(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/05, 14) < home RiV >

Jan Philipp Reemtsma
zum Fall Daschner
*)

Besprechung von Jan Philipp Reemtsma: Folter im Rechtsstaat?  Hamburg 2005, 151 S.

I.

Der Autor ist ein weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannter, ja berühmter Mann. Mit der ursprünglich deutschen Zigarettenfirma Reemtsma hat er nichts mehr zu tun; das war Familiengeschichte und ist abgetan. Sein Name verknüpft sich mit den beiden sog. „Wehrmachtsausstellungen“, die durch die Lande gewandert waren und auch in Hamburg gezeigt worden sind. Er ist Geschäftsführer des 1984 gegründeten Hamburger Instituts für Sozialforschung, in dessen Rahmen - aber auch über ihn hinaus – er zahlreiche literarische, historische, politische und philosophische Publikationen herausgebracht hat; er hat einen Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg inne.

In seinem 1997 erschienenen Bericht[1] „Im Keller“ schildert er ein Entführungsverbrechen, dessen Opfer er selbst geworden war, das am 25. März 1996 mit seiner gewaltsamen Verschleppung durch ein Erpresser-Trio begonnen hatte, in deren geheimem Kellerverließ er sodann 33 Tage in Todesängsten angekettet gelegen hatte, bis die Leute ihre verlangten 30 Mio. DM erpresst hatten. Ein Fall, der dann gegen den Haupttäter[2] Anfang 2001 vor der GS 28 des Hamburger Landgerichts („Nebenkläger: Prof. Dr. J. P. Reemtsma“) verhandelt und am 08.03.2001 mit dem Urteil „14 ½ Jahre wegen erpresserischen Menschenraubs“ abgeschlossen worden war.

Neben dem schon erwähnten Bericht[3], der betont privaten, selbstreflektierenden Charakter trägt, muss es dieses Erlebnis gewesen sein, das Reemtsma auch zu weiteren, freilich allgemein kriminologischen Überlegungen einen Anstoß gegeben hatte: Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem[4] und: Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit[5].

II.

Man greift also mit einigem Interesse zu Reemtsmas neuer Schrift, wenngleich ihre Charakterisierung auf dem Buchdeckel[6] zu­nächst nicht anders als die konventionellen, tausendmal repetierten Anti-Folter-Bekennt­nisse klingt. Aber nicht das Ergebnis - die Begründung sollte zählen und könnte hier ja – vielleicht! – besonders bedenkenswert, jedenfalls interessant sein.

1.        

Kpt. I (S. 7 ff.) beginnt gleich mit dem Fall Daschner, dem Frankfurter Urteil, seinem Presseecho, um im Kpt. II ( (S. 13 ff.) nach Erwähnung des US-Films „Dirty Harry“ sich die (von Karl Jaspers betreute) Dissertation des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht vorzunehmen, der dem Staat im Extremfalle letztlich die Befugnis zu foltern zugesprochen hatte. ... Dann wendet der Autor, der dies etwas gönnerhaft abgetan hatte, sich aus seiner Sicht härteren Brocken zu: Im III. Kpt. (S. 25 ff.) dem berühmten Soziologen Niklas Luhmann, der in einem Vortrag vom 10.12.1992 - also lange vor dem 11. September 2001!! – das Szenario zur Debatte gestellt hatte, dass der Terroranschlag auf eine Großstadt durch Folterung eines der am Plan Beteiligten vermutlich würde verhindert werden können, mit der Frage: „Würden Sie es tun?“ (S. 25) – „tragic choice“ -, woran Reemtsma mancherlei Erwägungen und Reflexionen knüpft, denen hier nicht nachgegangen werden kann. Eine eigene Entscheidung jedenfalls wird noch nicht getroffen: „Die Kombination dieses Vorfalls (erg.: Gäfgen/Daschner) und des durch den 11. September 2001 aus dem Bereich der bloßen theoretischen Fallkonstruktion
hinausgetretenen Bedrohung großer Menschenmengen durch Terrorakte hat in Deutschland eine Diskussion ausgelöst, zu der auch dieses Buch gehört.“
(S. 38) Dann folgt zu IV (S. 40 ff.) der Versuch einer Auseinandersetzung mit Winfried Brugger, der Luhmanns Frage schon 1996 aufgegriffen, seine These, im Extremfall dürfte und müsse der Staat auch zur Folter greifen, dann im Jahre 2000 in der JZ vertieft begründet
[7] und in einer vom BVerfR i.R. D. Grimm moderierten Podiumsdiskussion vom 28.06.2001 gegen den Staatsrechtslehrer (und Romanautor) Bernhard Schlink verteidigt hatte[8]. Ob Reemtsma Bruggers Überlegungen richtig begreift, ist eine Frage für sich[9]. Indessen hebt sich der Stil seiner Überlegungen wohltuend ab von der moralischen Verdammung, mit der nicht nur engagierte Journalisten wie Heribert Prantl, sondern zuweilen auch Wissenschaftler jeden niedermachen, der (z.B.!) Daschners Entscheidung billigt und verteidigt[10]. Reemtsma hingegen versucht, auch den Autoren gerecht zu werden und sie gegen Missdeutungen in Schutz zu nehmen[11], deren Auffassung er letztlich missbilligt – oder jedenfalls selbst nicht teilt; wobei er seine eigene Meinung in den Folgekapiteln V. bis IX (S. 51 – 110) immer wieder andeutet, sie mehr voraussetzt als klar formuliert, sie auch gelegentlich wieder in Frage stellt oder die Antwort offen lässt. Nach Präsentation eines vielfältigen Stoffes[12] fragt er am Schluss seines Kpt. IX:

„Wie kann das Recht entscheiden, wenn es sich nicht entscheiden kann?“ (S. 110).

2.        

Wer nur wenig Zeit für das Buch aufwenden will und sich doch von ihm einen Eindruck verschaffen möchte, mag es beim X. Kapitel (S. 111 ff.) bewenden lassen, denn in ihm finden sich Reemtsmas Gedanken auf knapp 20 Seiten verdichtet:

Die von Luhmann/Brugger vorausgesetzte Lage des „tragic choice“ sei echt, ein wirkliches Dilemma, kein professoral konfabuliertes Horrorgemälde, wie Schlink noch im Juni 2001 seinem Diskussionspartner Brugger vorgehalten hatte; echt sei es in Deutschland schon seit dem Entführungsfall Richard Oetkers/Dieter Zlof[13] gewesen (S. 121 f.). Und er – Reemtsma – antworte auf die Luhmann-Frage würden Sie es tun? „eindeutig: Ja !“ – „diesen Menschen solange quälen, bis er das Versteck seiner Geisel nennt“. Trotzdem sagt er dann aber „nein! nein! nein! “ – warum?

Der Begriff „Menschenwürde“ sei gewissermaßen das „Dach“ der Rechtsordnung, das keinesfalls abgedeckt, sondern entgegen allen relativierenden Tendenzen[14] gerade „exegetisch geschlossen“ werden müsse[15]. Nehme man Würde in diesem Sinne ernst, so erweise sich Folter als der Generalangriff auf diesen Höchstwert[16]. Wer aber hieran überhaupt etwas ändern wollte, müsse in die Schuhe des Gesetzgebers treten und dürfe nicht - wie Brugger und andere – es bei bloßer Rechtsauslegung belassen. Er müsse mitteilen, unter welchen Voraussetzungen welche Art Folter statthaft werden solle, den Punkt der „ultima ratio“ (also den, ab welchem nichts anderes mehr als Folter funktionieren könne) genau fixieren (vgl. S. 118) und Prämissen und Folgen auch plastisch ausmalen (Arme brechen, Fingernägel ausreißen, Genitalien zerquetschen, S. 120 f): aber wer wolle sich selbst denn das wohl zumuten?[17]. Diese gesetzliche Regelung müsse zugleich jede Irrtumsmöglichkeit ausschließen, da der Rechtsstaat die Folterung eines Unschuldigen schlechterdings niemals in Kauf nehmen könne (S 117). Soweit hier ein freilich recht kursorisches Fazit.

III.

Zur theoretischen Durchdringung des Problems trägt Reemtsma wenig bei; und die einschlägige Literatur kennt er nur zum Teil[18], was einem Diskussionsteilnehmer keineswegs zum Vorwurf gereicht, der weder Rechtswissenschaftler ist noch von praktischer Rechtsfindung und ihren Methoden eine deutliche Vorstellung besitzt[19]. Freilich hätte man von einem so reflexionsmächtigen Autor wie ihm gern erfahren, wie sich seinerzeit „im Keller“! - das jetzt so blass, abstrakt und fern abgehandelte Problem für ihn persönlich entfaltet und ausgemalt hatte: Gesetzt, in seinem Fall hätte die Hamburger Polizei einen der beteiligten Ganoven erwischt und die Chance gehabt, durch Drohung und Druck auf ihn (vergleichbar dem von Daschner auf Gäfgen ausgeübten) den Ort des Kellers herauszubekommen, um das Erpressungsopfer im Handstreich zu befreien: hätte sie das tun sollen, dürfen oder müssen, oder gerade nicht? Hätte er, der damals - im Keller angekettet – um sein Leben bangte, es nicht vielleicht als aberwitzig empfunden, einen energischen (die Grenzen des § 136a StPO mäßig überschreitenden) Druck auf die Herren Drach, Richter oder Laskowski überhaupt „Folter“ zu nennen? Und wenn auch: wessen Menschenwürde war hier tiefer verletzt worden oder würde es werden: die des Opfers oder die des Verbrechers? Unerhört, in seinem Fall von einer „De-Luxe-Entführung“ zu schreiben[20]; aber dass Erpressungsopfer fürchterlicher als er gequält und entwürdigt worden sind, betont er selbst, und die oben schon genannten Fälle gehören sicherlich dazu. Es müssen also die Begriffe Menschenwürde und Folter aufeinander bezogen und miteinander bedacht und erfasst werden. Dergleichen klingt bei Reemtsma zwar gelegentlich an, bleibt aber substanziell unbearbeitet liegen. So endet die Lektüre letztlich doch mit Enttäuschung: Hätte der Autor (um es – pars pro toto - bei seinem Ausgangsfall zu belassen) Daschner gerechtfertigt, hätte ich das für naheliegend, richtig, aber kaum für besonders interessant gehalten. Hätte er indessen - nun freilich im Reflektieren, Durcharbeiten und Verallgemeinern seiner persönlichen Opfererfahrung! – eine polizeiliche Opfernothilfe der fraglichen Art für verfassungswidrig erklärt, dann würde ich sein Buch vermutlich im Ergebnis zwar ohne Zustimmung, aber mit fasziniertem Interesse gelesen haben. Diese Chance hat er mir nicht eröffnet.

Günter Bertram


 

[1] inzwischen bei Rowohlt in 3. Aufl., 2002.

[2] zwei weitere Tatbeteiligte waren schon zuvor verurteilt worden.

[3] vgl. Fn.1

[4] Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg, Heft 21, München 1999

[5] W. Hassemer/J.Ph. Reemtsma, München 2002

[6] „ ... Für ein eindeutiges Bekenntnis zur Tradition des modernen Rechtsstaats, der aus dem Kampf gegen Folter und ihrer Delegitimierung hervorgegangen ist, bedarf es der Ächtung jeder Art von Folter. Dies kann nicht aufgegeben werden, ohne unsere Rechtskultur schwer zu beschädigen und letztlich aufs Spiel zu setzen...“

[7] JZ 2000, 165 ff, vgl. dazu MHR 2/2003, S 6 ff.: Rettung und Folter – ein schiefes Paar, Fn. 2

[8] Humboldt Forum Recht 4/2002

[9] wenn er z.B. S. 44 meint, Brugger hätte, um sein Ziel zu erreichen, in die Politik gehen und dort für Gesetzes- und Verfassungsänderungen sorgen müssen, argumentiert er im Zirkel, bestreitet die Möglichkeit von Begriffsbildungen außerhalb seiner eigenen Vorstellung, verkennt die Interpretationszusammenhänge der Rechtsordnung u.a. mehr. Diese Defizite kehren in Reemtsmas Buch allenthalben wieder.

[10] vgl. MHR 2/2003, 6 ff., dort Nachweise in Anm. 7 – 11; Kretschmer in Recht und Politik 2/2003 S. 102 ff.: Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?; zuletzt wieder Burkhard Hirsch in NJW Heft 24/2005 S. XXIV: Der Fall Daschner; gegen ihn Bertram, NJW 2005 Heft 33 S. XVIII

[11] vgl. z.B S. 45 f, Anm. 74 und auch sonst häufig

[12] viel Historisch-Literarisches über Folter, Hexenprozesse (Kpt. V., Kpt. VII), Gewalterfahrungen, Sozialpsychologie (Kpt. VI,, VII, VIII) und juristische Literatur innerhalb eines angeblich sich wandelnden Klimas (Kpt. VI)

[13] Zlof hatte das entführte Kind in eine Holzkiste gesteckt und es dort umkommen lassen

[14] über die Reemtsma sich zuvor, insb. in Kpt. VI, ausführlich eingelassen hatte

[15] Die Reflexionen zur „Dachformel“ meandern, aber letztlich landet Reemtsma genau bei ihr: vgl. S. 111, 114, 129:

[16] vgl. z.B. S. 124-126

[17] vgl. z.B. S. 120-123 oben

[18] vgl. div. Anm. in MHR 2/2003, 6 ff. und MHR 1/2005, 20 ff. Neuerlich: zum Urteil des LG Frankfurt (NJW 2004, 692) Götz in NJW 2005, 953; Wittreck: Menschenwürde und Folterverbot in DÖV 2003, 873; Hilgendorf: Folter im Rechtsstaat? in JZ 2004, 331; Otto: Diskurs über Gerechtigkeit, Menschenwürde und Menschenrechte in JZ 2005, 473 ff. (480 ff.); Herzberg: Folter und Menschenwürde in JZ 2005, 321 ff.; Erb: Nothilfe durch Folter in Jura 2005, 24 f

[19] Seine Ansichten über Rechtssetzung, vom a priorischen Irrtumsausschluss im Gesetz und vieles mehr sind ihm gewiß auf diesem Konto gutzuschreiben.

[20] so aber gelegentlich die Presse, vgl. Reemtsma: Im Keller, S. 50