(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/10, 12) < home RiV >

 

Juristenausbildung

Über den in der Juristenausbildung bislang nicht eingeführten Bologna-„Prozess“ hat unsere Ehrenvorsitzende Inga Schmidt-Syaßen bereits mehrfach in den MHR berichtet[1]. Nun ergab sich die Gelegenheit für einen Bericht aus dem Ursprungsort Bologna: nachstehenden Artikel für die MHR schrieb Daniele Viviani, der in Bologna Jura studiert und sich im März 2010 am Landgericht Hamburg weiterbildete.

Der Aktualität halber sei noch ein Artikel der FAZ vom 10.06.2010 zitiert: „Die Dekane der juristischen Fakultäten stehen der Bologna-Reform weiterhin ablehnend gegenüber. … Das hat der deutsche Juristen-Fakultätentag beschlossen, der kürzlich in Hannover zum insgesamt 90. Mal tagte. … Das gelte auch für die Studenten selbst. So habe sich die Bundesfachschaftenkonferenz 2009 einstimmig gegen die flächendeckende Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen ausgesprochen. Der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft hat dagegen unlängst gefordert, dass eine dreijährige Ausbildung zum Bachelor Regelstudiengang in der juristischen Ausbildung werden solle.“

(Red.)

 

Kein Bologna mehr in Bologna

Am 11./12.03.2010 fand das Treffen der Bildungsminister von 46 Staaten der Europäischen Union in Wien statt, um den zehnten Jahrestag der Bologna-Erklärung zu feiern.

Das Ziel dieses Abkommens war bereits im Jahr 1999, bis zum Jahr 2010 einen gemeinsamen europäischen Raum der Hochschulbildung zu schaffen, wodurch die Studierenden erhebliche Erleichterungen erhalten würden, die allesamt im Licht der Internationalisierung der Bildung standen. Am 19.06.1999 schufen die Bildungsminister von 29 Ländern der Europäischen Union und dem ehemaligen Sowjet-Block einen Harmonisierungsprozess der Hochschulbildung. Dabei entstand ein wichtiges Dokument, die sogenannte „Gemeinsame Erklärung von Bologna“. Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieser Prozess keine Initiative der Europäischen Union ist, aber dennoch erhebliche Finanzierungsmittel aus Brüssel erhält, da er sehr eng mit ihrer Politik und ihren Programmen verknüpft ist.

Die anfängliche Erklärung von Bologna formulierte sechs konkrete Punkte oder Ziele, die sich vor allem auf die Vergleichbarkeit der Studiengänge konzentrierten, wie auch auf die Mobilität von Lehrern und Schülern und die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen. Der zweite Punkt betraf ein neues Bewertungssystem und bestand aus der Anwendung von didaktischen Leistungs-Credits, um „eine optimale Mobilität der Studierenden“ zu garantieren. Der dritte Punkt bezog sich auf die konsekutiven Studiengänge (Verbindung von Bachelor und Master) und beruhte auf der Verwendung eines „Systems, das im Wesentlichen auf zwei Hauptstudienzyklen basiert, jeweils auf einem ersten und einem zweiten Studiengang. Der Zugang zum zweiten Zyklus ist nur nach dem erfolgreichen Abschluss des ersten möglich, der mindestens drei Jahre dauert. Der nach dem ersten Zyklus erworbene Titel gilt auch als entsprechende Qualifikation am europäischen Arbeitsmarkt. Der zweite Zyklus sollte hingegen zum Abschluss eines Masters oder Doktortitels führen, wie es auch in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist.

Wie man sieht, war die Formulierung dieser beiden Punkte sehr allgemein gehalten. Der Schritt zur Anwendung hätte viele Entscheidungen und Erläuterungen erfordert. In Italien unterliegen diese Erklärungen einer sehr komplizierten Ordnung. Sie können im Gesetz, das das 3+2Jahressystem[2] verabschiedet hat, beinhaltet sein oder auch nicht. Dieses System wurde mit einem ministeriellen Erlass von Minister Zecchino (erste D'Alema Regierung) unterzeichnet, dessen Erstellung vor allem auf den vorherigen Minister für Hochschulen und wissenschaftliche Forschung, Luigi Berlinguer, zurückgeht.

 

Es sei darauf hingewiesen, dass der Bologna-Prozess in seiner starken Allgemeingültigkeit absolut nicht revolutionär war: Er führte nichts Neues ein im Vergleich zu dem, was bereits an den besten Universitäten der Welt geschah.

Sicher wurden in den letzten zehn Jahren beachtliche Fortschritte im Bereich der Mobilität erzielt, wie auch in der dauerhaften Weiterbildung, in der beruflichen Ausbildung und in der Innovationspolitik.

Es ist aber auch richtig, dass viele Fachleute aus dem Bildungsbereich in dieser Reform einen neoliberalen Versuch sehen, die Logik des Marktes auch der Hochschulbildung aufzudrängen und daraus nur ein Produkt zu machen.

 

In Italien sahen die Studiengänge zunächst einen Zeitraum von 4-6 Jahren vor. Jetzt sind durch die Einführung der Bachelordiplome und der dreijährigen Programme die Abschlüsse darauf ausgerichtet, Arbeitskräfte für den instabilen Arbeitsmarkt zu liefern.

Abgesehen vom Risiko, eine allgemeine Qualitätsverringerung im Bildungsbereich zu erzielen, die heutzutage in Italien überall bemerkbar ist, hat der Mechanismus in Bologna grundsätzlich bestätigt, was bereits in den 90er Jahren mit der Reform Ruberti vorgeschlagen wurde. Das Hauptziel dieser Reform war die organisatorische und finanzielle Autonomie der Hochschulen in einem Staat, in dem die öffentliche Bildungsfinanzierung mit jedem Finanzgesetz drastisch reduziert wird. Die Reform trieb die Universitäten dazu, Verträge und Vereinbarungen abzuschließen bzw. Konsortien zu bilden oder einfach Beiträge von Privatpersonen zu suchen und damit ein Konkurrenzprinzip zu beginnen. Desweiteren verbreitete sich die Auffassung, die Universität wie ein Unternehmen zu sehen.

Die Reform von Zecchino führte durch die Umsetzung der Bologna-Erklärung auch eine Autonomie hinsichtlich der Lehrinhalte ein und ließ zugleich eine immer größer werdende Anwesenheit von Vertretern diverser Finanzfirmen innerhalb der Hochschulen zu. Diese Externen wurden in Verwaltungsräte umgewandelt. Sie beeinflussten die Lehrkurse bis hin zu den „Kunden", den Studenten, die immer höhere Studiengebühren bezahlen müssen. Es ist kein Zufall, dass in Italien die Confindustria (der Allgemeine Verband der italienischen Industrieunternehmen) der Hauptsponsor dieser Reform ist, der auf diese Weise versucht, Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Es ist klar, dass die Reform gegenüber einer allgemeinen Ausbildung feindlich eingestellt ist und eindeutig auf arbeitsorientierte Ausbildung abzielt durch das Schaffen einer unverhältnismäßig hohen Anzahl von Klassen und ebenso vielen Studiengängen, für die eine Vervielfachung des Lehrpersonals nötig sein wird. Dieses exponentielle Wachstum weist zwei Gefahren auf: unnötiges Wiederholen von Themen und Zersplitterung von Themenbereichen auf den beiden Niveaus der Studienabschlüsse; die Reform hat landesweit 42 „Klassen“ (Classe di laurea; Gruppe von inhaltlich ähnlichen Studiengängen) für den 3-jährigen Abschluss und 104 Klassen für den Doktoratsabschluss (= Master) verabschiedet.

 

Da die Ausbildung auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist, werden die Ansprüche der Wirtschaft zum Bezugspunkt des gesamten Prozesses. Dadurch werden in einem Arbeitsumfeld, das sich ständig mit rasender Geschwindigkeit verändert, aktuelle hochspezielle Inhalte gelehrt, die schon morgen überholt sind. Die Veränderung der Studiengänge führte in Italien zu einem verwirrenden Bild, das die Grundausbildung aller schwächt und vor allem den Erwerb von hohen professionellen Fähigkeiten bestraft.

Wenn man vom Bereich der wissenschaftlichen Bildung absieht, wo es sowohl Kritikpunkte als auch positive Stellungnahmen gab, sind im Bereich der Geisteswissenschaften vor allem die juristischen Berufe zu nennen, von denen man sehr spezifische Fähigkeiten fordert. Zweifellos haben die Reformen, die in Italien durchgeführt wurden, auch Schäden bei der Ausbildung von Jurastudenten verursacht. Dies ist vor allem auf die drastischen Veränderungen in den Lehrplänen zurückzuführen und auf die Verbreitung einer chronischen Desorganisation, die jedes akademische Umfeld beeinträchtigt, einschließlich des Kerns jeder Fakultät, nämlich der Verwaltung. Betrachtet man die rechtswissenschaftliche Fakultät der Alma Mater Universität von Bologna, so bemerkt man die Negativität des Bologna-Prozesses daran, dass man nach 5 Jahren zum Studienplan aus der Zeit vor der Reform zurückkehrte.

 

Seit dem Studienjahr 2001/2002 wurden in Umsetzung des Ministerialerlasses 509/1999 an der Juristischen Fakultät der Alma Mater Universität dreijährige Kurzstudienlehrgänge sowie Lehrgänge für das Doktoratsstudium basierend auf dem System der ECTS-Credits[3] eingeführt. An den Fakultäten der ältesten Universitäten Europas wurden unter Vernachlässigung der allgemeinen Bildung 5 Kurzstudienkurse und 3 Doktoratsstudien erstellt und eingeführt, die als „bestens auf dem europäischen Arbeitsmarkt einsetzbar“ bewertet werden.

Es wurde ein Bachelor's Degree (Kurzstudienabschluss) in „traditionellen juristischen Wissenschaften“ eingeführt, sowie ein Kurs in „Französischem Recht“ mit Auslandsaufenthalt und doppeltem Studienabschluss, ein spezieller Kurs für „Arbeitsberater“, und ein weiterer für „juristische Wirtschaftsmakler“, ein anderer Kurs für „Operator in Informatik und Recht“ und ein interfakultärer Studiengang, bestehend aus Politikwissenschaften, der sich „Entwicklung und internationale Zusammenarbeit“ nennen wird. Und schließlich soll das Doktoratsstudium (Master) in „Theorie und Technik der Standardisierung in E-Governance“ nicht unerwähnt bleiben. Die Nutzlosigkeit dieser großen Anzahl von hoch spezifischen Kursen ist offensichtlich.

 

Es ist natürlich klar, dass ein solches System Kurse anbietet, die zweifellos aus interessanten Lehrplänen bestehen. In der Tat war das primäre Ziel der Reform, eine methodische und kulturelle Ausbildung mit einer stark berufsorientierten zu verbinden. Ein anderes Ziel war es auch, die Zeit bis zum Diplomabschluss zu verkürzen und die Anzahl der Studienabbrecher zu reduzieren. Vom Arbeitsmarkt aus betrachtet, kann man ein eindeutiges Scheitern beobachten. Die Zeit bis hin zum Diplomabschluss konnte auf der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in keiner Weise verringert werden: ein nicht unbedeutendes Scheitern, wenn man bedenkt, dass italienische Studenten im Vergleich zum europäischen Durchschnitt immer noch den traurigen Rekord aufrechterhalten und ihren Doktoratsabschluss im Alter von 27,8 erhalten.

 

Die Reform dieser Reform ist die Verordnung 270/2004, mit der die Ministerin Letizia Moratti Änderungen an dem Gesetz vorgenommen hat, das gerade erst in der Testphase war. Das Dekret setzte sich zum Ziel, die didaktische Ordnung neu zu organisieren und die Lehrgänge für Berufe mit hoher sozialer Bedeutung neu zu definieren, wie die der Rechtsanwälte, Richter und Notare. Es war erforderlich, die Verbindung mit der Arbeitswelt zu erweitern mit dem Ziel, geschulte Fachkräfte so schnell wie möglich in verschiedenen Bereichen einsetzen zu können: im rechtlichen Bereich, in der öffentlichen Verwaltung, bei Versicherungen, im Sozialsektor, in Banken und internationalen Geschäften. Dabei änderte man die Struktur des Studienganges: Man gründete seit Beginn des Studienjahrs 2006/2007 einen Studienkurs, der aus einem einzigen Zyklus besteht und der sich auf die CFU-Credits stützt; die Studierenden müssen 300 CFU-Punkte bis zu ihrem Abschluss erwerben.

Der Lehrplan[4] ist weniger abwechslungsreich und teilweise kehrte man zu einer allgemeineren Ausbildung zurück, die aber für den Arbeitsmarkt, der sich in ständiger Veränderung befindet, ideal scheint.

 

Eine Reform, die in diese Richtung ging, war zweifellos notwendig. Die praktischen Ergebnisse, die auf den Arbeitsmarkt abfärben, kann man noch nicht beobachten. Aber sicherlich wird ein Kurs, der aus nur einem Zyklus besteht, zu einer größeren Optimierung der Zeit führen und wird einen konkreteren und seriöseren Titel liefern, der sicher auch auf dem Arbeitsmarkt besser anwendbar sein wird. Eine Möglichkeit im juristischen Bereich, einen Job nach dem Kurzstudium zu finden, war fast unmöglich, man konnte vielleicht auf eine Stelle im öffentlichen Dienst hoffen, oder auf eine Stelle als Berater für Privatpersonen. Nach einem Kurzstudium finden nur ca. 18% der Bachelor-Absolventen der juristischen Fakultät Arbeit.  

 

Die Experten, die sich mit der Arbeitswelt und dem Schicksal der italienischen Studenten beschäftigen, sind sich bewusst, dass diese Reformen natürlich nicht ausreichend sind. In der Tat haben Studenten der Bologna-Universität erst nach ca. 5 Jahren nach ihrem Studienabschluss zu 83,1% eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Dies ist vor allem auf eine mangelhafte Post-Graduate-Ausbildung zurückzuführen, die es jungen Menschen nicht ermöglicht, so früh wie möglich in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Um beispielsweise Richter zu werden, muss man 2 Jahre an gerichtlichen Schulen absolvieren, bevor man an einem öffentlichen Wettbewerb teilnehmen kann.

Um das bisher Gesagte abzuschließen: Das Projekt, das einen gemeinsamen europäischen Raum der Hochschulbildung schaffen  wollte, ist auf viele Hindernisse und Schwierigkeiten gestoßen. Nach seinem 10-jährigen Bestehen kann man sagen, dass es erhebliche Rückschläge gab, vor allem, weil die Logik des Marktes auch im Bildungsbereich angewandt werden sollte. Die Fakultät von Bologna, wie auch die anderen rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Italien, haben sich für einen Mittelweg entschieden, in dem sie die grundlegenden Kriterien des Bologna-Prozesses aufrecht erhalten, aber die unnötige Zersplitterung des Studiums in zwei Zyklen abschaffen. Das ist sicher eine mutige Entscheidung, die vielleicht auch Auswirkungen auf andere Fakultäten haben wird.

Nach diesem Überblick über die Reformen der Vergangenheit kann man einige einfache Vorschläge festhalten, um das wenige Positive, das es noch im italienischen Universitätssystem5 gibt, zu retten: mehr öffentliche Finanzierungen, mehr Autonomie und die Verringerung von privaten Einrichtungen innerhalb der Verwaltungsräte, rigorose Bewertung der einzelnen Hochschulen in ihrem Gesamtkomplex und den Strukturen, aus denen sie sich zusammensetzen (Abteilungen, Studiengänge, Fachschulen), um letztlich die Verbreitung von neuen kleinen Universitäten und weit entfernten Sitzen zu verhindern, die zu einer Aufsplitterung der Finanzierungsmittel führen. Letzten Endes kann man aber auch unter Berücksichtigung dieser Kriterien nicht mehr eindeutig sagen, dabei im Sinn des Bologna-Prozesses zu handeln.

 

Daniele Viviani


 

[1] MHR 4/2006, 26; 1/2008, 27; 4/2008, 16

[2]  Ursprünglich dauerte das Studium an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät 4 Jahre (die sogenannte alte Regelung).

[3]  So nennt man das Arbeitsvolumen, das im Studienplan für jeden Studenten vorgesehen ist. Ein Credit entspricht 25 Arbeitsstunden. Dreijährige Studienkurse sehen 180 Credits vor, während für den Doktoratsabschluss 120 Credits nötig sind.

[4]  Der Lehrgang sieht jedes Jahr die Möglichkeit vor, eine Prüfung zu wählen; im fünften Jahr kann alles frei gewählt werden.

[5] In der Statistik des Top University World Ranking 2009 befindet sich die Universität von Bologna auf Platz 174 der besten Universitäten der Welt.