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Podiumsdiskussion
zum Thema Sicherungsverwahrung
am 14.02.2012
„Bürger in Angst, Justiz in Not?“
Wie geht man mit gefährlichen oder hochgradig gefährlichen Tätern um? Sicherungsverwahrung – das war in Deutschland ein klarer Fall, notfalls auch nachträglich, und auch politisch einfach: „Wegsperren für immer!“, so lautete Kanzler Schröders Versprechen. Dieser Lösung fehlten von Anbeginn Mittel und Plätze, seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, mit der es die rückwirkend angeordnete Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärte, entbehrt sie auch die Rechtsgrundlage[1].
Durch die veränderte Rechtslage treten legitime Ansprüche der Täter auf Resozialisierung und die (enttäuschten) Erwartungen der Bürger an die Sicherheit in ihrem Lebensumfeld in Spannung zueinander. Für Hamburg ist dieser Konflikt nicht akademisch, sondern real. Mit der Entscheidung des Senats, ehemalige Sicherungsverwahrte in Jenfeld anzusiedeln, ist nicht nur eine lokal begrenzte Standortdiskussion, sondern eine Grundsatzdebatte entbrannt: Wie viel Risiko kann und muss eine Gesellschaft aushalten? Und wie kann der Rechtstaat vor den Ängsten der Bürger bestehen?
Mit einer Podiumsdiskussion, die unter dem Titel „Bürger in Angst, Justiz in Not?“ am 14.02.2012 in der Grundbuchhalle stattfand, hat der Hamburgische Richterverein dieses brisante Thema aufgenommen.
Unter der Moderation des Abendblatt-Redakteurs Peter Ulrich Meyer diskutierten – zunächst auf dem Podium, dann unter Beteiligung des Plenums im Saal – der Staatsrat der Behörde für Justiz und Gleichstellung Dr. Ralf Kleindiek, die rechtspolitische Sprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion Viviane Spethmann, die Vorsitzende Richterin am Landgericht Maj Zscherpe, der Chefarzt der forensischen Psychiatrie der Asklepios Klinik Nord Dr. Guntram Knecht und der Spiegel-Redakteur Dr. Thomas Darnstädt.
Die Teilnehmer des Podiums erläuterten in ihren ersten Stellungnahmen, welche Probleme die Leitfrage nach dem für eine Gesellschaft tolerablen Risiko aufwirft. Für die Politik stellen sich dabei unterschiedliche Handlungsoptionen: Auf Resozialisierung setzen und ganz konkrete Konzepte entwickeln, das sei – so Staatsrat Dr. Kleindiek – die Position der Justizbehörde, während die Abgeordnete Spethmann die Minimierung des Restrisikos, ggf. unter Ausschluss der Entlassenen aus der Gesellschaft, in den Vordergrund stellte. Beide räumten ein, dass aus der Politik eindeutige und einfache Lösungen noch nicht angeboten werden könnten; man habe sich das Thema nicht ausgesucht und müsse noch lernen, damit umzugehen, aber selbstverständlich liege die Verantwortung bei der Politik – und die, so der Staatsrat, sehe z.Zt. keine Alternative zu der in Jenfeld gefundenen Lösung. Unterbringung, Sicherheit und Arbeit, darauf konzentriere sich das Hamburger Konzept, mit solchen Resozialisierungsmaßnahmen könne man konkrete Rückfallrisiken beherrschen. Frau Spethmann zog eher eine negative Bilanz der letzten Monate: Nicht nur die Informationspolitik, auch die Wahl des Standortes seien ein „Desaster“, denn mit der Unterbringung in einem Wohngebiet habe man nicht nur die Bürger verunsichert, sondern auch die Sicherungsverwahrten der „Bevölkerung zum Fraß vorgeworfen“. Die Bürger seien überfordert; denn sie sähen nur, dass die Justiz zwar das „Restrisiko“ kenne, es aber auf die Bürger abwälze. Sie machte den Vorschlag, die Sicherungsverwahrten außerhalb der Stadt im Hafen oder in einem Industriegebiet unterzubringen. Sowohl der Staatsrat als auch die Richterin auf dem Podium, Frau Zscherpe, wiesen das entschieden zurück. Man könne die Entlassenen nicht aus der Gesellschaft ausschließen, ohne ihre Resozialisierung zu gefährden oder ihre Kontrolle unmöglich zu machen und damit letztlich auch den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung entgegen zu wirken.
Stellvertretend für die Justiz sollte Frau Zscherpe die Frage beantworten, nach welchen Kriterien entschieden werde und wann eine Entlassung vertretbar ist. Zscherpe hat die im Titel der Veranstaltung gestellte Frage offen und klar aufgegriffen: In gewisser Weise sei die Justiz in Not gewesen, als sie vor zwei Jahren durch die Entscheidungen des EGMR und des BVerfG vor die Aufgabe gestellt worden sei, konkrete Entlassungsentscheidungen zu treffen. Inzwischen habe man aber handhabbare Kriterien entwickelt. Heute stellten vor allem die aufgebrachte Presse und die besorgte Bevölkerung die Justiz vor ungelöste und bisher unbekannte Probleme: Die für eine Aufnahme bereiten und geeigneten Einrichtungen fürchteten, von der Bevölkerung und der Presse belagert zu werden, gleichzeitig würden die Gefahren dramatisiert und Resozialisierung für unmöglich erklärt. Zwar bleibe es die Aufgabe der Justiz, ihre Kriterien zu schärfen und verantwortungsvoll anzuwenden, aber die Einstellung gegenüber den Entlassenen müsse sich auch ändern. Straftäter, bei denen aktuell eine hohe Gefährdung festgestellt würde, würden aber schon jetzt nicht entlassen – was in der öffentlichen Diskussion meist ignoriert würde. Zscherpe plädierte daher auch für mehr Vertrauen in die Entscheidungen der Justiz: „Es gibt einzelne Menschen, die sind hochgefährlich, und ich sehe es als meine Aufgabe, die Gesellschaft vor diesen Menschen zu schützen“. Ein theoretisches Restrisiko rechtfertige es aber nicht, „viele Menschen einzusperren, die nicht mehr hochgefährlich“ seien. Das legitime Resozialisierungsinteresse und die Würde des Täters hätten dann Vorrang vor dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach umfassendem Schutz. Konkrete Rückfallrisiken müssten durch gerichtliche Kontrolle in Form von Auflagen und Weisungen und die Betreuung vor Ort, etwa durch die Bewährungshilfe und Psychologen aufgefangen werden.
Der Psychiater Dr. Guntram Knecht bestärkte die These, dass man das Restrisiko und damit ein noch existentes Gefahrenniveau medizinisch bewerten könne, ohne dass jedes Restrisiko ausgeschlossen werden könne. Problematisch für ihn sei der fehlende Konsens in der Gesellschaft, wie viel Risiko man bereit sei zu akzeptieren, wenn man nicht alle wegsperren kann – und darf. Die Diskussion um die Sicherungsverwahrung drohe in einer Sackgasse zu landen, da die Risikodebatte nicht sachlich geführt werde, sondern nur die irrationalen Ängste schüre, die das „Echo der seit Jahren gesäten Angst“ seien. Deutschland müsse sich zunächst psychologisch von dem Schock erholen, dass es trotz gesetzlicher Verschärfungen die versprochene Sicherheit nicht gebe. Die Einstellung zu ändern sei deshalb primär, in einer offenen Gesellschaft gebe es umfassende Sicherheit nur zum Preis der totalen Überwachung.
Der an die Presse gerichtete Vorwurf, über eine unsachliche Berichterstattung Ängste zu schüren, wurde von Spiegel-Redakteur Darnstädt aufgegriffen. Er gab zu bedenken, dass die Berichterstattung über die entlassenen Sicherungsverwahrten nicht rechtmäßig gewesen sei. Man dürfe nicht öffentlich machen, dass und wohin Sicherungsverwahrte entlassen werden; auch die Presse trage Verantwortung für die Resozialisierung, die durch dramatisierende und skandalisierende Berichterstattung gefährdet würde.
Der Vertreter der Presse zeichnete damit den Konsens auf dem Podium vor: Ein (Rest)Risiko gehört zu einer freiheitlichen Gesellschaft, die verantwortliche Wahrnehmung von Entlassungen durch die Rechtsprechung und die politische Unterstützung von Resozialisierung machen das Risiko kalkulierbar, Sachlichkeit sei das Gebot für die öffentliche Diskussion.
Die Beteiligung des Publikums an der Diskussion machte noch einmal die Schwierigkeiten der Vermittlung eines entsprechenden Umgangs mit (Rest-)Risiken bewusst. Den Auftakt machte hier die Kritik des ehemaligen Staatsrats Wellinghausen, der der Politik vorwarf, die verständlichen Ängste der Bürger nicht in die Abwägung ihrer Maßnahmen eingestellt zu haben. Vertreter einer Jenfelder Bürgerinitiative und direkte Nachbarn der Jenfelder Einrichtung stimmten dieser Diagnose deutlich zu: Sie seien nicht bereit, allein das Restrisiko zu tragen und könnten deshalb auch nicht akzeptieren, dass offensichtlich ohne Suche nach Alternativen allein Jenfeld das Problem schultern solle. „Warum nur die Jenfelder?“ war die dominierende Frage. Die weithin theoretischen Ausführungen des Podiums führten nicht zur Beruhigung, denn für die betroffenen Anwohner geht es nicht um ein abstraktes Risikokalkül, sondern um die Folgen einer als Bedrohung empfundenen Situation. Und sie selbst benennen die Defizite der Risikokommunikation: „Wir lesen jeden Tag in der Bild-Zeitung wie gefährlich die Täter sind“. Sachliche Information fehlt offenbar, genauso wie theoretische und professionelle Distanz zum Problem. Täter und Polizei vor ihrer Tür sichern nicht nur, die Bürger fühlen sich in ihrer Freiheit durch Sicherheitsmaßnamen eingeschränkt, die 24stündige Überwachung der Sicherungsverwahrten durch die Polizei symbolisiert die Gefahr, die vermeintlich – so die Politik – gar nicht drohe.
Auf dem Podium hebt das unmittelbare Erleben der Sorgen der Bürger auch die professionelle Distanz auf: Frau Zscherpe jedenfalls, berührt von den Beiträgen der Anwohner, kann glaubhaft vermitteln, dass sie die Beeinträchtigung im Alltag und das Gefühl der Bedrohung, das durch Polizeipräsenz vermittelt wird, nachvollziehen kann.
Schon damit hat sich für Justiz und Betroffene das Risiko der Veranstaltung gelohnt; sie hat Gehör geboten und gezeigt, dass das Ansehen der Justiz gewinnen kann, wenn sie bereit ist, sich öffentlich zu erklären und darüber hinaus, dass die gerichtlichen Entscheidungen offensichtlich Akzeptanz erfahren. Im Zentrum der Kritik stand das Risikomanagement der Politik und es wurde deutlich, dass bei den Bürgern ein großes Bedürfnis besteht, in die Entscheidungsprozesse, wie auch in die weitere Diskussion einbezogen zu werden.
Dieses Bedürfnis könnte ein Anknüpfungspunkt sein, um der Diskussion konkrete weitere Schritte folgen zu lassen. In diesem Sinne äußerte sich auch die Rechtsanwältin Dr. Woynar im Anschluss an die Veranstaltung: Die Bürgerinitiativen könnten als Forum für die Diskussion über die Risikogesellschaft genutzt werden, um einer unvermeidlichen negativen Gruppendynamik entgegenzuwirken. Vielleicht sollten wir auch in Hamburg über diesen Weg nachdenken, denn Herr W. und Herr D. werden nicht die Letzten sein, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden.
Miriam Sperschneider
[1] Im Jahr 2002 wurde die vorbehaltene Sicherungsverwahrung und 2004 die nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt und die bis dahin geltende 10-Jahreshöchstfrist für die Dauer der Sicherungsverwahrung aufgehoben. Letzteres kippte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 17.12.2009, denn die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die im Zeitpunkt der Verurteilungen geltenden 10 Jahre hinaus verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Das Bundesverfassungsgericht sah in seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 auch die rückwirkend angeordnete Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig an, zog aber eine Grenze und erklärte anknüpfend an den BGH-Beschluss vom 09.11.2010, dass nur hochgefährliche Täter weiter in der Sicherungsverwahrung verbleiben dürfen: „Eine rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung kann daher nur noch als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (vgl. auch bereits BGH 5. Strafsenat | 5 StR 394/10), und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in der hier zugrunde gelegten Auslegung erfüllt sind. Lediglich in solchen Ausnahmefällen kann noch von einem Überwiegen der öffentlichen Sicherheitsinteressen ausgegangen werden“.