(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/05, 28) < home RiV >

Europa für Fortgeschrittene

- Fortbildungsfahrt zu den Europäischen Institutionen -

 

”Europa ist ein ubiquitäres Phänomen”1

 

22 interessierte Kolleginnen und Kollegen des Höheren Polizeidienstes, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte machten sich gemeinsam auf den Weg, um Europa zu entdecken, und zwar vom 17. bis zum 21. Oktober 2005 auf der Studienreise des Hanseatischen OLG, der Justizbehörde Hamburg und des Info-Point Europa zu Europäischen Institutionen nach Trier, Luxemburg, Brüssel und Den Haag.

 

1. Tag: ERA in Trier

In Trier angekommen ging es gleich zur Europäischen Rechtsakademie (ERA), wo wir von dem stellvertretenden Direktor und Chef der Marketingabteilung Luc Doeve sehr freundlich empfangen wurden. Mit einer kleinen Powerpoint-Präsentation brachte er uns die Europäische Rechtsakademie nahe.

Die Europäische Rechtsakademie in Trier nahm ihre Tätigkeit im März 1992 auf. Ziel der Einrichtung ist es, Anwälte, Richter und andere Rechtsanwender aller Ebenen und fast aller Rechtsgebiete regelmäßig über die Entwicklung im Europarecht fortzubilden und ein Diskussionsforum zu bieten. Gründungsstifter der Akademie sind das Großherzogtum Luxemburg, das Land Rheinland-Pfalz und die Stadt Trier, später sind fünfzehn weitere EU-Mitgliedstaaten der EU der Stiftung beigetreten, zusammen mit allen deutschen Ländern und der Sparkasse Trier2.

 

2. Tag: EuGH und Abendessen in Brüssel

Am Morgen des zweiten Tages ging es zeitig weiter nach Luxemburg. Dort wurde uns nach Ankunft am EuGH von einem Mitarbeiter der deutschen Generalanwältin Dr. Juliane Kokott die Arbeitsweise des Gerichtshofes erläutert.

Der Europäische Gerichtshof besteht aus 25 Richtern und acht Generalanwälten, die von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen auf sechs Jahre ernannt werden, und die unter sich für jeweils drei Jahre einen Vorsitzenden wählen. Der Gerichtshof kann als Plenum, als Große Kammer mit dreizehn Richtern oder durch Kammern mit drei oder fünf Richtern entscheiden. Er tagt als Große Kammer, wenn ein Mitgliedstaat oder ein Gemeinschaftsorgan als Partei des Verfahrens dies beantragt, sowie in besonders komplexen oder bedeutsamen Rechtssachen. In den übrigen Rechtssachen obliegt die Entscheidung den Kammern mit drei oder fünf Richtern.

Aufgabe des Gerichtshofes ist es, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften sowie der von den zuständigen Gemeinschaftsorganen erlassenen Vorschriften zu sichern. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, wurde der Gerichtshof mit umfassenden Rechtsprechungsbefugnissen ausgestattet, die er im Rahmen verschiedener Klagearten ausübt. Der Gerichtshof ist zuständig für die Entscheidung über Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklagen eines Mitgliedstaats oder eines Organs, Vertragsverletzungsklagen gegen Mitgliedstaaten, Vorabentscheidungsersuchen und Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Gerichts Erster Instanz.

Eine besondere Bedeutung kommt im Gemeinschaftsrecht dem Vorabentscheidungsverfahren zu. Der Gerichtshof ist zwar der oberste Hüter des Rechts in der Gemeinschaft, nicht aber das einzige Gericht, das das Gemeinschaftsrecht anwendet. Diese Aufgabe obliegt insoweit auch den nationalen Gerichten, als die Durchführung des Gemeinschaftsrechts, die im Wesentlichen Sache der mitgliedstaatlichen Verwaltungsorgane ist, ihrer Kontrolle unterworfen bleibt. Zudem verleihen viele Bestimmungen der Verträge und des abgeleiteten Rechts den Bürgern der Mitgliedstaaten unmittelbar Rechte, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten haben. Somit sind die Gerichte der Mitgliedstaaten ihrem Wesen nach die ersten Garanten des Gemeinschaftsrechts. Um eine wirksame und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen und divergierende Auslegungen zu verhindern, können und müssen nationale Gerichte sich an den Gerichtshof wenden und ihn um eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts bitten, um etwa die Vereinbarkeit ihrer nationalen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht prüfen zu können.

Mehr als die Hälfte der Verfahren vor dem EuGH sind Vorabentscheidungsverfahren, deren durchschnittliche Verfahrensdauer etwa 20 Monate beträgt. Verschiedene tragende Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sind auf diese Weise aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen - zum Teil erstinstanzlicher Gerichte - vom Gerichtshof festgestellt worden.

Besonders interessierte die Richter aus unserer Gruppe das Verfahren, nach dem die Fälle den einzelnen Kammern zugeordnet werden; denn dem deutschen Prinzip des gesetzlichen Richters wird vor dem EuGH nur teilweise Rechnung getragen. Einzige Regelung ist, dass - sofern bei dem Fall ein Mitgliedstaat involviert ist - der Richter aus dem betreffenden Staat nicht an dem Verfahren beteiligt ist. Abgesehen davon werden die rund 500 Eingänge pro Jahr ohne feste Regelung auf die Kammern verteilt. Dabei wird jedoch das Prinzip der Konnexität beachtet: einem Richter, der eine Materie bereits mehrfach bearbeitet hat, werden auch weiterhin Fälle aus diesem Bereich zugeteilt. So kommt es in gewissem Umfang zu einer Spezialisierung, grundsätzlich sollen jedoch alle Richter alle Rechtsgebiete bearbeiten können, damit garantiert ist, dass der Blick fürs ganze gewahrt wird.

Auch die Rolle des Generalanwaltes am Europäischem Gerichtshof interessierte, da diese Figur dem deutschen Verfahren unbekannt ist. Die Generalanwälte unterstützen den Gerichtshof bei der Erfüllung seiner Aufgaben, sie stellen in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit öffentlich Schlussanträge zu allen Rechtssachen. Ihre Aufgabe darf nicht mit der eines Staatsanwalts oder einer vergleichbaren Institution verwechselt werden.

 

Nach dem Einführungsgespräch hatten wir die einmalige Gelegenheit, an einer Verhandlung des Gerichtshofes teilzunehmen. Aber nicht nur das, wir hatten auch noch das Glück, der Verhandlung in einem ausgesprochen interessanten und spannenden Fall beizuwohnen: es ging um die Frage der Rechtmäßigkeit eines Abkommens über die Übermittlung von Flugpassagierdaten, welches Kommission und Rat mit den Vereinigten Staaten geschlossen haben (Rs C-317/04 und C-318/04).

Die US-Behörden erhalten hiernach nicht nur Informationen darüber, wer wann wohin fliegt, sondern beispielsweise auch, wie die Reise bezahlt wurde, welche Passagiere nebeneinander sitzen, und welches Essen sie auf dem Flug bestellt haben. In der Verhandlung wurde vor allem thematisiert, dass diese Übermittlung nach dem „Pull-Prinzip“ verläuft: Die amerikanischen Behörden können auf die Daten selbständig zugreifen, so dass auf europäischer Seite niemand wirklich nachvollziehen kann, welche Daten übermittelt werden, wie lange diese Daten gespeichert werden und an wen sie weitergegeben werden. Das Europäische Parlament sieht in dieser Vorgehensweise einen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, außerdem würden wesentliche Grundsätze der Europäischen Datenschutz-Richtlinie missachtet[1]. Jedoch gab es damals kaum Alternativen. Wenn das Abkommen nicht zustande gekommen wäre, hätten die europäischen Fluggesellschaften nicht mehr in die USA fliegen können.

Anschließend hatten wir die Gelegenheit, mit zwei Mitarbeitern der deutschen Generalanwältin, Thomas Henze und Dr. Christoph Sobotta, über den Fall, die Arbeitsweise des Gerichtshofes und aktuelle Rechtsentwicklungen im Europäischen Strafrecht zu diskutieren. Hinsichtlich der gerade gehörten Verhandlung interessierte vor allem die Rolle des Europäischen Datenschutzbeauftragten als Streithelfer in dem Verfahren. Es war bislang nicht unumstritten, ob der Datenschutzbeauftragte überhaupt einem Verfahren vor dem EuGH beitreten kann[2]. Da jedoch in seinem Statut in Artikel 47 Abs. 1 lit. i) geregelt ist, dass er einem beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängigen Verfahren beitreten kann, hat die Kammer des EuGH seine Streithelferschaft in diesem Fall erstmalig zugelassen.

Besondere Aufmerksamkeit fand auch die Tatsache, dass sich der EuGH in den letzten Jahren verstärkt auch Fällen im Bereich des Steuerrechtes angenommen hat. Herr Sobotta betonte allerdings, dass es sich hierbei nicht um eine rechtlich neue Entwicklung handele, sondern der EuGH nun die schon lange geltenden Grundfreiheiten auch im Steuerrecht anwende. Hierauf ist nur deshalb soviel Aufmerksamkeit gerichtet, weil die Entscheidungen in diesem Bereich enorme budgetäre Konsequenzen für die Mitgliedstaaten haben können.

Zum Abschluss nahm Herr Sobotta noch zu den neuesten Entwicklungen im Strafrecht Stellung und berichtete der Gruppe von einem Urteil des Gerichtshofs vom Juni 2005. In dieser Entscheidung (Rechtssache C-105/03 „Pupino“) ging es um die Auslegung eines Rahmenbeschlusses des Rates zum Opferschutz. Während im Rahmen des Gemeinschaftsrechtes schon lange eine “richtlinienkonforme“ Auslegung des nationalen Rechts gilt, war die Reichweite der Rahmenbeschlüsse bisher unbestimmt. Der EuGH führte im Fall Pupino nun aus, dass nationale Gerichte sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und ihre Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrichten müssen[3]. Damit stellte der EuGH klar, dass das nationale Recht auch “rahmenbeschlusskonform” ausgelegt werden muss.

Nach dem Besuch beim EuGH und vor der Weiterreise nach Brüssel bestand noch Gelegenheit, einen kleinen Bummel durch das Städtchen Luxemburg zu unternehmen, das mit seiner von großen Gräben geprägten Landschaftsarchitektur auf jeden Fall eines kleinen Rundganges wert ist.

 

Anschließend ging es weiter nach Brüssel, wo uns der Hamburger Europa-Abgeordnete Dr. Georg Jarzembowski zu einem edlen Abendessen empfing. Herr Jarzembowski sitzt seit 1991 für die Hansestadt im Parlament, ist dort im Mitglied im Vorstand der EVP-ED-Fraktion und Koordinator seiner Fraktion im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr.

Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung und seiner Mitarbeit in zahlreichen Ausschüssen des Europäischen Parlamentes konnte er uns viel von der parlamentarischen Arbeit in Brüssel berichten. Außerdem erläuterte er als einer der maßgeblichen Verkehrspolitiker die Haltung des Europäischen Parlaments zu dem am Vortag beim EuGH verhandelten Verfahren. Dabei wurde deutlich, dass die Abgeordneten durchaus unterschiedliche Auffassungen vertreten und die Klageerhebung nur mit einer nicht sehr großen Mehrheit beschlossen worden war. Diskutiert wurde unter anderem über die gerade abgeschlossene und die kommende Erweiterung der EU, die europäische Innen- und Außenpolitik, den Europäischen Haftbefehl und natürlich die Frage nach der Zukunft der Verfassung. Zu all diesen teils umstrittenen Themen hat Herr Jarzembowski uns sehr ausführlich den Standpunkt seiner Fraktion dargelegt.

 

3. Tag: Europäische Kommission, Parlament und Hanse-Office

 

Am dritten Tag stand zunächst ein Besuch bei der Europäischen Kommission auf dem Programm. Im Kommissionsgebäude angekommen, wurden wir in einen Sitzungssaal geführt, um zunächst etwas über den Juristischen Dienst der Kommission zu erfahren. Etwas verspätet wegen des Brüsseler Verkehrschaos erschien Frau Sabine Grünheid, Mitglied des Juristischen Dienstes der Kommission.

Die Rolle des Juristischen Dienstes ist es, die Kommission und deren Dienststellen in rechtlichen Fragen intern zu beraten und die Kommission vor Gericht zu vertreten. Der juristische Dienst unterstützt die Kommission bei ihren vier wichtigsten Aufgaben: bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften, bei internationalen Verhandlungen, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgabe als „Hüterin der Verträge“ und bei der Ausübung der Durchführungsbefugnisse. Damit er seine Aufgaben ordnungsgemäß wahrnehmen kann, werden dem Juristischen Dienst alle Dokumente, die dem Kollegium der Kommis­sionsmitglieder zu unterbreiten sind, zur Stellung vorgelegt. Nur der Juristische Dienst ist bevollmächtigt, die Kommission beim Gerichtshof, dem Gericht Erster In­stanz, dem EFTA-Gerichtshof, sowie der GATT- und WTO-Arbitrageinstan­zen zu ver­treten. Dem Juristischen Dienst gehören Ju­risten aus allen Mitgliedstaaten an, so dass alle Rechtsordnungen und Gemeinschafts­sprachen abgedeckt sind. Er ist für die Kommission von großer Bedeutung und un­tersteht daher unmittelbar dem Präsidenten der Kommission. Der Generaldirektor des Juristischen Dienstes bzw. der stellvertre­tende Dienst-Generaldirektor nimmt von Amts wegen an der wöchentlichen Kommis­sionssitzung teil.

Danach ging es um die Generaldirektion Justiz, Freiheit und Sicherheit. Herr Jacques Verraes, Hauptverwaltungsrat in der Delegation Justiz, Freiheit und Sicherheit, ist schwerpunktmäßig mit dem Ausbau der EU-Sicher­heitspolitik im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit beauftragt.

Derzeit ist die Europäische Kommission dabei, ein strategisches Konzept zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität auf EU-Ebene zu entwickeln, welches in nächster Zeit vorgelegt werden soll. Vorgesehen sind hierbei Maßnahmen, die ein besseres Verständnis der Organisierten Kriminalität ermöglichen und Prävention, Strafverfolgung und Zusammenarbeit innerhalb der EU stärken. Die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität erfordert eine bessere Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden sowie eine volle Inanspruchnahme der Leistungen von Europol und Eurojust und deren weiteren Ausbau. Im Rahmen einer einheitlichen Strategie muss aber auch eine intensivere Zusammenarbeit mit Drittländern und internationalen Organisationen als vorrangig betrachtet werden.

Herr Verraes machte genauere Ausführungen zur Entwicklung des sog. Verfügbarkeitsprinzips, welches wichtiger Bestandteil eines im Oktober 2005 von der Kommission vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses ist. Das mit dem Haager Programm entwicklete Verfügbarkeitsprinzip besagt, dass Informationen, die die Behörden eines Mitgliedstaats zu Strafverfolgungszwecken benötigen, unter bestimmten Voraussetzungen von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats bereitgestellt werden. Die Kommission wird entsprechende Vorschläge ausarbeiten, die auch die Möglichkeit einer gegenseitigen Abfrage einzelstaatlicher Datenbanken einschliessen. Beim Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungs- und Justizbehörden gelte es, das richtige Verhältnis zwischen Datenschutz und Sicherheit zu finden.

 

Abgeschlossen wurde unser Besuch bei der Kommission mit einem Abstecher in das Zivilrecht. Die deutsche Kommissionsmitarbeiterin Katja Lenzing führte uns in die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen ein.

Bei der justiziellen Kooperation in Zivilsachen handelt es sich nicht nur um eine Zusammenarbeit, sondern um ein eigenständiges europäisches Rechtsgebiet, sozusagen die europäische Ergänzung zum IPR. Ein Europäischer Rechtsraum ist mehr als nur ein Binnenmarkt, sondern auch ein Raum, in dem effektiver Rechtsschutz gewährleistet wird, um gerichtliche Entscheidungen zu erwirken und vollstrecken zu lassen.

Im Vertrag von Amsterdam wurde die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen zu einer Politik der europäischen Gemeinschaft erhoben, eng verbunden mit dem freien Personenverkehr. Auf dem EU-Gipfel von Tampere 1999[4] wurden vom Europäischen Rat drei Prioritäten festgelegt, die in den nächsten Jahren angestrebt werden sollen: die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, eine bessere Schadenskompensation für Opfer von Verbrechen und vermehrte Angleichungen im Bereich des Zivilrechts.

Im Bereich des Verfahrensrechtes ist vor allem die in die EuGVO umgesetzte Verordnung 44/2001 („Brüssel I“) wichtig, die das Brüsseler Abkommen von 1968 modernisiert und Regelungen über gerichtliche Zuständigkeit, europäische Rechtshängigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung enthält. Die Verordnung gilt in fast allen Mitgliedstaaten, lediglich im Verhältnis zu Dänemark gilt das Brüsseler Abkommen fort.

Ganz aktuell ist der Europäische Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen (VO 805/2004), der das Exequaturverfahren in diesem Bereich ablöste und am 21.10.2005 in Kraft getreten ist.[5] Daneben gibt es Regelungen über die Zustellung von Schriftstücken (VO 1348/2000) und über die Beweisaufnahme (VO 1206/2001). Die Verordnung über die Zustellung von Schriftstücken schafft Übermittlungs- und Empfangsstellen, wobei für Dänemark das Haager Zustellungsübereinkommen Geltung findet. Im Gesetzgebungsverfahren befindlich und stark umstritten sind Regelungen über das Europäische Mahnverfahren, innerhalb dessen eine vereinfachte und beschleunigte Durchsetzung von unbestrittenen Forderungen vorgesehen ist, und über die vereinfachte Vollstreckung von geringfügigen Forderungen, bei denen ein beschleunigtes Verfahren geplant ist.

 

Ohne eine wirkliche Verschnaufpause ging es nach diesem inhaltsgeladenem Vormittag weiter in das gegenüberliegende Gebäude des Europäischen Parlaments. Ein Höhepunkt (!) der Reise war das Essen in der dortigen Kantine. Vor dem Treffen mit dem Abgeordneten Lehne konnten wir noch einen Blick in den Plenarsaal werfen. Dort wurden uns vom Kollegen Beckedorf Aufbau und Arbeitsweise dieses weltweit größten multinationalen Parlamentes erklärt.

Im Europäischen Parlament sitzen derzeit 732 Abgeordnete, die die Interessen von 457 Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus 25 Nationen vertreten. Seit 1979 wird das Parlament direkt gewählt. Sein Sitz ist Straßburg; hier sind pro Jahr 12 Plenarsit­zungen angesetzt. In Brüssel finden Aus­schuss­sitzun­gen und Fraktionssitzungen statt und manchmal auch Plenarsitzungen. In jeder Sitzung werden die Beiträge der Parlamentarier simultan in die 20 Amtsspra­chen der EU übersetzt.[6]

Im Anschluss wurden wir sehr freundlich von dem Europaabgeordneten Klaus-Heiner Lehne, empfangen, der uns einen Einblick in seine politischen Tätigkeiten und die aktuellen Gesetzgebungsverfahren gewährte. Herr Lehne, seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments, ist Mitglied und Koordinator der EVP/ED-Fraktion im Rechtsausschuss.

Wie in den meisten nationalen Parlamenten findet ein Großteil der eigentlichen inhaltlichen Arbeit abseits der Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten in thematisch organisierten Ausschüssen statt. Insgesamt gibt es zur Zeit 20 ständige Ausschüsse. Im Rechtsausschuss des Europäischen Parlamentes, dem sog. JURI-Ausschuss, werden sämtliche rechtlichen Themen behandelt; außerdem vertritt er das Europäische Parlament bei Verfahren vor dem EuGH. Die Themen, mit denen sich der Ausschuss beschäftigt, sind daher sehr vielfältig. Er befasst sich unter anderem mit der Auslegung und Anwendung des Europa­rechts, dem Schutz der Rechte und Vorrechte des Parlaments sowie mit den gemeinschaftlichen Rechtsakten in ganz verschiedenen Rechtsgebieten. Außerdem werden im Rechtsausschuss interne Rechtsfragen besprochen, wie das Abgeordnetenstatut und das Statut des Personals der Europäischen Gemeinschaften sowie der Aufbau und die Satzung des Gerichtshofs. Aktuell wird im Rechtsausschuss über eine Novellierung der 4. und 7. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie nachgedacht.

In der Diskussion wurde erneut das Luftverkehrsabkommen mit den USA angesprochen, zu dem die Abgeordneten des Rechtsauschusses eine sehr viel kritischere Haltung einnehmen als ihre Kollegen aus dem Verkehrsausschuss.

Am Abend dieses langen Tages stand dann auch noch ein Besuch beim Hanse-Office auf dem Programm. Die Vertretung Hamburgs und Schleswig-Holsteins liegt in Brüssel in zentraler Lage in direkter Nähe des Europäischen Parlamentes, übrigens gleich neben dem Haus der Bremer Vertretung. Dort empfing uns Roland Freudenstein, einer der zwei Leiter der Einrichtung, die er uns mit einer Power-Point-Präsentation vorstellte.

Insgesamt arbeiten im Hanse-Office zehn aus Hamburg und Schleswig-Holstein entsandte Referenten, um die Interessen der beiden Länder bei der EU und ihren Institutionen zu vertreten. Dabei decken sie ganz verschiedene Themen ab, von Rechts- und Wirtschaftspolitik über Regional-, Sozial- und Umweltpolitik bis hin zu Forschung und Wissenschaft. Und auch der Kultur nehmen sich unsere Vertreter an. Im letzten Jahr veranstaltete das Hanse-Office beispielsweise das Konzert „Dominique Horwitz singt Jacques Brel“.

 

4. Tag: Besuch bei Eurojust in Den Haag

 

An unserem vierten Reisetag wurden wir im „Allerheiligsten von Eurojust“ herzlich empfangen - so bezeichnet der als deutsche Vertreter bei Eurojust tätige Bundesanwalt Hermann von Langsdorff den im 10. Stock gelegenen Plenarsaal. Herr von Langsdorff, der vor seiner Ernennung zum Bundesanwalt im Jahre 1998 seit 1991 als Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof tätig war, erläuterte zunächst die Entstehung und die Aufgaben von Eurojust.

Bereits im Dezember 2000 beschloss der Rat die Errichtung eines Runden Tisches von Strafverfolgern aus allen Mitgliedstaaten. Diese vorübergehend eingerichtete Form der Zusammenarbeit nannte sich Pro-Eurojust und nahm ihre Arbeit am 1. März 2001 auf. Bereits im November des Jahres hatte sie mehr als 180 Fälle bearbeitet, so dass der Rat am 28. Februar 2000 auf der Grundlage der Tampere-Vereinbarungen von 1999 die Einrichtung von Eurojust zur verstärkten Bekämpfung schwerer Kriminalität beschloss. Aufgabe von Eurojust ist es, die Zusammenarbeit der nationalen Staatsanwaltschaften zu fördern und die Erledigung von internationalen Rechtshilfe- und Auslieferungsersuchen erleichtern. Eurojust ist zuständig für die Koordinierung, wenn Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen bei bestimmten Delikten der schweren bzw. Organisierten Kriminalität mehrere Mitgliedstaaten betreffen. Eigene Ermittlungskompetenzen besitzt Eurojust dagegen nicht. Die nationale Rechtsgrundlage für die Zusammenarbeit auf deutscher Seite ist das Eurojustgesetz (EJG). Das jährliche Budget von Eurojust beträgt ca. 13,2 Mio Euro. Im Jahre 2005 bearbeitete Eurojust bereits knapp 500 Fälle, an denen Deutschland mit einer Anzahl von ca. 170 beteiligt war. Beachtlich ist dabei die Erfolgsquote im Hinblick auf die Gesamtzahl der von Eurojust bearbeiteten Fälle: Bei insgesamt 1000 eingegangenen Fällen konnte lediglich in vier Fällen den Anfragenden gar nicht weitergeholfen werden. Kontrolliert wird die Arbeit von Eurojust von dem sog. Joint Supervisory Board, das aus 25 Richtern aus den EU-Mitgliedstaaten besteht[7].

Herr von Langsdorff ist seit den Anfängen von Eurojust dabei, und so konnte er viele spannende Anekdoten aus dieser Zeit zum Besten geben. Die Polizisten und Staatsanwälte aus unserer Gruppe interessierte natürlich insbesondere, wie man sich in der Praxis mit Anfragen an Eurojust wenden kann, wenn es beispielsweise im Rahmen von grenzüberschreitenden Ermittlungen Probleme gibt. Diese Kontaktaufnahme funktioniert relativ einfach: da es kein formelles Verfahren gibt, reicht es, das Problem der jeweiligen nationalen Kontaktperson per Telefon zu beschreiben und relevante Daten dann per Fax zuzusenden. Das Eurojustgesetz sieht vor, dass sich ermittelnde Staatsanwälte und - bei Gefahr im Verzug - auch Polizeibeamte an Eurojust wenden können. In letzter Zeit konnte Eurojust behilflich sein bei den Ermittlungen gegen Betrüger, zum Beispiel im Bereich von so genannten Time-Sharing-Verträgen oder Mehrwertsteuerkarussellen, und bei der Aufdeckung internationaler Autoschieberbanden.

5. Tag: Besuch bei Europol

Letzte Station unserer Reise war Europol (European Police Organisation), die Zentralstelle für den Informationsaustausch und die Verbrechensanalyse ohne exekutive Befugnisse. Dort wurden wir von Rainer Wenning, Corporate Communications Europol, mit einem Vortrag über Organisation und Aufgabenstellung von Europol begrüßt.

Die Einrichtung einer europäischen Polizeibehörde wurde im Vertrag von Maastricht am 07.02.1992 festgeschrieben. Europol nahm seine Tätigkeit vollständig am 01.07.1999 auf. Europol hat vorrangig die Aufgabe, die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung internationaler Schwerkriminalität zu verbessern. Dazu sammelt, analysiert und speichert Europol Informationen der Mitgliedstaaten zu Bereichen der Organisierten Kriminalität. Europol erleichtert den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, unterrichtet sie über Zusammenhänge zwischen Straftaten und unterstützt auch strafrechtliche Ermittlungen in den Mitgliedstaaten durch die Übermittlung sachdienlicher Informationen. Ein Tätigkeitsschwerpunkt von Europol besteht in der Verbrechensanalyse auf der Grundlage von Informationen, die von den Mitglieds- oder Drittstaaten zur Verfügung gestellt werden. Europol hat darüber hinaus seine internationale Strafverfolgungszusammenarbeit verbessert, indem die Behörde bilaterale operative oder strategische Vereinbarungen mit anderen Staaten und internationalen Organisationen ausgehandelt hat.

Rainer Kraul vom deutschen Verbindungsbüro bei Europol gab wichtige Hinweise für die Praxis. So soll, anders als bei Eurojust, sich nicht unbedingt jeder einzelne Ermittler in jedem Fall unmittelbar an Europol wenden, sondern dies über seine Landespolizei oder das BKA tun – wobei Ausnahmen in Eilfällen immer möglich sind.

Olivier Segnana, Mitarbeiter in der Legal
Affairs
Unit, erläuterte abschließend die rechtlichen Grundlagen der Arbeit von Europol und ging auf einige aktuelle Probleme, besonders zum Spannungsfeld von Datenschutz und Sicherheit, ein. Dabei spielte auch die Diskussion zwischen einigen Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Europäischen Parlament zur Dauer der Speicherung von Kommunikationsdaten eine Rolle[8].

Die etwas drückende Abschiedsstimmung auf der nun anstehenden Rückfahrt korrespondierte mit den klimatischen Verhältnissen, konnte jedoch schon bald mit netten Dankesreden und der Übergabe schokoladiger Präsente an die Organisatoren versüsst werden.

 

Hans Arno Petzold, Jennifer Seel und Dunja Vuković  (Info-Point Europa Hamburg)


1 Ständige Redensart im Info-Point Europa in Hamburg (www.infopoint-europa.de). Zusammen mit dem Oberlandesgericht Hamburg, RiLG Dr. Ingo Beckedorf, organisierte er erstmalig diese Studienfahrt zu Europäischen Institutionen.

2 Auf der Internetseite www.era.int gibt es weitere Informationen zur ERA. Dort kann auch das Jahresprogramm abgerufen werden, und es besteht die Möglichkeit, sich in eine Verteilerliste einzutragen, um per E-Mail über aktuelle Veranstaltungen und Veröffentlichungen informiert zu werden.

[1] Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABL. L 281 vom 23.11.1995, S. 31.

[2] Verordnung Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr.

[3] ABl. C-193 vom 06.08.2005, S. 3.

[4] Auf diesem Gipfel wurde das so genannte "Tampere-Programm" als fünfjähriges Arbeitsprogramm beschlossen, welches Ende 2004 auslief. Nachfolgeprogramm ist das im Jahre 2004 von der niederländischen Ratspräsidentschaft vorgestellte 'Haager Programm' für Freiheit, Sicherheit und Recht für den Zeitraum 2005-2010, welches die Vollendung eines “echten Europäischen Rechtsraumes” bis 2011 vorsieht.

[5] Vgl. auch NJW 2005, 1157 "Vollstreckungstitel", Wagner.

[6] Informationen über das Europäische Parlament im Internet unter www.europarl.eu.int.

[7] Informationen über Eurojust im Internet unter www.europarl.eu.int.

[8] S. dazu die Pressemeldung des Europäischen Parlaments vom 24.11.2005, http://www.europarl.eu.int/news/expert/infopress_page/013-2689-328-11-47-902-20051118IPR02597-24-11-2005-2005--false/default_de.htm.