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Offenbarungseid
im
Strafverfahren?

"Offenbarungseid" - sicherlich überzogen, aber mediengefällig.

Manch einer, der im Fernsehen am 26.03.1992 die Sendung "Brennpunkt" gesehen und die Presseberichte davor und danach verfolgt hat, wird sich erstaunt die Augen gerieben und gefragt haben: Was ist mit unseren Strafverfahren in Hamburg los - und nicht nur in Hamburg?

Sicherlich ist nicht alles kaputt. Das Strafverfahren gegen "Hühnerdiebe" funktioniert noch, sofern die Staatsanwaltschaft ihre Anklagen geschrieben bekommt. Aber beim Landgericht, das nun einmal für die schwere Kriminalität zuständig ist, liegt manches im argen. Die Großen Strafkammern ächzen unter der zunehmenden Last von Großverfahren.

Die Sache wurde ruchbar, als die Presse von Haftaufhebungen nach § 121 StPO erfuhr. In 9 Fällen hatte das Hanseatische Oberlandesgericht die Haftbefehle nicht mehr gehalten; hinzu kamen weitere Fälle, in denen Strafkammern von sich aus wegen Überlastung Beschuldigte herausließen. Natürlich sind es nur Haftaufhebungen, welche die Öffentlichkeit wachrütteln können. Der ebenfalls zunehmende Bestand sogenannter Nichthaftsachen ist für die Presse weniger "verkäuflich". Aber auch hier gibt es Opfer, auch hier gibt es Beschuldigte, die Anspruch auf ein zügiges Verfahren haben. Tagtäglich werden auch hier die Menschenrechtskonvention und der "Justizgewährungsanspruch" - wie es so schön heißt - verletzt.

Wie konnte es dazu kommen?

Unser Strafverfahren hat sich verändert. Und das wissen wir nicht erst seit heute.

? 1907 wurden von den damals 4 Großen Strafkammern des Landgerichts mit 12 Berufsrichtern 3.769 Personen "abgeurteilt".

? 1982 wurden von 27 Großen Strafkammern mit 81 Berufsrichtern 1.232 Strafverfahren abgeschlossen.

? 1991 wurden von 30 Großen Strafkammern mit 90 Berufsrichtern ca. 980 Verfahren erledigt.

Was steht dahinter?

Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Die Zeiten, in denen wir gegen den "ehrlichen Einbrecher" verhandelten, sind längst vorbei. Dieser wird von der Polizei kaum noch verfolgt. Das "abweichende Verhalten" geht durch alle Gesellschaftsschichten: Manager, Ärzte, Beamte (auch Justizbedienstete) stehen ebenso vor der Großen Strafkammer wie der "Verbrecher" aus der "kriminologischen Unterschicht". Der sog. Tätertyp und sein Verteidigungsverhalten haben sich verändert. Verändert haben sich die Ermittlungsstrategien der Kriminalpolizei. Der Autodieb, der kleine Dealer sind von geringem Interesse. Es geht um die Verfolgung der Hintermänner. Und Schreibtischtäter zu überführen, war schon immer eine schwierige Sache.

Was ist zu tun?

Jeder hat seine Patentrezepte: Änderung des § 121 StPO, Änderung des Beweisantragsrecht, mehr Strafbefehle, "Entkriminalisierung", flottere Strafrichter und vieles andere mehr.

Eines sollten wir nicht tun: Auf den Bundesgesetzgeber hoffen. Irgendwann wird er irgendwie reagieren. Vielleicht wird es ihm gelingen, durch Kunstgriffe die Arbeit bei den Gerichten anders zu verteilen, gleichzeitig wird er aber neue Tatbestände und Anspruchsnormen erfinden, am eigentlichen Problem aber nichts ändern oder auch nur ändern können.

Schnelle Lösungen - und um die geht es - können wir nur bei uns selbst in Hamburg finden. Die Justiz ist Ländersache. Lösungen können nur die Richter, die Mitarbeiter in den Geschäftsstellen und Kanzleien und mit ihnen die Justizbehörde, der Senat und die Bürgerschaft gemeinsam erarbeiten.

Die Haftaufhebungsbeschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts haben die Bürger verängstigt, Landrichter betroffen gemacht und Politiker vielleicht verärgert. Verstehen wir § 121 StPO richtig, dann könnten wir aber auch sagen: Das Landgericht mag im Strafverfahren Probleme haben, der Rechtsstaat aber funktioniert. Auch die "4. Gewalt" ist noch intakt.

Roland Makowka