(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/08, 17 ) < home RiV >

Der Traum als Erlebnis

- Eduard Dreher -

I.

Wer in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der strafrechtlichen Praxis stand, konnte dafür seinen „Dreher“ so wenig entbehren wie der Zivilist den Palandt. Eduard Dreher hatte den von Otto Schwarz begründeten Handkommentar von 1961 an
- zunächst als Ministerialrat im BMJ (23. Auflage, damals noch „Dreher-Maassen“) -, über seine Pensionierung hinaus bis zur 37. Auflage 1977 betreut
[1].

Nachdem Dreher sich im 70. Lebensjahr der Last des Kommentierens hatte entledigen können, war er geistig keineswegs aufs Altenteil hinüber gewechselt – im Gegenteil: Zehn Jahre später legte er eine umfangreiche Abhandlung über die Willensfreiheit vor[2]. Aber schon zuvor war er mit einem, wie es schien, völlig aus dem Rahmen fallenden Werk hervorgetreten: Der Traum als Erlebnis[3].

 

II.

1.         Dieses Buch hätte er schwerlich schreiben können, hätte er nicht gewisse Tugenden eines Ministerialbeamten besessen, die auch und gerade diesem literarischen Produktionsprozess förderlich, ja vermutlich eine seiner Voraussetzungen waren: Selbstdisziplin, Ordnungssinn, Fleiß und Hingabe an die Sache. Das klingt paradox, gerade beim Traum, der just das Gegenteil dieser „bürgerlichen Tugenden“ zu sein scheint: flüchtig, willkürlich, schwebend, regellos, chaotisch - vom Gefühl gefärbt und geprägt, nicht von Verstand und Willen. Nun sind Träume flüchtige Gebilde: Was beim nächtlichen Erwachen nicht selten lebhaft und beim Aufstehen des Morgens immerhin noch umrisshaft vor Augen steht, verblasst und verschwindet vielleicht schon tagsüber, meist aber dann nach kurzer Zeit. Da der Autor der Wunderwelt der Träume etwas genauer nachspüren wollte, tat er das, was die heutige „Traumforschung“ ihrer Klientel dringlich empfiehlt: sofort notieren oder auf Band geben![4], und zwar offenbar weit länger als ein Jahrzehnt, wobei ihm zustatten kam, dass auch seine Frau eine sensible, sein Interesse teilende Träumerin war, die seine Protokolle durch ihre eigenen Berichte ergänzte und bereicherte. Als er mit seinem Buch herauskam, war sie schon drei Jahre tot, und der Leser spürt, dass er es zugleich als einen Gruß an seine Mitautorin geschrieben hat. Im Übrigen verarbeitet und präsentiert Dreher – natürlich! - eine Fülle von Traumberichten, wie sie uns von biblischen Zeiten an - und früher schon - bis ins 20. Jahrhundert überliefert und mitgeteilt worden sind. Da wäre Vollständigkeit ein utopisches Ziel gewesen - etwa so, als wollte man alle Märchen der Welt in ein einziges Buch schreiben. Das wissenschaftliche Interesse am Traum, das - nach einer Periode der Verödung zur Zeit der Aufklärung[5] - dank Sigmund Freud wieder erwacht war, suchte die Masse des Materials auf seine Weise zu bändigen: indem seine Vertreter sich zur Analyse das herausgriffen, was jeweils dieser oder jener Deutungstheorie entsprach oder zu ihr zu passen schien. Traumdeutung hat freilich eine ehrwürdige Tradition, vom platonischen Sokrates bis zur Bibel und darüber hinaus. Zu moderner Wissenschaft geronnen, hatte sie dann aber ihre Schwächen und Gefahren. „Die Deutung sagt mehr über die deutende Person aus als über den Traum“, schreibt Schredl[6]. Das dürfte daran liegen, dass Freud, der Vater der modernen Traumdeutung, mit ihr einen praktischen Zweck verfolgte – einen guten zwar, aber eben einen Zweck, der nun Regie führt: Er wollte seine (durchweg neurotischen) Wiener Patienten therapieren, und zwar durch seine Psychoanalyse. Die Einwände gegen diese Theorie - auch die von Dreher vorgebrachten[7] - müssen jetzt auf sich beruhen[8].

 

2.         Dreher hält es mit Goethes Mephisto: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum!“ Er wandert durch die Welt der Träume, nimmt ihren märchenhaften Reichtum wahr und erlebt in diesem fremdartigen, zugleich aber seltsam vertrauten Reich einander widersprechende Prädikate als zur gleichen Zeit gültig: die Szene ist heiter und traurig, vertraut und fremd, besänftigend und drohend, tröstlich und bedrückend, begreiflich und absurd - manchmal alles in einem. Staunendes Erleben der Traumwelt stellt Dreher vor eine elementare Frage des Selbstverständnisses - eine zunächst rein subjektive, die den Stoff nicht ins Prokrustesbett einer Theorie oder eines Zwecks presst, sondern ihn nur wachen Sinnes wahrnimmt und wirken lässt – freilich mit Augen und Sinnen eines klugen Zeitgenossen, dem dabei die Schulung durch ein lange gelebtes Juristenleben keineswegs störend in die Quere kommt.

 

III.

Ich beginne nun nicht mit Drehers Frage, um ihr dann Ausgewähltes aus dem riesigen Stoff zu subsumieren, sondern versuche es anders herum. Freilich ist es mir dabei unmöglich, mehr als eine dürftige Abbreviatur dessen zu bieten, was der Autor aus eigenen und ihm vertrauten literarischen Befunden entfaltet. Nun also – stark gekürzt - ein paar der Träume:

 

1.         Der Autor befindet sich mit seiner – im Jahre zuvor verstorbenen – Frau in einem alten bayerischen Gasthaus; sie suchen dort nach einem Raum zum Sitzen und Essen und stoßen auf ein Schild: „Heute wegen Tod des Inhabers geschlossen“. Nachdem sie durch diverse Räume geirrt sind, stoßen sie auf einen Mann beim verspäteten Frühstück, mit dem sie sich unterhalten. „Wir sagten dann, dass wir nun ins nächste Dorf gehen wollten, und die Szene verwandelte sich ...“. Es folgt eine farbige Beschreibung der vertrauten Landschaft, die beide durchwandern. „Wir sprachen dabei über ein Thema, das ich beim Erwachen in der Nacht noch wusste, aber dann leider vergessen habe. Meine Frau sagte dazu, sie werde sich damit einmal befassen, wenn es auf das Ende zuginge. Bei dieser merkwürdigen Bemerkung fiel mir plötzlich ein, dass meine Frau doch schon tot sei, und ich erwog, ob sie nicht nur scheintot gewesen sei. Dem neigte ich zu und überlegte, was die Leute wohl sagen würden, wenn meine Frau plötzlich wieder zu Hause sei. Dann fiel mir plötzlich ein, dass sie doch aus dem Sarg gekommen sein müsste, und konnte mir das nicht erklären, akzeptierte aber weiter, dass sie nun wieder lebendig sei, und sagte mir, sie habe vom Tod gar nichts gewusst, weil sie ja zwischen dem Sterben und wieder lebendig werden ohne Bewusstsein gewesen sei. Dann kamen wir in das Dorfwirtshaus und nahmen in einem Raum Platz, der leer war ... Als niemand kam, gingen wir in einen weiteren, ebenfalls leeren Raum, wo ein Schild an der Wand mit der Aufschrift „Post“ nach links wies. Uns wurde klar, dass im Wirtshaus die Post untergebracht war“. Dann kommt der Wirt und führt die beiden in einen schönen Raum, in dem viele Menschen sitzen. Dreher kommt ins Gespräch mit einer Frau, die im Gehen sagt, sie heiße Leander: „Ich fragte sie nach einigem Überlegen, ob sie wisse, dass das „Löwenmensch“ bedeute, wobei ich an den griechischen Ursprung des Namens dachte. Sie verneinte meine Frage, ich stand auf und ließ sie durch. Dann ging ich in den ersten Raum, um mein Notizbuch und die übrigen liegen gelassenen Sachen zu holen, konnte sie aber nicht finden. Es gab Schwierigkeiten, an die ich mich nicht erinnere. Dann erwachte ich“. Ein langer Traum, im Buch viel detailreicher geschildert als hier. Aber auch die Schilderung dort erfasst, wie eigens angemerkt, nur einen mehr oder weniger kleinen Teil der „wirklichen“ Traumwanderung.

 

2.         „Mir träumte, ich stünde an einem Bahnhof in Böhmen und bespräche mit jemandem meine Heimfahrt nach Deutschland, für die es vielleicht günstiger sei, erst nach einem größeren Ort landeinwärts zu fahren, um dort einen durchgehenden Zug zu erreichen: da wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Friedrich (wie mir im Traum bewusst war, Friedrich der Große) gerade in der Nähe von Prag eine Schlacht verloren habe[9]. ...“

 

3.         „Ich träumte, ich sei als Jurist unter einem Landgerichtsdirektor tätig, mit dem ich diskutierte. Dabei gab er mir folgenden Fall zur Lösung auf: Hasen stehlen irgendwo und kommen mit ihrer Beute zum Bau zurück. Andere Hasen kommen da heraus und helfen, das Gestohlene hinein zu bringen. Frage: Sind diese zweiten Hasen als Diebstahlgehilfen strafbar? Ich redete darauf etwas über objektive und subjektive Teilnahmelehre und erörterte dann, ob Begünstigung oder Hehlerei in Frage käme, und hielt meine Darlegung für richtig. Der Landgerichtsdirektor erklärte sie für falsch, ...“

 

4.         „Im Traum hatte ich mit einem früheren Generalleutnant eine längere juristische Diskussion über die Frage, ob die Verwirklichung eines strafrechtlichen Tatbestands stets als Delikt anzusehen sei, und vertrat zu dieser mir an sich völlig vertrauten Problematik einen anfängerhaft falschen Standpunkt; das wurde mir aber erst am nächsten Morgen klar.“

 

5.         „In der Nacht ... träumte ich, ich sei zusammen mit einem Kollegen auf einem Faschingsfest des BJM (dem wir beide lange Jahre angehört haben), und wir sähen einen Herrn vorbeitanzen, der seine Jacke ausgezogen hatte und über dem Hemd Hosenträger trug. Dazu erfanden wir folgenden strafrechtlichen Tatbestand: ‚Wer Hosenträger trägt, ohne ein Dandy zu sein, wird als Gummischwein bestraft’. Dieser groteske Einfall zu dem erläuternd zu sagen ist, dass es eine meiner Hauptaufgaben während meiner Tätigkeit im BJM war, strafrechtliche Tatbestände zu entwerfen, ist gewiss nicht gerade geistvoll, zeugt aber doch von humoristischen Denkprozessen während des Traums.“

 

6.         „Ich befand mich im Traum in einer weiten alpinen Landschaft mit großen offenen Hängen, auf denen noch Schnee lag und Ski gelaufen wurde. Plötzlich tauchten in meiner Nähe vier Giraffen auf, die in einer Reihe hintereinander gingen. Es gelang mir, aus der Gehrichtung der Tiere wegzukommen. Das Erscheinen derartiger Tiere, gerade in dieser Landschaft, kam für mich völlig verblüffend.“

 

7.         „In der Nacht zum 24.07.1979 träumte ich, ich sei in irgendeinem juristischen Gremium. Als einer der Teilnehmer sagte, wir könnten ja auch Herrn Stoph begnadigen, und ich dazu eine Äußerung machte, welche die als Scherz gemeinte Bemerkung ernst zu nehmen schien, wurde ich allgemein ausgelacht“[10].

 

8.         „Ich träumte..., auf der Wiese vor unserem Hause liefen kleine Igel herum; diese Igel wurden mit einem Male groß, trugen menschliche Kleider, redeten und warnten mich vor ihren spitzen Krallen, die aus ihren Ärmeln hervorsahen.“

 

9.         „Ich träumte, ich sei in der Schule. Der Lehrer gab eine schriftliche Arbeit zurück und fragte mich, von wem der griechische Satz panta rhei stamme. Als ich antwortete, ‚von Heraklit’, erwiderte er, ‚falsch’. Als ich darauf meinte, ‚dann vielleicht von Demokrit’ lachte er und sagte: ‚von dem erst recht nicht’. Das Amüsante und Bemerkenswerte an dem Traum ist, dass der Satz, wie ich mich am nächsten Morgen versicherte, tatsächlich von Heraklit stammt.“

 

10.      „Im Traum hörte ich im kleinen Kreis einen Vortrag an, in dem der Vortragende den Papst Hadrian VI erwähnte und der Meinung zu sein schien, es handele sich um einen Papst der Neuzeit. Ich widersprach und vertrat die Auffassung, dass es sich um einen Papst der Renaissance handle. Ein Mithörer stimmte mir zu. Die Frage sollte geklärt werden. Es erschienen plötzlich Bücherregale aus meiner Bibliothek, und ich fand Rankes Geschichte der Päpste. Ich nahm das Buch zur Hand und sagte, es müsse sich doch hinten ein Verzeichnis der aufeinander gefolgten Päpste mit den Jahreszahlen finden. Ich entdeckte auch das Verzeichnis, hier aber brach der Traum ab ...“. Dreher berichtet dazu, er habe dann gleich am Morgen die Streitfrage überprüft und festgestellt, dass Hadrian von 1522 bis 1523 - mithin als Renaissance-Papst - regiert habe.

 

IV.

Das ist also die Welt des Träumers – oder der Träumerin[11]. Auf ihn richtet sich der Blick zunächst. Ist der „Traum-Erleber“, wie Dreher ihn nennt, identisch mit dem Tagmenschen, im gegebenen Falle also der nächtliche Träumer des Buchs mit dem Prof. Dr. Ministerialrat i.R. und Kommentator? Wie weitgehend dies der Fall ist, zeigen schon ein paar der Träume (etwa Ziffern 3, 4, 5, 7 und 10); aber das wird man wohl für natürlich und nicht sehr bemerkenswert halten dürfen. Der Träumer trägt in seine Träume das hinein, was man seit Freud „den Tagesrest“ nennt. Leicht erkennbar bei Dreher, den seine juristischen Tatbestände und Diskussionen noch im Schlaf heimsuchen. Wer kennt das nicht?[12] Interessanter ist die Beobachtung, dass zwar vieles, aber eben nicht alles sich ohne Weiteres als eine Fortsetzungsgeschichte des Tagmenschen erklären lässt. Der Träumer kann und weiß sowohl mehr als auch weniger als jener; so steht unerklärlichen Defiziten im Wissen (etwa Ziffern 3 und 4)[13] der Befund gegenüber, dass der Träumer über Kenntnisse, Gedanken und Einsichten verfügt, auf die er am Tage nie gekommen wäre. „Das wäre mir nicht im Träume eingefallen!“ ist eine ebenso häufige wie falsche Sentenz: Gerade im Traum fällt uns das „Unmöglichste“ ein.

Ganz Beiläufig-Komisches etwa: Dreher trifft im Traum einen Russen, der sich köstlich darüber amüsiert, dass im Deutschen das Wort „Nebelfeld“ und die Worte „Nebel fällt“ des gleichen Klanges wegen nicht unterscheidbar seien, worauf er – Dreher - selbst nie und nimmer gekommen wäre.

Oder Tiefsinniges: „Einmal traf ich am Wegesrand eine dort sitzende alte Frau, deren Kapuze ihr über den Kopf hing. Sie sprach zu mir: ‚Viele fahren gen Himmel, viele fahren zur Hölle, die meisten aber fahren nur ins Grab’. Im Wachzustand wäre mir ein solcher merkwürdiger und kühner Gedankengang, von dem ich auch nie etwas gelesen oder gehört habe, niemals gekommen“.

Man vermag gelegentlich weniger (die Beine sind gelähmt, der Mund stumm, die Orientierung hoffnungslos verloren usw.), andermal aber viel mehr als normalerweise: fliegen, schweben, unendlich weit springen, im 18. Jahrhundert reisen (oben Traum 2!), mit Toten Umgang haben ...; und das wundert den Träumer dann keineswegs.

Freilich gibt es Abwandlungen dessen, die auch Dreher kennt, mit denen sich die moderne Traumforschung[14] ausgiebig beschäftigt. Der Träumer ahnt oder weiß, dass er „nur“ träumt, stellt sein Verhalten darauf ein, etwa indem er sich aufzuwecken sucht - mit Erfolg oder vergeblich, so dass er dann nur glaubt, erwacht zu sein, tatsächlich aber weiter träumt[15]. Dreher zitiert aus Grillparzers Tagebuch, dieser habe im Traum ein entzückendes Vorspiel zu seiner Medea erschaut, dann geträumt, erwacht zu sein, und mit der Absicht, sein Stück entsprechend zu ändern, den Theaterdirektor Schreyvogel aufgesucht und ihm von seiner Trauminspiration vorgeschwärmt zu haben, „räsonierte auch mit einem scheinbar viel klareren Bewusstsein über meinen Traum und Träume überhaupt, und das alles im Traum ...“.

 

Soviel vom Träumer oder „Traumerleber“, dessen Rolle sich offensichtlich dadurch auszeichnet, dass er keineswegs - oder doch nur selten – bloß Zuschauer ist, der seine Traumbilder tatenlos wie ein Kinobesucher betrachtet. Fast überall ist der Träumer ein aktiver Mitgestalter der Szene – es dreht sich also in der Regel um erlebte, zuweilen äußerst farbige, dramatische Interaktionen.

V.

Zur Interaktion aber gehören mindestens zwei: der Träumer und der andere. Wer ist der? Er, der die unglaublichen, verrückten, klugen, völlig unerwarteten Einfälle hat, uns mit wunderbaren und schrecklichen Szenen erfreut, ängstigt, peinigt, amüsiert, besänftigt! Das ist Drehers zweite Figur, der nächtliche Regisseur, den er als „Traumspieler“ bezeichnet. Wir müssen darauf verzichten, auch seine Rolle durch Traumberichte auszumalen; Stoff genug gäbe es – bei Dreher und anderswo[16]. Aber schon das bislang Berichtete hat über die Komplementärfigur des Träumers, den Traumspieler, notwendigerweise vieles gezeigt; das Nötigste jedenfalls, um die Fragen zu verstehen, die Dreher an diese zweiten Figur knüpft:

 

Bin ich selbst der Traumspieler? Bin ich jedenfalls mit ihm so teil-identisch wie mit dem Träumer, wovon oben die Rede war? Oder etwas mehr, oder doch viel weniger? Dreher referiert eine Szene aus den Tagebüchern Friedrich Hebbels, die eine Identitätsspaltung im Traum dramatisch demonstriert: „Hebbel träumte, er solle begraben werden, war aber zugleich in und außerhalb des Sarges und wurde vom Geistlichen gefragt, ob er der zu bestattende Friedrich Hebbel sei“.

Woraus schöpft der Traumspieler seinen Stoff, den er uns präsentiert? Die Tagesreste, aus denen er zum gewiss überwiegenden Teil besteht, entstammen unserem eigenen Gedächtnis, sind also sozusagen wir selbst. Aber die Einfälle, mit ihnen zu verfahren – überraschend, bizarr, wie der Blitz in dunkler Nacht - sind das etwa auch nur unsere eigenen Ideen?

Dazu ein Weiteres: dem Traumspieler scheint gelegentlich eine prognostische Gabe zu Gebote zu stehen, die wir keineswegs als die unsere ins Anspruch zu nehmen wagen. Die Literatur berichtet davon in Fülle. Hier lediglich ein bei Fromm mitgeteiltes Beispiel[17]:

A. hatte eine Zusammenkunft mit B., den er vielleicht als Geschäftspartner aufnehmen wollte, war von ihm günstig beeindruckt und entschlossen, ihn zum Teilhaber zu machen. In der folgenden Nacht hat er diesen Traum „Ich sehe B in unserem gemeinsamen Büro sitzen. Er sieht die Bücher durch und verändert darin Eintragungen, um die Tatsache zu verschleiern, dass er große Geldmengen unterschlagen hat“. A. ist über seinen Traum bestürzt, erklärt ihn sich aber selbstkritisch als irrationales, neidisches, hässliches Misstrauen und weist jeden Argwohn als ungerecht ab. Ein Jahr später stellt sich heraus, dass B. tatsächlich, genau so wie geträumt, die Veruntreuung beträchtlicher Summen durch falsche Eintragungen vertuscht hatte. Fromm geht der Sache nach und findet durch einen verzwickten Assoziationstest heraus, dass A. gleich zu Beginn des ersten Gesprächs – spontan und unbewusst – von einem Gefühl des Misstrauens gegenüber B. befallen worden war, welches sein Verstand aber sogleich als irrational verworfen hatte. Die gleiche Reaktion hatte sich dann gegenüber dem Traum wiederholt, ohne dass dem A. bewusst wurde, dass dies eine Wiederholung war.

Fromms Erklärung, die sich für ihn an diesem und zahleichen anderen Fällen bestätigt, die auch Dreher teilt, ist wie ein Schlüssel zur Traumwelt:

Im Alltag müssen wir uns auf dessen Aufgaben, Probleme und Zwänge konzentrieren, unser Interesse wahren usw. Dadurch werden Seele und Geist extrem stark beansprucht, freilich ganz einseitig und nur zu einem Teil; der andere liegt brach. Doch auch der vernachlässigte fordert dann sein Recht: „Während wir schlafen, geben wir uns nicht damit ab, die Außenwelt unseren Zwecken zu unterwerfen. Wir sind hilflos, und man hat den Schlaf daher mit Recht den ‚Bruder des Todes’ genannt. Aber wir sind auch frei, freier als im Wachen ... Im Schlaf hat das Reich der Notwendigkeit dem Reich der Freiheit Platz gemacht ... Während des Schlafs weist die seelische Tätigkeit eine andere Logik auf als im wachen Dasein. Im Schlaf brauche ich mich nicht um Dinge zu kümmern, die nur im Umgang mit der Wirklichkeit von Bedeutung sind.“

Die großartigen Panoramen des Traums demonstrieren, wessen die Seele fähig ist, wenn sie frei walten und schalten kann. Solch’ vertiefte Einsicht enthält oft (ohne dass sich dies hier entwickeln ließe) eine „vernünftige“ Erklärung frappierend richtiger Prognosen: Der Traum stellt (im Ausgangsfalle) dem A sein spontanes, rein gefühlsmassig-intuitives Misstrauen, das von seiner Ratio sogleich niedergeknüppelt worden war, im Bild der bösen Tat des B. erneut vor Augen. Doch A’s verengter Tagesverstand führt dann wieder Regie, und das Unglück tritt ein. So lässt sich nicht nur Vorwissen, sondern auch sonst viel „Unglaubliches“ recht überzeugend aus Geist und Seele des Träumers selbst erklären, so dass die zunächst unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen Drehers beiden Figuren sich bei tiefer dringender Betrachtung doch deutlich verringert.

 

VI.

Verringert – kann sie aber ganz aufgehoben werden? Seit langem bis zur Gegenwart werden Träume berichtet, in denen Menschen, meist nahe Angehörige, über große Entfernungen den Schlafenden ihre Botschaft in die Träume hinein zu senden scheinen: oft aus großer Not, dem Trommelfeuer der Kriege: Verwundung, Verbluten, Ertrinken, Tod, aber auch unter anderen - zivilen - Bedingungen. Aufmerksamkeit fand und findet dergleichen immer dann, wenn sich später ergibt, dass dem „Sender“ tatsächlich unter den übermittelten Umständen zur nämlichen Zeit just das geschehen war, was der „Empfänger“ geträumt hatte. Der insgesamt zur Vorsicht neigende Dreher hält solche telepathischen Träume, deren Inhalt der Träumer nicht aus sich selbst geschöpft haben kann, sondern von „draußen“ bekommen haben muss, für Realitäten, berichtet entsprechende Erfahrungen aus seiner eigenen Familie und zitiert C.G. Jung (1875-1961): „Als eine weitere Traumdominante muss ich das telepathische Phänomen anerkennen. Seine allgemeine Tatsächlichkeit ist heutzutage nicht mehr zu bezweifeln“[18]. Da der Träumer, wie z.B. Fromm überzeugend darlegt, nach Geist und Seele dem Tagmenschen an Sensibilität turmhoch überlegen ist, erscheint es immerhin plausibel, dass er außeralltägliche, raum- und zeitüberlegene, „unsinnliche“ Signale viel eher empfangen kann als jener[19]. Dreher merkt an, dass es noch weitere Gründe geben könne, die These einzuschränken, dass der Träumer zugleich der Regisseur sei und allen Stoff nur aus sich selbst schöpfe: Auch die Möglichkeit prophetischer Wahrträume sei nicht auszuschließen, ihr Vorkommen erscheine ihm aber nicht als gesichert ... Zum Thema „Traum“ ließe sich also noch manches weitere Kapitel schreiben.

Günter Bertram


[1] zur Geschichte des Kommentars vgl. Herbert Tröndle: Schwarz/Dreher/Tröndle/Fischer Strafgesetzbuch in „Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert“, München 2007, S. 835 – 849; zur Würdigung Drehers vgl. aaO. Ziffer D: Neugestaltung des Kommentars durch Eduard Dreher

 

[2] Die Willensfreiheit. Ein zentrales Problem mit vielen Seiten, 1987

 

[3] Eduard Dreher: Der Traum als Erlebnis - zugleich eine Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Traumdeutung, 1981. Das Buch ist im Handel nicht mehr zu haben; aber antiquarisch (für 10 Euro und weniger).

 

[4] vgl. etwa  Michael Schredl: Träume: Die Wissenschaft enträtselt unser nächtliche Kopfkino, Ullstein 2007, dort etwa S. 75 f: fünf Tipps zur Traumerinnerung, und passim.

 

[5] deren Repräsentanten ihn für kindisch, unbeachtlich, irrational, ja temporären Wahnsinn hielten, vgl. dazu etwa Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume, 1981, S. 14, 93; Dreher aaO. S. 2 f.

 

[6] Schredl aaO. (Anm. 8), S. 246 f.

 

[7] Kpt. 11 – 15

 

[8] Freuds Überzeugung, dass im Traum mächtig andrängende infantil-sexuelle Wünsche durch Selbstzensur zu deutungsbedürftigen Bildern und Gestalten sich verfremdeten, wurde bei ihm selbst und  in seiner „orthodoxen“ Schule zur Obsession.  Die Manie, derartige Deutungen mit Gewalt beliebigen Phänomenen aufzuzwingen, kann auch zum forensischen Desaster führen: So ist es ein Kreuzzug entsprechend engagierter Gruppen und deren Lautverstärkung durch Gutachter gewesen, die zum berühmt-berüchtigten Mainzer Kinderschänderprozess geführt hatten. Die Strafverfolgung beruhte dort ganz wesentlich auf einer zwanghaft „Freud’schen“ Ausdeutung von Kinderzeichnungen und entsprechenden Suggestionen. Dass der Prozess im Juni 1997 mit Freisprüchen endete und der Vorsitzende die Justiz schuldig sprach, konnte die jahrelang Geprangerten kaum noch trösten (vgl. etwa Gut gemeint, schlecht gemacht,  Gisela Friedrichsen im Spiegel vom 23. 06. 1997).

 

[9] gemeint ist offenbar die Prager Schlacht vom 6. Mai 1757, die allerdings „der Alte Fritz“ gewonnen hatte.

 

[10] Als er dies notierte, wird Dreher es unter „Absurditäten“ abgeheftet haben, auf die nur ein Traum verfällt. Wer heute bedenkt, wie kaum zwölf Jahre danach und später die DDR-Vergangenheit strafrechtlich „aufzuarbeiten“ war, kann erneut über prophetische Qualitäten von Träumen sinnieren.

 

[11] Schredl aaO (Anm. 8), der das Traumsubjekt natürlich hundertmal nennen muss, benutzt die männliche, aber viel öfter die weibliche Form mit der themaspezifischen Begründung, Frauen hätten beim Träumen „die Nase vorn“ - was Interesse, Merkfähigkeit, Mitarbeit und Traumhäufigkeit betreffe, seien also „die bessern Träumer“. Das trifft gewiss zu, muss aber nicht auf Kosten des Stils ewig erneut dokumentiert werden.

[12] Jeder, der seine Träume nicht gleich vergisst, wird diesen Befund bestätigen, auch dass dieser „Rest“ im Traum oft in verfremdeter Gestalt, zuweilen witzig, präsentiert wird. Ich selbst träumte unlängst, nachdem ich just zuvor Shakespeares Cäsar auf der Bühne gesehen hatte, wie der besonders eindrucksvolle Cassius völlig unerwartet – aber trotz veränderter Drapierung sofort zu erkennen – vor der Tür unserer (norwegischen?) Ferienwohnung erschien, um die (vorweg schon bezahlte!) Miete zu kassieren: in Kronen, während ich nur ein zerfleddertes Bündel alter DM-Scheine bei mir hatte.

[13] Ein andermal wird Dreher im Traum aufgefordert, einen beliebigen Ort zwischen München und dem Rhein zu nennen: er kommt auf keinen einzigen.

 

[14] Diese nahm 1951 in den USA (Univ. Chicago) ihren Anfang mit der Entdeckung unterschiedlicher Schlafphasen, wobei die nachts wiederholt auftretenden „REM-Phasen“ (Rapid Eye Movement) sich in Laborversuchen als besondere Traumphasen erwiesen – was aufschlussreiche Befunde ergab (Traumhäufigkeit und -länge, Suggestibilität des Träumers und vieles mehr); näher dazu Schredl aa0. (Fn. 8). 11 – 39.

[15] Schredl aaO. (Anm. 8) widmet dem Phänomen ein eigenes Kapitel: „Luzide Träume – Im Traum wissen, dass man träumt“, S. 182 f

[16] Neben Fromm  (s.o. Anm. 9) enthalten z.B. die zwei dtv-Bände 1335/1343 vom Febr./März 1978 „Die Hexe von Endor“ und „Der Spuk im Grabgewölbe“ auch zahlreiche augenscheinlich gut verbürgte Träume aus mehr als zwei Jahrtausenden.

 

[17] Fromm aaO. (Anm. 9), 37

 

[18] Der Biologe Hans Driesch hat Irrtums- und Täuschungsmöglichkeiten u.a. bei Berichten aus dem Bereich der Telepathie kritisch untersucht: die Echtheit der Phänomene dürfte danach als insgesamt gut gesichert gelten, vgl. Hans Driesch, Parapsychologie, Fischer (Nr. 42030), 1984 S. 24 – 27 und passim.

 

[19] Der einschlägige Begriff lautet „außersinnliche Wahrnehmung“ (ASW). Unter diesen großen Hut - in der Meinung, dort lasse sich gut munkeln - flüchtet sich mancher Unsinn. Daraus allein lässt sich freilich nicht schließen, dass alles auf Anhieb dunkler Unsinn ist. In den USA gibt es umfangreiche Forschungen über ASW, vgl. etwa Prof. Milan Ryzl, Naturwissenschaftler an der J.F: Kennedy-Univ. Orinda / Kalif.: Telepathie und Hellsehen – Was ASW möglich macht, Genf 1973. Ryzl forscht und publiziert darüber bis
heute.