(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/07, 17 ) < home RiV >
Unser Vereinsmitglied StA Jürgen Aßmann ist seit November 2006 im Auftrag des „Centrums für Internationale Migration und Entwicklung“ und des zuständigen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Berater der kambodschanischen Chefanklägerin Chea Leang. Seine Tätigkeit wurde in den Medien mehrfach erwähnt - u.a. im Deutsche Welle TV. Nun berichtet er selber darüber in den MHR. Private Reiseberichte von Jürgen Aßmann aus seinem Einsatzland finden sich unter www.kambodscha.blog.de/?disp=arcdir .
(Red.)
„Khmer-Rouge-Tribunal“
– Besser spät als nie! -
Die Ära des Kalten Krieges ist lange vorbei. Noch länger her ist die große Zeit kommunistischer Diktaturen. In Kambodscha wurden die „Roten Khmer“ im Januar 1979 von der Macht vertrieben. Unter ihrer Führung starben zwischen 1975 und 1979 geschätzt 2 Millionen Menschen – nahezu ein Viertel der Bevölkerung. Seit Juni 2006 stehen am Stadtrand von Phnom Penh, der boomenden Hauptstadt, zwei Gerichtsgebäude. Sie beherbergen die „Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia“, besser bekannt als das von den Vereinten Nationen unterstützte „Khmer-Rouge-Tribunal“. Endlich, sagen viele. Zu spät, sagen andere. 28 Jahre nach Ende der Schreckensherrschaft unter Pol Pot versuchen kambodschanische und internationale (darunter zwei deutsche) Staatsanwälte, Richter, Experten und Ermittler, die juristische Antwort auf das Unsagbare zu geben.
Geschichtlicher Hintergrund
Die „Roten Khmer“ haben, so weit sind sich die Historiker einig, das kleine Land Kambodscha in eine Schädelstätte verwandelt und sein Potential so beschädigt, dass der Wiederaufbau mehrere Generationen in Anspruch nehmen wird. Triebfeder ihrer Politik war die kommunistische Ideologie einer kleinen Gruppe in Frankreich ausgebildeter Kader. Angestachelt durch gesellschaftliche Missstände unter der Herrschaft von General Lon Nol und die außenpolitisch schwierige Situation des Landes im Schatten des Vietnamkriegs propagierten die Führer einen beispiellosen Radikalismus. Ohne Umweg über den Sozialismus sollte sofort reiner Kommunismus Wirklichkeit werden. Die Mittel dazu: Evakuierung der gesamten städtischen Bevölkerung in ländliche Gebiete, Abschottung des Landes, totale Kontrolle der Medien, Zwangskollektivierung, Umerziehung und Exekutionen von vermeintlichen Klassenfeinden und politischen Gegnern.
Das Ziel, Kambodscha möglichst rasch autark zu machen, war in den Augen der Führer nur durch radikale Maßnahmen zu erreichen. Die Herrschaft des Proletariats fand darin Ausdruck, dass die aus den Städten vertriebenen „New people“ in den ländlichen Kollektiven als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Sie hatten gegenüber den Alteingesessenen „Base people“ keinerlei Rechte und mussten unter härtesten Bedingungen Zwangsarbeit verrichten. Die teilweise katastrophale Versorgungslage trieb viele in den Hungertod. Argwöhnisch vermutete die Führung hinter jedem Fehler, jeder Unregelmäßigkeit einen Mangel an kommunistischer Linientreue – und derartiges führte regelmäßig zu Verhaftung, Umerziehungslager und Exekution. Als sich im Laufe der nahezu vierjährigen Herrschaftszeit der „Roten Khmer“ die Probleme häuften, suchte das Regime vermehrt seine Feinde auch in den eigenen Reihen und schickte die vermeintlich wichtigsten in das Sicherheitslager S-21: In der ehemaligen Schule, die heute als Museum dient und Teil des Touristenpflichtprogramms in Phnom Penh ist, wurden nach aktuellen Schätzungen 14.000 Kader und deren Familienangehörige grausam gefoltert, verhört und anschließend hingerichtet.
Beendet wurde die Existenz dieses Staates, den die Kommunisten zynischerweise „Demokratisches Kambodscha“ nannten, durch das Eingreifen des großen Nachbarn Vietnam. Kambodscha war dermaßen geschwächt, dass die Invasionsarmee, ergänzt durch ein kleines Kontingent übergelaufener kambodschanischer Soldaten, nur gut zwei Wochen brauchte, um Phnom Penh im Januar 1979 einzunehmen. Die „Roten Khmer“ zogen sich in entlegene Bergregionen entlang der thailändischen Grenze zurück und bekämpften mit einer Guerillastrategie jede neue Regierung in Phnom Penh. Erst 1999 endete dieser Bürgerkrieg mit der Festnahme des letzten widerspenstigen Kommandeurs.
Der Weg zum Tribunal
Die Form der Auseinandersetzung mit dem „Khmer-Rouge“-Regime wurde stark durch die weltpolitischen Rahmenbedingungen beeinflusst. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges war überhaupt eine juristische Aufarbeitung denkbar. Alle Großmächte hatten bis dahin ihre Interessen in der Region Südostasien durch die Unterstützung einzelner Akteure vertreten: die Sowjetunion stand in Treue zu ihrem sozialistischen Bruderland Vietnam; China - Vietnams großer nördlicher Nachbar mit großem Machthunger in der Region - lieferte Waffen und entsandte Militärberater für die „Roten Khmer“; und die internationale Staatengemeinschaft erkannte in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die von den Vietnamesen fortgejagten „Roten Khmer“ bis Anfang der Neunziger Jahre als legitime Vertreter Kambodschas an. Besonders die chinesische Verstrickung und das Vetorecht des Landes im UN-Sicherheitsrat verhinderte die Schaffung eines UN-Tribunals für die „Roten Khmer“ nach dem Vorbild der Gerichte für Jugoslawien und Ruanda. Auch die kambodschanische Regierung bevorzugte die Schaffung eines nationalen Gerichts.
Am Ende eines langen, 1998 begonnenen Verhandlungsprozesses zwischen den Vereinten Nationen und dem Königreich Kambodscha steht nun ein Tribunal, dessen Struktur oft als „hybrid“ im Sinne von „internationalisiert“ bezeichnet wird. Die Kammern des Gerichts sind mehrheitlich mit kambodschanischen Richtern besetzt, aber diese können nur mit qualifizierter Mehrheit entscheiden („Super-Majority“): Ohne Zustimmung zumindest eines internationalen Richters sind Entscheidungen nicht möglich. Das Verfahren soll kambodschanischem Prozessrecht folgen, das stark am französischen Vorbild orientiert ist. Der Ermittlungsrichter hat hier die zentrale Rolle.
Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Ermittlungsrichterbüro sind als Institutionen mit einer Doppelspitze ausgebildet. Sie werden von je einem lokalen und einem internationalen Juristen geleitet, und beide müssen sich über jeden Ermittlungsschritt einigen. Gelingt dies nicht, entscheidet eine Beschwerdekammer über den Fortgang der Ermittlungen.
In die Zuständigkeit des Gerichts fallen im Wesentlichen die internationalen Straftatbestände des Völkermords, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ergänzend können einzelne Normen des kambodschanischen Strafgesetzbuchs von 1956 angewandt werden, namentlich Mord, Folter und religiöse Verfolgung.
Zeitlich ist das Mandat auf die Herrschaftszeit der „Roten Khmer“ von 1975 bis 1979 begrenzt. Das Gericht soll sich dabei nach dem Willen seiner Gründer nicht mit den „kleinen Fischen“ aufhalten, sondern sich den höchsten Führern und denjenigen widmen, die (auch ohne ein solches Amt) die größte Schuld auf sich geladen haben.
Ausgangssituation und Erwartungen
Die Erwartungen an das Gericht sind vielfältig. Die kambodschanische Regierung hat stets betont, dass Gerechtigkeit für die Opfer, aber auch Stabilität und nationale Versöhnung die Leitprinzipien des Gerichts sein sollten. Insbesondere die Forderung an das Gericht, bei allen Entscheidungen Harmonie und Stabilität zu berücksichtigen, wird von vielen Beobachtern als klarer Hinweis auf einen zahlenmäßig möglichst kleinen Kreis von potentiellen Beschuldigten verstanden. Zu tiefes Bohren, so fürchten die Verantwortlichen in der Regierung, könnte zu Unruhen und womöglich sogar neuem Bürgerkrieg führen. Die internationale Staatengemeinschaft hat bezüglich der Auslegung des persönlichen Zuständigkeitsbereichs des Gerichts keine Erwartungen geäußert. Ihr Schwerpunkt liegt darauf, dass prozessual die international anerkannten Standards für faire Verfahren eingehalten werden.
Die betroffenen Opfer und Familienangehörigen hoffen vielfach, dass das Gericht sich nicht nur auf die politisch-militärischen Führer beschränkt. Da nach wie vor, besonders in den ländlichen Gegenden, Opfer- und Täterfamilien in unmittelbarer Nachbarschaft leben, wünschen sich viele Kambodschaner Anklagen gegen ihre früheren Dorf- und Kooperativenchefs. Angesichts des Mandats des Gerichts ist von einer solchen Anklagestrategie nicht auszugehen, so dass der Wunsch nach Genugtuung für viele Opfer wahrscheinlich enttäuscht werden wird. Mit intensiver Aufklärungsarbeit versucht das Gericht, zusammen mit zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, den Menschen die Grenzen der Gerechtigkeit aufzuzeigen und ihnen die Legimität des Mandats zu vermitteln.
Immer wieder wird geäußert, dass nur transparente und effizient geführte Verfahren den Interessen der Opfer gerecht würden. Dieses Anliegen ist natürlich legitim. Darüber hinaus wird von vielen Beobachtern stets „geschmeidiges Prozedieren“ („smooth proceedings)“ verlangt. Diese Forderung beruht auf der Annahme, dass das Gericht sich weitgehend auf Beweismaterial stützen könne, das bereits vorhanden sei. Der noch zu tätigende Ermittlungsaufwand wird als minimal eingestuft. Dies ist eine Fehleinschätzung. Sie geht zurück auf die mehr als zehnjährige Tätigkeit des Dokumentationszentrums für Kambodscha (DC-Cam), einer hauptsächlich von den USA finanzierten Nichtregierungsorganisation. Das Zentrum hat zwar in der Tat umfangreiche, allerdings nicht auf strafrechtliche Ahndung orientierte Vorarbeit geleistet und Originaldokumente, Zeugenaussagen gesammelt und quasi-forensische Beweiserhebungen in weiten Teilen des Landes betrieben. Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter kooperieren eng mit dem Zentrum, und haben weite Teile des dortigen Archivs in elektronischer Form übernommen. Private Sammelaktivität kann hoheitliches Ermitteln aber nicht ersetzen, sondern nur vorbereiten.
Gelegentlich kann man den
Eindruck gewinnen, dass vom „Khmer-Rouge-Tribunal“ eigentlich erwartet wird,
juristisch nur noch einmal das zu bestätigen, was die Öffentlichkeit und
Historiker ohnehin schon zu wissen glauben. Viele Laien mit diesem
Erwartungshorizont haben nur eine vage Vorstellung davon, welcher
Beweisaufwand zu betreiben ist, wenn Taten individualisiert und persönlich
zugerechnet werden sollen, die vor rund dreißig Jahren begangen wurden. Die zu
erwartende Einsicht, wie mühevoll und kleinteilig, dabei auch langwierig und
mitunter verstörend die Suche nach der Wahrheit sein kann, wird für viele
Beobachter schmerzhaft sein. Dies gilt umso mehr wenn man berücksichtigt, dass
der Hauptgegenstand der Beweisführung, nämlich die Schaffung und Umsetzung
krimineller Politiken, gerade nicht perfekt dokumentiert ist, sondern
weitgehend durch Indizien nachgewiesen werden muss.
Zwischenbilanz
Im ersten Jahr seines Bestehens hat das Gericht mehr erreicht, als von vielen erwartet wurde. Die Staatsanwaltschaft, geleitet von der 39jährigen, in Deutschland ausgebildeten Kambodschanerin Chea Leang und ihrem kanadischen Kollegen Robert Petit, der in Ruanda und Sierra Leone gesammelte internationale Strafrechtserfahrung mitbringt, hat nach intensiven Vorermittlungen die Ermittlungsrichter mit fünf Beschuldigten befasst. Diese sind nun verpflichtet, das etwa 14.000 Seiten umfassende Dossier weiter auszuermitteln, so dass Hauptverhandlungen möglich werden.
Sämtliche fünf Personen, gegen die im Sommer förmliche Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, befinden sich mittlerweile in Untersuchungshaft. Besondere Aufmerksamkeit fanden dabei im Oktober und November die Verhaftungen der ehemaligen Politbüromitglieder Nuon Chea, Ieng Sary und Khieu Samphan sowie der ehemaligen Sozialministerin Ieng Thirith. Die erste öffentliche Verhandlung vor der Vorverfahrenskammer (über die Haftbeschwerde des seit mehr als acht Jahren in Untersuchungshaft befindlichen ehemaligen Lagerkommandanten Kang Keck Iev alias Duch) wurde von der Weltöffentlichkeit überwiegend als gelungener Auftakt der Tribunalstätigkeit aufgenommen.
Bis in den Juni hinein hatte der „juristische Motor“ des Gerichts allerdings nur stotternd zu laufen begonnen. Die staatsanwaltlichen Vorermittlungen mussten auf unsicherer Rechtsgrundlage geführt werden, da das Verfahrensrecht bis dahin lückenhaft war und konkrete Regeln für die Zusammenarbeit von internationalen und nationalen Akteuren vorsah. Erst Mitte Juni gelang es dem Richterplenum des Gerichts, die „Internen Verfahrensregeln“ zu verabschieden und damit den Weg frei zu machen für förmliche Ermittlungsverfahren.
Eine der großen Herausforderungen bleibt die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit. Bereits lange vor der Konstituierung des Gerichts hatten internationale Experten gewarnt, dass die kambodschanische Justiz schlicht zu schwach für ein solches Großprojekt sei. Dass tatsächlich die Exekutive den Weg des Tribunals zu beeinflussen versucht, zeigte im Herbst die beabsichtigte Versetzung des kambodschanischen Ermittlungsrichters. Der Ministerpräsident hatte kurzer Hand beschlossen, den nach einer Amtsenthebung frei gewordenen Posten an der Spitze des landesweit einzigen Berufungsgerichts mit dem ECCC-Ermittlungsrichter zu besetzen. Nur nach massivem Druck der internationalen Gebergemeinschaft und von Nichtregierungsorganisationen konnte diese beabsichtigte Maßnahme verhindert werden. Das Statut des Khmer-Rouge-Tribunals verbietet die Abberufung eines Richters, so dass das von höchster Stelle initiierte Vorhaben als kalkulierter Vertragsbruch der kambodschanischen Seite angesehen werden konnte.
Überstanden hat das Gericht auch das erste Kräftemessen mit dem ehemaligen König Norodom Sihanouk. Dem über 80jährigen ehemaligen Monarchen wird von vielen in Kambodscha vorgeworfen, die „Roten Khmer“ seinerzeit unterstützt zu haben. Nach einer missverständlichen Äußerung des internationalen Pressesprechers kam in Phnom Penh das Gerücht auf, das Tribunal beabsichtige seine Strafverfolgung – obwohl offiziell nur über eine mögliche Zeugenrolle debattiert worden war. Prompt forderten einige Regierungspolitiker, das Tribunal zu schließen. Immer noch im Raum steht die Drohung des Regierungssprechers, dass dies im Falle einer Beschuldigtenvorladung des Ex-Königs auch erfolgen wird.
Ausblick
Der Zug des „Khmer-Rouge-Tribunals“ hat den Bahnhof verlassen und befindet sich nun auf freier Strecke. Die ersten Startschwierigkeiten sind überwunden. Es bleibt abzuwarten, wie das Gericht mit den großen Herausforderungen umgehen wird. Diese liegen vor allem im organisatorischen, sachlichen und juristischen Bereich. Die Etablierung einer sinnvollen Opferbeteiligung, Maßnahmen des Zeugenschutzes und das Bewältigen der Übersetzungsprobleme – die Amtssprachen sind Khmer, Englisch und Französisch – obliegen der unter kambodschanischer Hoheit operierenden Gerichtsverwaltung. Die Ermittlung einer tragfähigen Tatsachengrundlage müssen die Ermittlungsrichter leisten – angesichts des weiten Mandats des Gerichts eine gewaltige Herausforderung. Staatsanwaltschaft und Verteidigung wird es obliegen, die schwierigen Probleme im materiellen und prozessualen Recht aufzubereiten und der richterlichen Entscheidung zuzuführen. Ich hoffe, durch meine Mitarbeit auf der kambodschanischen Seite der Staatsanwaltschaft einen Beitrag zur Bewältigung dieser historischen Aufgabe leisten zu können. Der Zug, um im Bild zu bleiben, darf nicht auf offener Strecke liegen bleiben, sondern muss an seinem Zielbahnhof ankommen. Die Menschen in Kambodscha warten seit fast 30 Jahren auf ein kleines Stück Gerechtigkeit.
Interessante Webseiten zum Thema finden sich unter www.eccc.gov.kh, www.unakrt-online.org und www.justiceinitiative.org. Meine Entsendeorganisation ist online unter www.cimonline.de.
Jürgen Aßmann