert der Fall? Und der verlangt zuallerletzt Rechtsfortbildung. Die Parteien führen ihre Prozesse doch nicht, um in die Rechtsgeschichte einzugehen. Sie wollen die Lösung ihres Konflikts. Und die schulde ich ihnen. Abstrakte Rechtsfragen stehen da nicht im Vordergrund, und Rechtsfortbildung schon gar nicht. Bei der Lösung der Fälle sind nach meiner Einschätzung 80 % Tatfrage, 10% Rechtsfrage und 10% Entscheidungsspielraum.

Karsten: Gilt das nach deiner Ansicht denn auch für den Bundesgerichtshof?

Inga: Natürlich nicht. Aber selbst hier wäre uns manche Rechtsfortbildung erspart geblieben, wenn die tatrichterlichen Instanzen am Einzelfall gearbeitet gefühlt hätten, statt neue Grundsätze dem Bundesgerichtshof als Spielball vorzulegen.

So wird aus Defiziten der Vorinstanzen auf einmal ein Grundsatzproblem. Das sollte nicht sein. Lassen wir die Rechtsfortbildung doch da, wo sie unvermeidlich ist.

Karsten: und die Schiedsgerichte?

Inga: Die sind ein interessanter Sonderfall. Sicherlich ist die Schiedsgerichtsbarkeit in mancher Hinsicht produktiver, weil freier, als die staatlichen Gerichte. Aber auch da regiert doch der Fall. Und was die Rechtsfrage anlangt, erwarten die Parteien, dass gerade das Schiedsgericht in dieser Hinsicht nicht anders entscheidet als die staatlichen Gerichte. Obendrein bleibt das Ergebnis im Fall eines Schiedsspruchs in der Regel doch unveröffentlicht. Das ist in letzter Zeit ja auch  als Defizit bezeichnet worden. Als Rechtsfortbildungsinstrument taugt gerade der Schiedsspruch nicht besonders. Schiedsgerichtsbarkeit kann ein Segen sein, aber nicht zu diesem Zweck.

Karsten: Ein differenziertes Bild also.

Inga: Richtig. Nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz ist jedes Gericht an "Gesetz und Recht" gebunden. Professoren und andere Kommentarschreiber müssen das vielleicht in dem Sinne auslegen, dass die Bindung für jeden Richter dieselbe ist. Nur: Am Ende ist das doch Theorie. In der Praxis wird die Fortbildung des Rechts doch in äußerst unterschiedlicher Weise wahrgenommen. Die Kollegen in Karlsruhe tragen schwerer an dieser Last als wir in den unteren Instanzen. Ich habe aber den Eindruck, sie schultern sie oft nur zu gern!

Karsten: Im Jahr 1982 hast du doch aber als schlichte Richterin einer Zivilkammer bei einer Frage zur Kommanditistenhaftung dem Bundesgerichtshof vorgearbeitet. Der BGH meinte damals noch, dass sich der Kommanditist bei einer Forderung aus Lieferung oder Leistung auf den Wert dieser Lieferung oder Leistung berufen könne, wenn er später mit seiner Forderung gegen die Einlageschuld aufrechne. Dieses Konzept war veraltet, und das Landgericht Hamburg hat sich aus gutem Grund davon gelöst. Der BGH hat dann genau so entschieden. War das nicht Rechtsfortbildung?

Inga: Mag sein, aber das war mehr wie bei deiner GmbH & Co. Hier kam ein konkretes Problem auf uns zu, nicht hatte sich unser Urteil des Problems bemächtigt. Diese Situation ist so einmalig nicht. Die neue Auslegung alten Rechts ist eben nicht immer vermeidbar. Im Übrigen kommen auch die großen Rechtsfortbildungsentscheidungen der oberen Bundesgerichte selten aus heiterem Himmel. Der BGH findet oft schon kecke Fortbildungsversuche unterer Instanzen vor. Das kann gut sein und richtig. Was ich sagen will, ist ja nur: Die Instanzgerichte sollten sich nicht um diese Aufgabe reißen. Beständigkeit und Gesetzesbindung sind die Regel, Rechtsfortbildung die Ausnahme.

Karsten: Hört sich vernünftig an und ist wohl aus richterlicher Sicht auch richtig. Nur ist die Perspektive der Professoren eine ganz andere. Der Unterschied liegt, glaube ich, in der Arbeitsteilung zwischen Gerichten und Wissenschaft begründet. Kein Gericht sucht sich seine Fälle selbst. Die Fälle werden ihm von den Parteien - außerhalb unseres Bereiches auch von der Staatsanwaltschaft - unterbreitet, und die Parteien können sich ihrerseits nicht einen Richter aussuchen, der gerade Lust zur Rechtsfortbildung hat. Das ist bei uns Professoren vollkommen anders. Wir bestimmen selbst, wo wir glauben, dass man uns braucht. Diese Suchstrategie lässt übrigens interessante Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Skribenten zu:

- Manche Professoren sind schon zufrieden, sich in altbekannten Meinungsstreitigkeiten für oder gegen uralte Theorien zu entscheiden. Interessant ist das nicht.

- Andere sind damit zufrieden, einer höchstrichterlichen Entscheidung, wenn sie diese interessant finden, zuzustimmen oder sie abzulehnen oder auf deren Rechtsfolgen hinzuweisen. Diese Art Literatur füllt die Literaturlisten und leert die Gehirne. Kein BGH-Urteil ohne eine zweistellige Zahl von Besprechungsaufsätzen!

Aufsatzliteratur wie der Hammelsprung im Bundestag: pro, contra, pro, contra, contra, contra, pro usw. usw. Es ist zum Davonlaufen. Das sind doch nur Leserbriefe mit Fußnoten, keine Aufsätze. Man staunt, dass die Zeitschriften so etwas drucken und dann noch gekauft werden.

Inga: Beruhige dich! Und wie ist es nun richtig?

Karsten: Die dritte Professorengruppe sucht sich Themen, mit denen konzeptionelle
Überzeugungs- und Änderungsarbeit zu leisten ist. Hier fängt Rechtswissenschaft an. Manches davon verpufft folgenlos, und mancher erklärt solche Arbeit für rein akademisch, also nutzlos. Ich sehe das anders und kann dafür auf 200 Jahre Rechtsgeschichte verweisen.

Inga: Aber wir haben doch ein Grundgesetz, das die Gewaltenteilung vorsieht!

Karsten: Es gibt Leute, die halten Rechtsfortbildung für eine verfassungswidrige Erfindung des Bundesarbeitsgerichts. Sie irren. Wer die Kommentare zum BGB konsultiert und sich fragt, wer oder was das Zivilrecht verändert hat, wird feststellen: Der Gesetzgeber hat Verjährungsvorschriften geändert, das Schuld- und Familienrecht umgebaut und den Verbraucherbegriff eingeführt. Aber verglichen mit den rechtsfortbildenden Leistungen aus 100 Jahren ist das nicht  viel. Der Fortschritt im Recht ist vielleicht zu 30 % dem Gesetzgeber zu verdanken, zu 70 % aber der Rechtsfortbildung.

Und hier bereitet die Rechtswissenschaft den Boden. Beispiele gibt es genug.

Oertmann machte mit der Geschäftsgrundlagenlehre die Inflationsrechtsprechung der 20er Jahre möglich. Nipperdey und andere arbeiteten den verfassungskonformen Persönlichkeitsschutz heraus, und der wurde fortgebildet bis hin zu Caroline von Monaco & Co.

Die Ergebnisse lernt heute jeder Student, muss sie gar lernen, weil sie nicht dem Gesetz zu entnehmen sind.

Na ja: Und in Sachen rechtsfähige Personengesellschaft mussten Flume, Ulmer und ich 30 Jahre querulieren, bis der Bundesgerichtshof daraus für Praxis und Wissenschaft anerkanntes Recht machte. Als Flume damit als erster ans Licht trat, schüttelten selbst die Kollegen über solcherlei Unfug den Kopf. Heute sagt auch der BGH: Die Außen-Personengesellschaft ist selbst als Gesellschaft bürgerlichen Rechts rechts- und parteifähig, obwohl das Gesetz vom Gegenteil ausgeht.

Was gestern noch Spinnerei war, ist heute gesicherte Praxis. Das ist doch ein Musterbeispiel gelungener Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Gerichtsbarkeit. Der Rechtswissenschaftler arbeitet still und unverdrossen an seinen Konzepten. Er fühlt sich als Vordenker, mal als Sisyphus, mal als Prometheus. Das macht bisweilen Verdruss, aber meistens macht es Spaß und bringt auch unsere gemeinsame Sache voran.

Inga: Das hört sich nach Heldentaten und nach Titanenarbeit am Schreibtisch an, nach geistigem Gipfelsturm. Jetzt weiß ich endlich, warum du nicht mit mir den Macchu Pichu in den Anden erklommen hast und derartige Gipfelstürme auch nicht vermisst!

Es gibt aber auch abschreckende Beispiele für deine phantastische Arbeitsteilung. Wie war das noch vor zwölf Jahren bei der großen Tagung in Heidelberg über den „qualifizierten faktischen Konzern“? Alles stand doch Kopf, weil der Bundesgerichtshof auf eine Professorenthese hereingefallen war. Oder habe ich das falsch in Erinnerung?

Karsten: Jetzt müsste ich kleinlaut werden. Der Bundesgerichtshof hat damals entschieden, dass ein Friseur, der aus dem Damensalon und dem Herrensalon zwei Gesellschaften mbH macht, zur Konzernspitze
avanciert und unbeschränkt haftet. Die Gründung zweier Gesellschaften durch dieselbe Familie erschien als ein horrender Beratungsfehler. Vom mittelständischen Indu-strieunternehmen bis hinunter zur Fensterputzer-GmbH war plötzlich die Wirtschaft ein Gewimmel von qualifizierten Konzerngebilden, nur weil Professoren sich das ausgedacht hatten. Für uns war das eine schöne Zeit. Mittelstand und Anwaltschaft trafen sich auf Kongressen, wo gegen teuren Eintritt auf den Bundesgerichtshof geschimpft werden konnte. Denn wer bei Verstand war - von der Professorenmehrheit ließ sich das wirklich nicht sagen - schüttelte über diese Konzernhaftung den Kopf. Aber wir wissen: Der Bundesgerichtshof hat von ihr Abstand genommen. Und was die Professorenschaft anlangt, so ist es genau wie vor 60 Jahren: Jetzt will keiner in dieser Partei gewesen sein, und schon gar nicht an der Spitze der Bewegung.

Inga: Aber das sind doch beunruhigende Erkenntnisse. Ich finde meine Skepsis sehr berechtigt.

Karsten: Ja und nein! Im Nachhinein müssen wir ja sehen: Eine Fehlentwicklung in der Rechtsfortbildung ist korrigierbar. Die Fortbildung des Rechts unterliegt der Kassation durch bessere Einsicht. Das führt zur Schadensbegrenzung. - Und rückblickend meine ich: Es wäre die Aufgabe des Bundesgerichtshofs gewesen, den Aberwitz seiner Rechtsprechung vorab zu erkennen. Ein Gericht missversteht die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung, wenn es aus akademischem Ehrgeiz die Visionen namhafter Gelehrter allzu unkritisch übernimmt. Fortbildungskonzepte aus der Wissenschaft sind doch nur Arbeitshypothesen, mit denen die Richter kritisch umzugehen haben. Wo es daran fehlt, drohen Fehlentwicklungen.

Inga: Und darüber dürfen dann wieder Aufsätze geschrieben werden. Der Vorteil einer schnellen Kursänderung ist nicht zu leugnen. Unsere vielen Gesetzesänderungen, insbesondere in der Zivilprozessordnung, werden wir nicht so schnell wieder los. Wird eine Fehlentwicklung deutlich, macht man schnell ein weiteres Gesetz!

Aber zurück zum Anfang: Wer bildet denn nun das Recht fort: die Gerichte oder die Professoren?

Karsten: Beide, meine ich, und nicht nur sie. Alle Juristen nehmen an diesem Prozess des kontrollierten Fortschritts teil. Der Bundesgerichtshof versieht Fortbildungsprozesse mit Autorität. Aber den Hintergrund bilden wir alle. Insbesondere die planende und
gestaltende Anwaltspraxis ist Teil einer unablässigen Rechtsfortbildung. Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Jahr lang keine BGH-Entscheidung, und keine Zeitschrift würde erscheinen.

Inga: Ein paradiesischer Zustand!

Karsten: Nun lass mich doch meinen Gedanken zu Ende führen!

Wäre das Stillstand der Rechtsfortbildung? Ich meine nein, denn die Rechtswirklichkeit erzeugt den außergesetzlichen Fortschritt. Savigny hätte vom "Volksgeist" gesprochen. Ich würde eher von den Usancen der Praxis sprechen, aber gemeint ist dasselbe.

Inga: Der Gedanke gefällt mir gut, auch wenn ich den Begriff des Volksgeistes so nicht verwenden würde: Es geht um die Einheit der Rechtsordnung. Diese wird nicht nur durch einheitliche Gesetzgebung gewährleistet, sondern durch die gemeinsame Veränderung des Rechts - gleichsam als außerparlamentarische Demokratie.

Die Idee ist faszinierend, ich fürchte jedoch, dass sie unseren Entscheidungen auch nicht zu mehr Akzeptanz verhelfen wird. Zustimmung bekommen wir Zivilrichter eigentlich immer nur von dem, der seinen Prozess gewonnen hat.

Vielleicht ist ja das jetzt überall so gepriesene Instrument der Mediation ein Mittel, diesen Zustand zu verbessern. Die Mediation als Methode, die Parteien eines Rechtsstreits zur Rechtsfortbildung durch eigene Rechtsfindung zu legitimieren?

Karsten: Also von Laienspielertruppen wollte ich gerade nicht sprechen!

Inga: Na, lass mal den akademischen Hochmut beiseite. Vielleicht können wir von nicht-richterlicher Streitschlichtung beide noch lernen.

Aber der Kern deiner Aussage passt jedenfalls hervorragend zu dem Anlass, der uns auf das Fortbildungsthema kommen ließ:

Wenn die unablässige Selbstbereinigung des Rechts in unser aller Hände liegt, wird das durch die Tradition des Emil-von-Sauer-Preises dokumentiert. Wir beide stehen in einer langen Kette von Preisträgern, die aus den verschiedensten Bereichen in ganz unterschiedlicher Weise zur Fortbildung des Rechts beigetragen haben. Einverstanden?

Karsten: Ja.

Inga: Na, das ist doch ein wunderbarer Schluss!

Da Frauen angeblich immer das letzte Wort haben, will ich mir dies zunutze machen.

 

Inga Schmidt-Syaßen und Karsten Schmidt