(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/05, 20) < home RiV >

 

Erwiderung auf G. Bertram, MHR 2/2005, 34:

Anmaßung oder Verpflichtung

- Zuständigkeiten der Europäischen Union -

 

1. Einleitung

In seinem Artikel „Zuständigkeitsanmaßungen der EU“ wirft der Autor zahlreiche Fragen zu verschiedenen Aspekten des europäischen Rechts auf. In vielen Punkten klagt er das Europarecht an: es handele sich um ein unüberschaubares und zudem in verschiedenen Sprachen abgefasstes Gemenge von Regelungen, die niemand vollständig kenne, geschweige denn richtig anzuwenden wisse. Die EU werde, wirtschaftlichen Maximen folgend, einfach überall tätig, wo es sich anbiete, und greife dabei häufig auf eine unzulässige Generalermächtigung zurück. Letztlich werde – ganz konkret auch mit den Regelungen der Antidiskriminierungs-Richtlinien – durch diese unkontrollierte Regelungstätigkeit in deutsche Verfassungsprinzipien eingegriffen.

In manchen Punkten mag diese Kritik vordergründig gerechtfertigt sein. An anderen Stellen bedarf es jedoch einer Klarstellung. Denn ein so heilloses Durcheinander, wie in dem Artikel dargestellt, herrscht in dem Bereich des europäischen Rechtes zum Glück nicht.

Zugegeben, es gibt eine große Fülle europäischen Rechts. Neben dem Recht der Verträge, dem sogenannten Primärrecht, besteht dieses Recht vor allem aus Rechtsakten der Organe der Europäischen Union, also neben EuGH-Entscheidungen vor allem aus Richtlinien und Verordnungen. Während das primäre Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten geschaffen wird, wird das sekundäre Gemeinschaftsrecht von den EG-Organen im Rahmen der primärrechtlichen Verfahrensregeln erlassen. Das dem Sekundärrecht übergeordnete Primärrecht fungiert zugleich auch als Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit des abgeleiteten Rechts.

Die Gesamtheit dieses Rechts, der so genannte Acquis Communautaire, ist seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften stetig gewachsen und dadurch nicht gerade übersichtlicher geworden. Aufgaben und Tätigkeitsfelder der Europäischen Gemeinschaft wurden erweitert und verändert, und somit ist auch die Regelungstätigkeit intensiver und vielseitiger geworden.

 

Eine gewisse Ordnung hat dieser gemeinsame rechtliche Besitzstand im Rahmen der gerade bewerkstelligten Erweiterung der Union erfahren. Vor Abschluss der Beitrittsverhandlungen hat man sich die Mühe gemacht, das geltende Recht der Europäischen Union zu sichten, zu sammeln und zu ordnen. Der Acquis Communautaire wurde in 31 Kapiteln systematisiert, und er umfasst 80.000 Seiten Rechtstexte.

Dass es nicht einfach sein kann, in dieser Fülle von Rechtstexten einen Überblick zu behalten, ist auch den Entscheidungsträgern in den Organen der EU klar. Auch ist es ihnen schon lange ein Anliegen, die Handlungen der europäischen Organe transparenter zu gestalten, auch um so eine Beteiligung der europäischen Bürger sicherzustellen. So besteht gemäß Artikel 255 EGV ein Anspruch der Unionsbürger auf Zugang zu Dokumenten der europäischen Organe. Hierfür wurde ein offizielles Verfahren eingeführt.[1] Insbesondere die geltenden Rechtstexte der EU sind aber auch auf den Internet-Seiten der EU vergleichsweise einfach zugänglich. Nahezu alle geltenden Rechtstexte sind dort in deutscher Sprache abrufbar.[2]

2. Zuständigkeiten der EU

Kernfrage des Artikels sind jedoch die Zuständigkeiten - oder Zuständigkeitsanmaßungen der Europäischen Union. Insbesondere werden die Fragen aufgeworfen, wie es zur Verabschiedung von Richtlinien im allgemeinen und der Antidiskriminierungsrichtlinien[3] im speziellen kommt, und über welche Kompetenzen die Europäische Union in diesem Themenbereich verfügt. Hierbei handelt es sich um Fragen nach dem Europarecht.

Der Inhalt des deutschen Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) hingegen ist bei einer Erörterung der Zuständigkeiten der EU nur zweitrangig; denn die Umsetzung des europäischen Rechts in deutsches Recht hat nur teilweise etwas mit dem Europarecht zu tun.[4] Hierbei geht es vielmehr um Fragen des deutschen Rechts und vor allem um politische Entscheidungen.

Sofern Günter Bertram sich beklagt, dass es schwierig oder beinahe unmöglich sei, sich über zu weit gehende Antidiskriminierungsvorschriften zu beschweren, ohne gleich als Rassist oder Antisemit zu gelten, so geht es auch hierbei um Fragen der (deutschen) Streitkultur, nicht aber um europäisches Recht.

Europarechtlich fasst Günter Bertram die zentrale Frage wie folgt zusammen: „Kann die EU wirksame Rechtsnormen aufstellen, die so tief wie die fraglichen Richtlinien in nationale deutsche Grundrechte eingreifen?“[5]

Die einfachste Antwort auf diese Frage wäre: Ja, sie kann.[6] „Die EU“ kann in weiten Bereichen Regelungen festlegen, die dann auch für den deutschen Rechtsraum verbindlich sind, und somit auch Auswirkungen auf deutsche Grundrechte haben können.

Mit dieser Antwort ist aber nicht viel gewonnen. Zu klären bleibt, wer denn „die EU“ ist, die da so viel Macht hat. Welche Organe sind beteiligt, wenn „Europa“ entscheidet? Weiterhin gilt es zu klären, welche Kompetenzen und Aufgaben den europäischen Organen übertragen wurden und welche Grenzen der Regelungstätigkeit auf europäischer Ebene gesetzt sind; denn natürlich können die europäischen Organe nicht unbegrenzt tätig werden.

3. Wer entscheidet, wenn „Europa“ Regelungen erlässt?

Ganz grundlegend ist zunächst zu unterscheiden zwischen der Europäischen Union auf der einen und der Europäischen Gemeinschaft auf der anderen Seite. Zwar werden auch im Rahmen der Europäischen Union in bestimmten Bereichen Regelungen erlassen, und solche Regelungstätigkeiten haben in den letzten Jahren stark zugenommen[7], das Europarecht im klassischen Sinne wird jedoch ausschließlich von der Europäischen Gemeinschaft erlassen. Es wird daher auch als „Gemeinschaftsrecht“ bezeichnet, im Gegensatz zum „Unionsrecht“.

An der „europäischen Gesetzgebung“ sind verschiedene Organe der Europäischen Gemeinschaft beteiligt. Zentrales Entscheidungsorgan ist der Rat der Europäischen Union, der auch Ministerrat genannt wird. Die Kommission, als „originär europäisches“ Organ, das in erster Linie die Interessen der europäischen Integration vertritt, hat im Entscheidungsverfahren lediglich ein Initiativrecht. Das Europäische Parlament hat in vielen Bereichen ein Anhörungs-, in den meisten ein Mitentscheidungsrecht. Zwar unterscheiden sich die einzelnen Entscheidungsverfahren, es liegt aber bei allen gleichermaßen die bedeutendste Rolle beim Rat.

Dieser Rat ist dasjenige Organ der Gemeinschaft, welches die Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten repräsentiert. Er setzt sich aus den jeweiligen Fachministern der nationalen Regierungen zusammen. Es wird also keine Regelung erlassen ohne die fundamentale Mitwirkung durch den Rat und damit durch die Vertreter der Mitgliedstaaten. Die meisten Regelungen werden dabei einstimmig oder mit einer großen Mehrheit verabschiedet, so dass an nahezu allen europäischen Regelungen jede einzelne nationale Regierung maßgeblich beteiligt ist.[8]

Dieses Entscheidungsverfahren sollte sich stets vor Augen halten, wer auf die von „Europa“ verabschiedeten Regelungen schimpft. Auch die nationalen Politiker sind immer wieder versucht, die Verantwortung für bestimmte Regelungen auf „die da in Brüssel“ zu schieben, ohne herauszustellen, wer denn da in Brüssel für die verabschiedeten Regelungen verantwortlich ist: die nationalstaatlichen Regierungen nämlich.

Diese sind übrigens auch schon in der Vorbereitung von EG-Verordnungen und –Richtlinien beteiligt, indem sie Vertreter in die entsprechenden Arbeitsausschüsse der Kommission entsenden. Vor deren Entscheidung kennt sie also schon die Auffassung aller nationalen Regierungen zu einem Entwurf und berücksichtigt diese bei ihrem Vorschlag an Rat und Parlament.

Sicherlich führt die Notwendigkeit, bei den Verhandlungen Kompromisse einzugehen, häufig zu Ergebnissen, die von den Idealvorstellungen der einzelnen Regierungen abweichen. Dennoch sind die verabschiedeten Regelungen letztlich das Ergebnis einer klaren Kosten-Nutzen-Rechnung der beteiligten Regierungen: Sie gehen diese Kompromisse nur deshalb ein, weil es sich bei den jeweiligen Regelungen auch für sie um die bestmöglichen Ergebnisse handelt, und nicht etwa, weil sie in irgendeiner Weise dazu verpflichtet wären. Die Kritik an bestimmten Regelungen kann und muss daher in vielen Fällen an die eigenen nationalen Regierungen gerichtet werden, und eben nicht an ein „bürokratisches Europa“.

Gleiches gilt für die genannten Antidiskriminierungsrichtlinien, die auf Grundlage der Artikel 13 bzw. 141 EGV erlassen wurden. Das Verfahren nach Artikel 13 EGV sieht vor, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen kann. Ein Tätigwerden nach Artikel 13 EGV ist also nur durch einstimmigen Ratsbeschluss möglich. Das bedeutet, dass sämtliche Regierungen der Mitgliedsstaaten der Maßnahme zustimmen müssen. Die ablehnende Haltung einer Regierung hätte gereicht, um den Erlass der Richtlinien zu verhindern. Die Richtlinien wurde somit nicht von einem konfusen Gebilde namens EU, sondern ganz konkret von den Regierungen der damals 15 Mitgliedstaaten beschlossen.

Etwas anderes gilt lediglich für die Richtlinie 2002/73/EG. Diese Richtlinie ist gestützt auf Artikel 141 Abs. 3 EGV, welcher hinsichtlich des Entscheidungsverfahrens auf Artikel 251 EGV verweist. Demnach reicht für die Annahme des Rechtsaktes die qualifizierte Mehrheit im Rat, es sind jedoch die Anhörung des Sozial- und Wirtschaftsausschusses und die Zustimmung des Europäischen Parlamentes erforderlich. Auch diese Richtlinie wurde jedoch einstimmig von den Mitgliedstaaten angenommen.

4. Welche Aufgaben und Kompetenzen hat die Europäische Gemeinschaft?

Oberstes Gebot im Bereich des Handelns der europäischen Organe ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, welches in Artikel 5 Absatz 1 des EGV normiert ist. Denn da die EG kein Staat ist und somit über keine eigene Hoheitsgewalt verfügt, kommen ihr nur diejenigen Kompetenzen zu, die ihr durch die Verträge von den Mitgliedstaaten übertragen werden. Die Europäische Gemeinschaft darf nur tätig werden, wenn und soweit sie dazu ausdrücklich ermächtigt ist. Sie darf sich nicht selber zu weiteren Handlungen ermächtigen, hat also keine „Kompetenzen-Kompetenz“.

Wenn die Gemeinschaft dennoch über weit reichende Kompetenzen verfügt, so liegt dies daran, dass ihr von den Mitgliedstaaten solche Kompetenzen ausdrücklich eingeräumt wurden. Dabei führten die positiven Erfahrungen der Vergangenheit dazu, dass die Staaten seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften immer weitere Aufgaben an die EG übertragen haben.

Diese Übertragung findet statt durch den EGV: Die der EG zugewiesenen Aufgaben ergeben sich aus den im Dritten Teil des EGV (Artikel 23 bis 181) aufgeführten Politikfel­dern. Diese Gemeinschaftspolitiken reichen von Freiem Warenverkehr und Freizügigkeit, Wettbewerbsfragen sowie Wirtschaftsund­währungspolitik über Sozial- und Kulturpoli­tik bis hin zu Gesundheitswesen und Ver­braucher­schutz. Im Laufe der Jahre und mit den Änderungen des EGV haben die Mitgliedstaaten weitere Politikfelder in den Aufgabenbereich der EG übertragen, so dass die EG inzwischen Kompetenzen in vielen Bereichen des Lebens hat.

Der Artikel 13 EGV wurde durch den Vertrag von Amsterdam in den EGV eingeführt, um den Schutz vor Diskriminierungen in der Union zu stärken.[9] Die Vorschrift ist dabei im Lichte der Bestimmungen von Artikel 2 und 3 Abs. 2 EGV zu lesen, die verlangen, dass die Gemeinschaft bei allen ihren Tätigkeiten auf die Beseitigung von Ungleichheiten und die Förderung der Gleichstellung von Män­nern und Frauen hinwirkt. Artikel 13 ist nicht unmittelbar anwendbar, sondern er begründet eine Regelungskompetenz des Rates zur Vermeidung und Unterbindung der in Artikel 13 genannten Diskriminierungen. Artikel 13 selbst ist hier die Ermächtigungsgrundlage, und er setzt nicht etwa eine weitere Kompetenzübertragung voraus.

Der Rat handelt gemäß Artikel 13 EGV „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“. Die Vorschrift knüpft damit an die anderweitigen Zuständigkeiten der EG an; insofern handelt es sich um eine Begrenzung auf den Anwendungsbereich des Vertrages. Der Vertrag muss für ein bestimmtes Sachgebiet hoheitliche Maßnahmen der EG zulassen. Von einer Ermächtigungsgrundlage muss dabei kein anderweitiger Gebrauch gemacht worden sein, um Vorkehrungen im Sinne des Artikel 13 einführen zu können. Vorkehrungen gegen Diskriminierungen sind damit in allen Politikbereichen der Gemeinschaft zulässig.

Zusätzlich ergibt sich aus der Formulierung „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen“ eine Subsidiarität des Artikel 13 gegenüber anderen Regelungen. Die Richtlinie 2002/73/ EG, welche die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Beruf regelt, wurde daher auf Grundlage des Artikel 141 Absatz 3 EGV verabschiedet, welcher als speziellere Vorschrift der Ermächtigungsgrundlage des Artikel 13 EGV vorgeht.

5. Wann kann die EG Rechtsakte erlassen?

Die EG erfüllt Aufgaben in zahlreichen Politikbereichen und in all diesen Politikbereichen ist sie auch ermächtigt, Vorkehrungen gegen Diskriminierungen zu treffen. Diese Aufgaben kann sie jedoch nur nach Maßgabe des Vertrages wahrnehmen, denn auch hier ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu beachten. Somit ist auch der Erlass von Rechtsnormen nur dann zulässig, wenn sich dies aus den Regelungen des EGV ergibt. In Artikel 249 EGV heißt es: „Zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe dieses Vertrags erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam, der Rat und die Kommission Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen, sprechen Empfehlungen aus oder geben Stellungnahmen ab.“

Die Rechtssetzung durch die europäischen Organe erfolgt zumeist durch Richtlinien oder Verordnungen. Während Verordnungen unmittelbar geltendes Recht darstellen, sind die Richtlinien an die Mitgliedstaaten gerichtet. Sie verpflichten diese, entsprechende nationalstaatliche Regelungen zu erlassen, die dem mit der jeweiligen Richtlinie bezwecktem Ziel gerecht werden.[10] Ob die EG in einem bestimmten Bereich Verordnungen, Richtlinien oder beides erlassen kann, ergibt sich aus der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage. Aus dieser ergibt sich auch, nach welchem Verfahren die Regelungen erlassen werden.

Der Artikel 13 EGV ermächtigt den Rat, Vorkehrungen gegen Diskriminierungen zu treffen. Der Artikel selbst legt somit kein Diskriminierungsverbot fest, sondern lässt auch an­dere Maßnahmen zu. Der Begriff der Vorkehrungen umfasst die Rechtssetzung, er geht aber darüber hinaus.[11] Weiterhin bleibt es dem Rat frei gestellt, ob er überhaupt eine Maßnahme auf Grundlage des Artikel 13 EGV ergreift. Sofern der Rat sich zum Erlass von Rechtsvorschriften entschließt, steht es in seinem Ermessen, ob er diese in Form von Richtlinien oder Verordnungen verabschiedet.

Die Antidiskriminierungsregelungen wurden in Form von Richtlinien erlassen. Die Bundesregierung ist also dazu verpflichtet, die Vorgaben gesetzgeberisch umzusetzen. Dabei hat sie die Ziele der Richtlinien zu beachten, ist aber bei der Wahl der Mittel zur Erreichung dieser Ziele frei. Ausdrücklich enthalten die jeweiligen Richtlinien eine Regelung, nach der es den Mitgliedstaaten unbenommen bleibt, „Vorschriften einzuführen oder beizubehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in den Richtlinien „vorgesehenen Vorschriften sind“[12].

Selbst wenn für einen Aufgabenbereich eine generelle Zuständigkeit besteht und auch eine Ermächtigungsgrundlage zum Erlass von Rechtsvorschriften vorhanden ist, darf die Gemeinschaft nicht unbegrenzt tätig werden: Denn ein weiteres Prinzip ist das von Günter Bertram schon angesprochene Subsidiaritätsprinzip.[13] Dieses Prinzip wurde in Artikel 5 Abs. 2 und 3 in den EGV aufgenommen, um angesichts der ständig wachsenden Aufgabenfelder einer extensiven Handhabung von EG-Kompetenzen zu entgegnen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip darf die Gemeinschaft auch bei Vorliegen einer Kompetenz nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

Das Subsidiaritätsprinzip ist dann nicht verletzt, wenn in der ganzen Gemeinschaft Diskriminierungen bekämpft werden; denn diese Rechtseinheit könnte ein einzelner Staat nicht herstellen. Diese Voraussetzung muss zudem auch im Zusammenhang mit dem Entscheidungsverfahren gesehen werden: Wenn die Mitgliedstaaten einer Regelung, wie beispielsweise einer Antidiskriminierungs-Richtlinie, geschlossen zustimmen, so ist anzunehmen, dass eine solche Regelung einheitlich für erforderlich gehalten wurde.

Aus all dem ergibt sich, dass es eine Generalermächtigung im Rahmen des Europarechtes gerade nicht gibt, und dass ein Rückgriff auf eine solche Generalermächtigung zum Erlass der Antidiskriminierungsrichtlinien auch nicht notwendig war. Es ist daher müßig, die Frage nach der Vereinbarkeit einer solchen Generalermächtigung mit der deutschen Verfassung zu stellen, oder zu prüfen, ob die Herleitung einer solchen Generalermächtigung durch eine Wertegemeinschaft gerechtfertigt sein kann.[14]

Wenn in den Begründungserwägungen der Richtlinie auf deren Nutzen eingegangen wird, so ist dies kein Versuch, die Richtlinie auf eine Generalermächtigung zu gründen. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine in Artikel 253 EGV vorgeschriebene Praxis, die es erleichtern soll, Rechtsgrundlagen, Verfahren und gerade auch die Notwendigkeit der Regelung im Hinblick auf das Prinzip der Subsidiarität zu überprüfen.

6. Regelungen der Antidiskriminierungs-

Richtlinie

Eine andere Frage ist die nach der inhaltlichen Ausgestaltung der Antidiskriminierungs-Richtlinie. Um zu klären, inwieweit die Vorgaben der europäischen Richtlinien in deutsche Grundrechte eingreifen, sind zunächst die europarechtlichen Vorgaben von den Regelungen der deutschen Umsetzung zu trennen. Die Tiefe eines Grundrechtseingriffs dieser Vorgaben ist in weiten Teilen an die Frage geknüpft, ob und in wie weit der Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien vom 16.12.2004 in der Fassung nach den Änderungsanträgen vom 15.03.2005 über den Inhalt der Richtlinien hinaus geht. Beispielsweise verlangen die EG-Richtlinien ein zivilrechtliches Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse, der ethnischen Herkunft und des Geschlechts – die Umsetzung durch das ADG weitet die Verbote auf Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität und Geschlecht aus. Eine Schadensersatzsatzpflicht wird von den EG-Richtlinien nur für die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gefordert, nicht aber für andere Diskriminierungstatbestände.

Auch die europäischen Vorgaben enthalten jedoch in vielen Fällen klare Diskriminierungsverbote. Diese sind dem deutschen Recht im Prinzip aber nicht fremd; vielmehr knüpfen die Antidiskriminierungsrichtlinien an bewährte Strukturen des deutschen Rechtes an[15].

Damit greifen die Richtlinien, wenn auch mittelbar, in Grundrechte ein, beispielsweise in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Vertragsfreiheit; andere Aspekte werden darüber hinaus von speziellen Grundrechten wie Art. 12 Abs.1 und Art. 14 GG erfasst. Solche Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte bedürfen einer Rechtfertigung, welche sich im Falle der Antidiskriminierungsregeln jedoch aus den in Art. 3 Abs. 3 GG und ebenso Art. 9 Abs. 3 GG getroffenen Bestimmungen ergibt. Art. 9 Abs. 3 GG untersagt mit unmittelbarer Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber eine Benachteiligung eines Arbeitnehmers wegen seiner Gewerkschaftsmitgliedschaft. Solche Begrenzungen der Vertragsfreiheit zur Sicherung der Vertragsfreiheit des anderen sind dem deutschen Recht also nicht fremd. Vielmehr ist es so, dass die Ausbalancierung der Freiheitsrechte der am Vertragsschluss Beteiligten schon immer zu den Aufgaben des Zivilrechts gehörte.

Die Vorgaben enthalten damit Regelungen, die Auswirkungen auf den Zivilrechtsverkehr haben. Dies ist jedoch dem deutschen Recht nicht fremd. Auch in anderen Bereichen werden Selbstbestimmung und Privatautonomie eingeschränkt, um andere rechtliche Grundsätze zu wahren. Ebenso ist übrigens auch die Einführung von Beschwerdestellen dem deutschen Recht nicht gänzlich fremd. So gibt es beispielsweise seit langem auch in Deutschland Beauftragte für Datenschutz, für Menschen mit Behinderungen oder für Ausländer.

7. Fazit

Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine Kritik an europarechtlichen Regelungen häufig angebracht, und natürlich immer erwünscht ist. Es muss dabei jedoch stets sauber getrennt werden, auf welche Vorgänge sich eine solche Kritik bezieht. Im Falle des ADG ist ein großer Teil der Kritik gegen die deutsche Politik gerichtet. Hinsichtlich der europarechtlichen Grundlage der Regelungen bestehen – auch aus der Sicht des Grundgesetzes ­– keine Bedenken.

 

Hans Arno Petzold, Jennifer Seel, Anne Edelhoff, Britta D. Siefken

(Info-Point Europa Hamburg)


 

[1] Näheres ist geregelt in der Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, Amtsblatt Nr. L-145 vom 31.05.2001, S.43ff.

[2] Auf den Seiten der EU unter www.europa.eu.int gelangt man über die Registerkarte Dokumente zu „Eur-Lex“, dem Portal zum Recht der EU. Durch Angabe von Nummer, Datum oder Suchbegriff findet man dort sämtliche Richtlinien und Verordnungen, aber auch Urteile des EuGH und weitere Dokumente.

[3] Es handelt sich im einzelnen um die Richtlinien 2000/43/EG (Rasse und ethnische Herkunft) vom 29.06.2000, 2002/73/EG (Männer und Frauen) vom 13.09.2002, 2000/78/ EG (Beschäftigung und Beruf) vom 27.11.2000 sowie 2004/113/EG vom 13.12.2004.

[4] Wie Günter Bertram selbst hervorhebt, geht es in weiten Teilen der Diskussion in Deutschland um diejenigen Regelungen, die gerade über die Umsetzungen der europäischen Vorgaben hinausgehen. 

[5] Auf die hiermit ebenfalls aufgeworfene Frage, wie tief die genannten Richtlinien wirklich in das deutsche Recht eingreifen, soll später eingegangen werden.

[6] Dabei muss man allerdings darüber hinwegsehen, dass es die EG, nicht aber die EU ist, die solche Regelungen erlässt.

[7] Beispielsweise werden im Rahmen der EU Regelungen in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie im Rahmen der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erlassen. Hier ergehen Regelungen in Form von Übereinkommen oder Rahmenbeschlüssen.

[8] Dabei wird, um die demokratische Legitimation der Entscheidungen zu stärken, auch die Beteiligung der nationalen Parlamente sichergestellt. Diese Rückbindung wurde im Vertrag von Amsterdam 1997 durch das „Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union“ ausdrücklich geregelt und ist im Übrigen auch im deutschen Grundgesetz in Artikel 23 verankert.

 

[9] Um den zweiten Absatz wurde er durch den Vertrag von Nizza ergänzt.

[10] Der EuGH hat jedoch festgestellt, dass in einigen Ausnahmefällen auch Richtlinien eine unmittelbare Wirkung entfalten können.

[11] Insoweit muss das Politikfeld beachtet werden, in dem Maßnahmen getroffen werden sollen: Ist in diesem Politikbereich keine gemeinschaftliche Rechtssetzung vorgesehen, wohl aber andere Maßnahmen, so sind auch bei der Bekämpfung von Diskriminierungen lediglich Vorkehrungen dieser Art erlaubt. Zum Beispiel hat die EG im Bereich der Kultur (Art. 151 EGV) keine Rechtsetzungskompetenz. Daher darf der Rat dort auch keine Rechtsnormen gegen Diskriminierungen erlassen. Vorkehrungen gegen Diskriminierungen in Gestalt von Fördermaßnahmen (oder Verweigerung von Fördermaßnahmen) sind aber gestattet.

[12] z.B. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43/EG vom 29.06.2000.

[13] Dieses Prinzip erfährt durch den Verfassungsentwurf eine Stärkung, indem der Entwurf eine Klagemöglichkeit der nationalen Parlamente vorsieht, sich an den EuGH zu wenden, sofern sie das Subsidaritätsprinzip nicht eingehalten sehen.

[14] Die europäische Wertegemeinschaft gilt als Argument für eine verstärkte Integration, dem Begriff kommt jedoch kein normativer Charakter zu.

[15] Das Betriebsverfassungsgesetz, das Personalvertretungsgesetz, das Bundesbeamtengesetz und das Soldatengesetz enthalten Diskriminierungsverbote, die Art. 3 Abs. 3 GG nachgebildet sind: § 75 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (Grundsätze für die Behandlung der Betriebsangehörigen), § 67 Abs. S. 1 BPersVG (Grundsätze für die Behandlung der Beschäftigten), § 7 BRRG (Handhabung der Ernennung), § 8 Abs. 1 S. 1 BBG (Auslese der Bewerber),§ 3 Soldatengesetz (Ernennungs- und Verwendungsgrundsätze).

Diskriminierungsverbote im BGB: § 611a BGB verbietet nur die geschlechtsbezogene Diskriminierung von Arbeitnehmern durch Arbeitgeber. Die Vorschrift dient der Umsetzung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen vom 09.02.1976 (Amtsbl. EG Nr. L 39/40). Da die Struktur dieser älteren Richtlinie nicht der Struktur der neuen Richtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG entsprach, haben das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie 76/207/EWG durch die Richtlinie 2002/73/EG vom 23.09.2002 (Amtsbl. EG L 269/15) an die neuen Richtlinien angepasst. Die Änderungen müssen von den Mitgliedstaaten bis zum 05.10.2005 umgesetzt werden. § 611a BGB entspricht bereits den Anforderungen der geänderten Richtlinie. Die Vorschrift braucht deshalb nur noch um das Verbot der Benachteiligung wegen der sexuellen Identität erweitert zu werden.