(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/92) < home RiV >
"Federstriche"

Anmerkungen zu einem Beitrag des Kollegen Günter Bertram - MHR 2/1992

Es bereitet - offengestanden - mehr Vergnügen, die Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins zu lesen als die klugen, aber zumeist viel zu langatmigen Abhandlungen in der Deutschen Richterzeitung. Die Autorinnen und Autoren schreiben amüsant und breiten erstaunliches Wissen aus, elegant und scheinbar nebenbei feilgeboten, und doch sicherlich häufig mühsam erlesen und gesammelt.

Ich bekenne mich dazu - die anderen mögen es mir nachsehen: Mein Favorit unter den Schreibern ist Günter Bertram, der seit Jahren nachdenklich und nachsichtig, manchmal mit feiner Ironie, immer aber erfrischend deutlich dem Zeitgeist den Spiegel vorhält. Was er, ein wandelndes Archiv der Zeitgeschichte und ein meisterhafter Germanist dazu, über unser "Geschwätz von gestern" (er selbst drückt es natürlich feiner aus) anmerkt, wird - so fürchte ich - die, die es angeht, kaum erreichen. Es werden weiter Legenden gewoben werden, andere Feindbilder werden erstehen, und es werden sich Mittel und Wege genug finden, die Gesellschaft in Lager zu spalten, die mit allein seligmachenden Wahrheiten aufeinander einschlagen, das Erreichbare dem Blick entrückt.

Die Schlußsätze der "Federstriche" klingen resigniert, und das stimmt traurig, mag es auch der Schluß des Weisen sein. Wir "Wessis" ruhen uns bequem aus auf unserer freiheitlich-demokratischen Vergangenheit, betrachten das Gemetzel der DDR-Bewältigung so, als hätten wir nichts damit zu tun, richten allenfalls: Die "Ossis" haben eben Pech gehabt, und nicht nur das: Die waren doch fast alle Spitzel. Unterstellt, daran sei mehr als ein Körnchen Wahrheit:

Auch der DDR-Bürger hatte nur e i n Leben, und er hatte nur eine Heimat, denn eine andere zu suchen war ihm gewaltsam verwehrt. Die "innere Emigration", so ehrenhaft sie gewesen sein mag, bedeutete in der Regel Ausgeschlossensein von weiterführender Schul- und Berufsausbildung, Verzicht auf Studium, kärgliches Auskommen auch für die nächste Generation. Wer hat den Mut zu sagen: Das hätte der Maßstab sein müssen, und wenn man sich bis in alle Ewigkeit hätte bescheiden müssen? Maßstab auch für den Hochintelligenten, für den außergewöhnlich Begabten, den Familienvater, der seine Kinder ohnehin jenem Staat ausgeliefert sah?

Hier soll nicht der Clique das Wort geredet werden, die in blindem Fanatismus ein Volk entmündigte und die Menschen zu Leibeigenen machte, auch nicht denen, die um der fetten Pfründe willen Überzeugungen und Freunde verrieten, über Gebrochene hinweg die Karriereleiter erklommen. Aber ließe sich nicht ein Unterschied machen zwischen jenen Stützen des Regimes und diesen, die sich schlicht arrangiert haben? Worauf hätten diese denn hoffen sollen, schien doch jener Staat noch Generationen überdauern zu wollen?

Damit kehre ich zurück zu uns im Westen und frage: Hatten wir wirklich nichts damit zu tun? - Sicherlich: den Menschen in der früheren DDR volle Menschen- und Bürgerrechte, gar das Recht auf Selbstbestimmung zu verschaffen, das wäre bis Herbst 1989 vermutlich trotz aller KSZE-"Körbe" nicht möglich gewesen. Keiner Regierung in der alten Bundesrepublik (warum eigentlich immer noch "BRD"?) kann deshalb ein Vorwurf daraus gemacht werden, daß zunehmende Erleichterungen für die Menschen hüben und vor allem drüben mit der schrittweisen Anerkennung eines Staatsgebildes erkauft worden sind, dessen Entstehen das Ergebnis einer de-facto-Annexion war und das jeglicher demokratischer Legitimation entbehrte. Daß dieser Staat darüber hinaus - wie wir heute wissen - im wesentlichen durch Zwangsumtausch, Intershop, Transitgebühren und westdeutsche Milliardenkredite am Leben erhalten worden ist, war ebenfalls im Überlebensinteresse seiner Bürger. War es aber auch im Interesse der Menschen in der früheren DDR, oder welchem moralischen Gebot entsprach es allenfalls,

· die Zweistaatlichkeit lauthals als nicht nur unabänderlich, sondern als höchst wünschenswert zu propagieren?

· die Menschen von der deutschen Staatsbürgerschaft abschneiden zu wollen mit all den Folgen, die sich daraus für die Vertretung dieser Menschen im Ausland und gegenüber "Republikflüchtigen" ergeben hätten?

· die Einkerkerung als Folge einer permanenten westdeutschen Wirtschaftsaggression gutzuheißen?

· den zweiten deutschen Staat als beispielgebenden Hort des Humanismus und der sozialen Gerechtigkeit (und des Antimilitarismus!) zu preisen, obwohl das Gegenteil für jedermann, so er denn nur hören und lesen wollte, offenkundig war?

· permanente Genugtuung auszudrücken über die einmalige Chance für das sozialistische Experiment, so, als werde es an Kaninchen oder in einer Legebatterie vollzogen?

· die Tötungshandlungen an den Grenzen der früheren DDR unter Hinweis auf das westdeutsche "Grenzregime" zu rechtfertigen, nach dem "Grenzdurchbrüche" ebenfalls hätten gewaltsam verhindert werden müssen - so, als hätte der DDR-Bürger sich lediglich mit seinem Personalausweis am Grenzübergang einzufinden brauchen, um aus und mit Sicherheit auch wieder einreisen zu können?

· von Partei zu Partei Gespräche mit den Chefideologen des Sozialismus zu führen und gemeinsame Papiere zu verabschieden?

· die Tätigkeit der Erfassungsstelle Salzgitter als völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates zu brandmarken und die Zahlungen für die Erfassungsstelle einzustellen - so, als grenze die Bundesrepublik an Haiti oder an die Manschurei?

War es um des Friedens willen notwendig, das Unvermeidbare nicht lediglich hinzunehmen, es hier und da zu lindern, sondern das Unrecht darüber hinaus mit dem Mantel der Legitimität zu umgeben? War es notwendig, Millionen die Hoffnung auszureden, sich mehr als nur arrangieren zu können in einem Gemeinwesen, das sie besser hätten gestalten können als es ihnen erlaubt wurde?

Auch wir im glücklicheren Westen haben 40 Jahre Vergangenheit zu bewältigen und es jeder für sich mit uns auszumachen, was wir mitzuverantworten haben an der abgrundtiefen Resignation und Hilflosigkeit, die uns noch heute in den Ländern der früheren DDR begegnet. Und wir wären gut beraten, wenn wir den Ursachen nachgingen für das destruktive Verhalten vieler Intellektueller, denn es droht, nicht Vergangenheit zu bleiben, sondern es hat womöglich Zukunft in unserer Neigung, alles theoretisch Machbare zugleich für gut zu befinden, unseren Absichten mehr Gewicht zuzumessen als unseren Taten, über den Inhalt (Gerechtigkeit) das ihn schützende Gefäß (Demokratie) zu vernachlässigen und das Prinzip der Mehrheitsentscheidung zu diffamieren als das Gefängnis für die nur einer Elite zugängliche Wahrheit.

Jürgen Franke