Wer kennt nicht diesen Spruch, der sich für viele von uns mit der aufgeregten Beklommenheit seiner juristischen Staatsprüfungen verbindet? Und dann hat mancher von uns, selbst Prüfer geworden, so manchen lieben Examenstag das Epigramm im Rücken gehabt. ...
In einer Dankesrede zur Verleihung der Emil-von-Sauer-Medaille hat Herr Dr. Jan Albers, Präsident des Hamburgischen OVG i.R. über den Spruch folgendes gesagt:
... Damals, 1949, sahen die Kandidaten noch das große Gruppenbild "Sieveking und seine vier Senatspräsidenten" von Kalckreuth vor sich, das in den fünfziger Jahren einen neuen Platz im Flur fand. Seitdem fallen die Blicke der Kandidaten (und der Hörer) wieder auf den Spruch "Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht."
Dieser Spruch gibt Rätsel auf: Mein unvergessener Lehrer Helmuth Brauer pflegte zu sagen, der Spruch sei ohne jeden Sinn, weil er unzulässigerweise das Sollen mit dem Sein gleichsetze. Was der Spruch aussagt, ist in der Tat schwer zu verstehen. Deshalb lohnt es sich, sich mit ihm etwas näher zu befassen.
Wie es zu der Inschrift gekommen ist, ließ sich mit Hilfe des Staatsarchivs leicht feststellen: in der einschlägigen Akte der Justizverwaltung findet sich ein Schreiben an die Baubehörde, in dem aufgrund einer Anfrage der Architekten Lundt & Kallmorgen mitgeteilt wird, daß als Spruch für den Plenarsaal "der aus einer alten deutschen Spruchsammlung stammende Spruch 'Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht' geeignet erscheine." Auf dem Konzept ist vermerkt: "Entnommen aus Johannes Agricola von Eisleben, Dreyhundert gemeyner deutscher Sprüchwörter, Nürnberg 1529.8". Agricola, Schüler und Weggenosse Luthers, ist der Herausgeber der ersten deutschen Sammlung dieser Art, die er in mehreren Ausgaben bis 1534 auf insgesamt 750 Sprichwörter und Redewendungen erweiterte. Schlägt man diese Sammlung auf, so sucht man unseren Spruch zunächst vergeblich: er befindet sich nicht unter den 750 Sprüchen und taucht auch in Agricolas Registern nicht auf. Auf die Spur bringt den Suchenden das dickleibige Werk "Deutsche Rechtssprichwörter, unter Mitwirkung der Professoren J.C. Bluntschli und K. Maurer gesammelt und erklärt von Eduard Graf und Mathias Dietherr", das 1864 im Beck-Verlag erschienen ist: hier ist die Fundstelle bei Agricola angegeben. Schlägt man dort nach, so trifft man auf den Spruch Nr. 63: "Was hundert jar unrecht ist gewesen/das ward nie kein stunde recht." Diesen Spruch hat Agricola erläutert, und damit sind wir am Ziel:
unrecht werden/und wenn es vil tausent jar für unrecht
ist gehalten. Diß ist eine starcke erfarung/wie die
warheit alle zeyt obsiget/denn recht ist warheit/warheit
ist recht. Recht ist das/das wedder Gott noch menschen/
wedder vernunfft noch menschliche natur taddeln kan.
..... Es kompt aber unterweilen/das man mit gewalt/den
andern überfellet/und wo einer das seine nicht so gar mit
gewalt verteydingen kan/und muß faren lassen/so alle
giret man praescriptionem/das die lange zeyt/dem der da
recht hat/sein recht nimpt/und gibts dem/der unrecht dazu
hat. Widder diesen brauch schreyet die warheit/und
sagt/Es helffe kein praescription/kein lange zeyt/und
wenn es auch vil tausent jar weret/So kan doch die
zeyt und kein creatur billichen/das recht sol unrecht
sein/der zeyt halben. Was recht ist gewesen zu Adams
zeyten/das ist und bleibt recht biß an jüngsten tag/ja
wenns gleich alle welt für unrecht helt."
Das mit unserem Spruch Gemeinte läßt sich zwar nicht unmittelbar aus seinem Wortlaut, wohl aber aus dem Sinnzusammenhang herleiten, in den er von Agricola gestellt worden ist. Sein Sinn läßt sich vielleicht am ehesten mit folgenden Worten wiedergeben:
Das Recht ist unerschütterlich wie die Wahrheit,
die Wahrheit ist unwandelbar wie das Recht.
Ich gebe zu, daß der zweite Teil auch in dieser Deutung nicht so recht befriedigt. Daß Agricola selbst seine Formulierung so verstanden hat, wird aber von ihm selbst bestätigt: in seiner Erläuterung des Spruchs Nr. 96 ("wer recht tut/der wird es finden") sagt er:
"Droben ist gesagt, recht bleibt recht, warheyt bleibt
warheyt."
Meine Damen und Herrn, lassen Sie mich zum Schluß an den Anfang meiner Betrachtungen zurückkehren. Als die Kriegsgeneration der Referendare, zu der ich gehöre, in erschütternder Eindeutigkeit erfuhr, was in den Jahren vor 1945 wirklich geschehen war, beherrschte uns alle wohl der Gedanke: nie wieder ! Nie wieder durfte es geschehen, daß das Recht - von dem der Spruch vor Ihnen kündet - verdreht, mißbraucht und mit Füßen getreten wird!