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Das Hamburgische
Verfassungsgericht

Die Anfechtung der Bürgerschaftswahl vom 2. Juni 1991 und das Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 4. Mai d.J. haben der Öffentlichkeit wieder ins Bewußtsein gerufen, daß nicht nur Karlsruhe eine Institution beherbergt, die allein durch Auslegung von Paragraphen die Erde erbeben lassen kann. Die Aufmerksamkeit ist geweckt - unbeschadet aller Meinungsverschiedenheiten durch den Spruch selbst, der - wie könnte es anders sein - gelobt wird und gescholten. Über das Auf und Ab der Meinungen lese man die allgemeine Presse - einschließlich wiederholter Erklärungen der Pressestelle des Hamburgischen Verfassungsgerichts -, während ein fachliches Echo wohl erst zu erwarten ist, wenn das Urteil schriftlich vorliegt, was jedenfalls jetzt, bei unserem Redaktionsschluß, noch nicht der Fall ist.

Verfassungsgericht: Was ist das? Wer ist das? Was tun die? Wie machen sie es? So vielleicht läßt sich ein zunächst diffuses Interesse detaillieren. Natürlich gelten die lebhaftesten, die sozusagen neugierigen Fragen dem Spruch vom 4. Mai und seinem "Drum und Dran"; gerade hier aber werden wir unsere Leser enttäuschen - enttäuschen müssen.

Soweit Verfassung und Gesetze die Institution und ihre Aufgabe

ordnen, kann man es nachlesen; das wird die Redaktion für die Leser hier besorgen - freilich nur kursorisch. Im übrigen -darüber, "wie die wirklich ihre Sache machen" - kann nur ein Verfassungsrichter etwas sagen. Da amtierende aus offenbaren Gründen dafür nicht in Betracht kommen, haben wir einen früheren gebeten, uns etwas weiterzuhelfen:

Gerd Ross, der 10 Jahre lang als Richter am HmbVerfG tätig gewesen ist, hat sich unserem eiligen Ansinnen freundlicherweise nicht verschlossen.

1. Kleine Institutionskunde

Nach Art. 65 (1) HmbVerf besteht das HmbVerfG aus dem OLGPräs und acht weiteren Richtern; zwei von ihnen sind Berufsrichter und werden vom Senat ernannt. Die sechs anderen werden von der Bürgerschaft auf fünf Jahre gewählt. Niemand darf selbst diesem Parlament angehören. Jeder Richter hat seinen, auf jeweils gleiche Weise bestellten, ständigen Vertreter, der gegebenenfalls nachrückt. Nach dem Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgesetz vom 23.03.1982 darf die 7-Zahl nie unterschritten werden, widrigenfalls die Beschlußfähigkeit entfällt; § 6 (3) bestimmt Näheres. Die von der Presse (zutreffend) mitgeteilte Gerichtsbesetzung vom 4. Mai d.J. (vgl. Hamburger Abendblatt vom 05.05.1993 Titelseite: "... von links ...: RA Brüggemann, Senatorin a.D. Leithäuser, OVGPräs Rapp, FinGPräs Toboll, OLGPräs Dr. Plambeck, Bürgerschaftspräsident a.D. Dau, RA'in Stadler-Euler, RA Hauenschild.") kam dadurch zustande, daß verschiedene "Parlamentarische" wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt worden waren, im Einzelfall auch der nachgerückte Vertreter durch Selbstablehnung entfiel, so daß nur acht geblieben waren.

Die sachlichen Aufgaben des Gerichts ergeben sich aus Art. 65 (2) Z. 1-6 der Hamburgischen Verfassung: Auslegung der Landesverfassung, Gültigkeit Hamburgischen Rechts, sonstige rein Hamburger Angelegenheiten - alles das soll in den Mauern dieser Freien und Hansestadt vor einem Hanseatischen Gericht und nicht vor Dritten ausgefochten und entschieden werden. Darunter fällt auch das Befinden "über Beschwerden gegen Entscheidungen der Bürgerschaft, welche die Gültigkeit der Wahl ... betreffen".

Darum ging hier der Streit: Die Bürgerschaft hatte entschieden, die Wahl vom 02.06.1991 sei in Ordnung gewesen. Das Verfahren vor dem HmbVerfG ist überwiegend im Gesetz vom 23.03.1982, zum Teil auch in der Geschäftsordnung vom 28.03.1956 geregelt. Jeder von uns weiß, daß Theorie und Wirklichkeit eines Verfahrens zwei verschiedene Paar Schuhe sein können; man denke an die berühmte "Hamburger ZPO". Gleichwohl ist das normative Korsett nicht ohne alles Interesse:

Subsidiär gilt die VerwGO; die abweichenden Regelungen folgen durchweg aus der Logik der Institution VerfG und sind nicht besonders mitteilenswert. Nur dies: Entschieden wird mit Stimmenmehrheit; bei Gleichstand (was z.B. bei einer 8er-Besetzung der Fall sein könnte) gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag. Wie beim BVerfG kann das Stimmverhältnis bekanntgegeben werden (im gegebenen Fall: 6:2); Sondervoten sind zulässig. Urteile sind - durch den Vorsitzenden - unter Mitteilung der wesentlichen Gründe in öffentlicher Sitzung zu verkünden. Die Entscheidungen sind schriftlich abzufassen, zu begründen und von den mitwirkenden Richtern zu unterzeichnen.

Zur normativen Binnenstruktur des Gerichts ergibt sich aus der Geschäftsordnung:

Der Präsident kann jeweils einen oder mehrere Berichterstatter bestellen, und zwar aus dem Kreis der Verfassungsrichter. Der BE erstattet dem Präsidenten ein schriftliches Votum zum Fall.

In der Beratung hat er die erste Stimme. Die - spätere - schriftliche Begründung einer Entscheidung verfaßt "das vom Vorsitzenden beauftragte Mitglied des VerfG" (das jedenfalls nach dem Wortlaut des § 13 Geschäftsordnung nicht unbedingt der BE sein müßte). Und wenn man sich über den Entwurf nicht einigen kann? "Erhebt der Vorsitzende oder ein Mitglied des VerfG Bedenken und werden diese nicht durch Änderung des Entwurfs beseitigt, so stellt das Verfassungsgericht die Begründung fest.", so § 13 S. 2 Geschäftsordnung.

Genug der Theorie! Ein wenig aus der Praxis plaudern wird nun unser Kollege Gerhard Ross.

Günter Bertram

(? )

2. Etwas zur Praxis des Hamburgischen Verfassungsgerichts

Das Hamburgische Verfassungsgericht und die Politik

Lassen Sie mich zwei Thesen an den Anfang stellen:

Die letzte Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts kam für niemand, der sich mit Wahl- und Wahlprüfungsrecht einmal befaßt hatte, überraschend. Die Entscheidung wäre auch ohne Richterablehnungen und bei einer anders zusammengesetzten Richterbank ebenso ausgefallen. Ich bin mir dessen ziemlich sicher, obwohl ich weder die Akten noch die begründete Entscheidung kenne.

Ein Einblick in die Geschichte

Der in Art. 49 der hamburgischen Verfassung vom 07.01.1921 vorgesehene Staatsgerichtshof hatte eine eng begrenzte Zuständigkeit und ist wohl nie tätig geworden. Seit 1919 mußte erst einmal eine Wahl zur Bürgerschaft aufgrund der Entscheidung eines Gerichts wiederholt werden. Das war die Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 17.12.1927, in der festgestellt wurde, daß Vorschriften des damaligen Bürgerschaftswahlgesetzes gegen die Reichsverfassung verstießen, insbesondere das Erfordernis von 3.000 Unterschriften für einen Wahlvorschlag, wenn dieser nicht von einer in der Bürgerschaft oder im Reichstag mit 1/16 der Abgeordneten vertretenen Partei kam. Eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs zu einem ähnlichen Wahlgesetz des Landes Mecklenburg-Strelitz ist ausführlich abgedruckt in RGZ 118 Anhang S. 22.

In der Hamburgischen Verfassung vom 06.06.1952 ist in Art. 65 die Zuständigkeit des HmbVerfG enumerativ beschrieben und enger bestimmt als in Art. 18, 21, 41, 93, 94, 98-100 GG und in anderen Landesverfassungen. Insbesondere die SPD wollte damit erreichen, daß politische Streitfragen möglichst politisch entschieden würden. Bei ihren Abgeordneten bestand Mißtrauen gegen politisierende Richter. Die Aufwertungs-Rechtsprechung des Reichsgerichts, die Inanspruchnahme des Rechts zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch das Reichsgericht, die Entscheidungen des Staatsgerichtshofes zur Einsetzung eines Reichskommissars im - bis dahin sozialdemokratisch regierten -Preußen (RGZ 137 Anhang S. 65; 138 Anhang S. 1) und die unter den Richtern der Weimarer Republik weit verbreitete antirepublikanische Einstellung (Kübler, AcP 162, 104) waren die Gründe dieses Mißtrauens. Es liegt auch dem Art. 98 II GG zugrunde.

In den ersten Jahren seines Bestehens hatte das HmbVerfG fast nur Wahlprüfungsverfahren zu entscheiden. Wahlprüfungen gehören zum ständigen Geschäft aller Verfassungsgerichte. Sie sind oft für die Richter ebenso mühsam, wie für die Journalisten nicht interessant genug. Vielfach sind die Anträge aussichtslos. Manchmal stehen aber auch für die demokratische Kultur interessante Sachverhalte zur Entscheidung, auch wenn sie nicht so spektakulär sind wie BVerfGE 82, 322; 83, 353 zur Bundestagswahl am 02.12.90, eine Entscheidung, die allerdings in einer anderen Verfahrensart ergangen ist, oder wie BVerfGE 66, 369 zu einem für den Fall eines Wahlsieges der SPD angekündigten "Investitionsstreik". In einem Fall hatte sich das HmbVerfG -HmbJVBl 1980, 61 - mit dem behaupteten Erschleichen des Wahlrechts durch Begründung von Scheinwohnsitzen zu beschäftigen. Das HmbVerfG konnte sich rechtlich an der ähnliche Fragen behandelnden Entscheidung BVerfGE 40, 11 orientieren, hat aber offengelassen, ob es ähnlich strenge Anforderungen an die Substantiierung der Wahlbeschwerde stellen müsse wie das BVerfG.

Viele Entscheidungen des HmbVerfG werden nicht veröffentlicht, weil das Gericht sie für weniger bedeutend hält. Das HmbVerfG folgt in der Regel der Rechtsprechung des BVerfG. Es ist sich bewußt gewesen, daß die Handhabung der Wahlprüfung durch das BVerfG in der Literatur kritisiert wird, andererseits, daß das BVerfG die Verfassungsbeschwerde gegen Wahlprüfungsentscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder als zulässig ansieht.

In den letzten 20 Jahren veröffentlichte Entscheidungen des HmbVerfG zum Wahlrecht betreffen

· das passive Wahlrecht von Beamten zur Bezirksversammlung (HmbJVBl 1974, 134; 1992, 108);

· den Fristbeginn für die Wahlprüfungsbeschwerde (HmbJVGl 75, 27);

· die fehlende Beschwerdebefugnis eines eingetragenen Vereins im Wahlprüfungsverfahren (HmbJVGl 1988, 87; 1989, 89);

· die Maßgeblichkeit der Wahlrechtsgrundsätze der freien, allgemeinen und gleichen Wahl schon bei den Wahlvorbereitungen (HmbJVBl 1984, 98; 1989, 84, dort auch zur Prüfung der Kausalität von Wahlfehlern für das Wahlergebnis).

Seit der Änderung der Hamburgischen Verfassung durch das Gesetz vom 18.02.1971, mit dem die Rechte der Opposition gestärkt wurden (z.B. durch die Rechte gegen den Senat auf Auskunft und Aktenvorlage in Art. 32 HmbVerf), hatte das HmbVerfG zunehmend politisch bedeutende Sachverhalte zu verhandeln.

Ein Verlangen der Opposition auf Einsicht in die Ergebnisse vom Senat veranlaßter Meinungsumfragen wurde durch Vergleich erledigt.

In einem Verfahren wollte der Senat eine Auslegung der beamten- und richterrechtlichen Pflicht zur Verfassungstreue bestätigt wissen, die von einer Entscheidung des Richterdienstsenats beim Hans. OLG und von in der Bürgerschaft vertretenen Auffassungen abwich. Erstrebt war eine abstrakte Norminterpretation. Das HmbVerfG hat sich für unzuständig erklärt, weil die Auslegungsfragen ihren Ursprung im Bundesrecht hatten, das Hamburg ins Landesrecht übernommen hatte (HmbJVBl 1973, 292).

In einem Verfahren beantragten 41 Abgeordnete der Bürgerschaft

die Feststellung, der Senat sei verpflichtet, dem Haushaltsausschuß auf Verlangen eines Viertels seiner Mitglieder die Akten vorzulegen, die die Anmeldungen (der einzelnen Senatoren) zur mittelfristigen Finanzplanung enthielten. Ungefähr gleichzeitig beantragten 40 Abgeordnete der Bürgerschaft die Feststellung, der Senat sei verpflichtet gewesen, einem Ausschuß

der Bürgerschaft die Akten über die Beratungen einer Beamtenkommission zur Begutachtung des Entwurfs eines Schulverfassungsgesetzes vorzulegen. Das HmbVerfG hielt den Senat für verpflichtet, dem Ausschuß die Akten vorzulegen, die die mittelfristige Finanzplanung betrafen, soweit sie keine Aufschlüsse über die Sachbearbeitung auf der Senatsebene enthalten (HmbJVBl 1973, 282). Die Stellungnahme des Senats zu dem Entwurf eines Schulverfassungsgesetzes vorbereitenden Arbeiten einer vom Senator eingesetzten Beamtenkommission brauche der Senat, dessen interne Entscheidungsfindung nicht offengelegt werden müsse, dagegen nicht vorzulegen (HmbJVBl 1973, 286).

In diesen beiden Entscheidungen führte das HmbVerfG auch aus, entgegen seiner Auffassung in einem früheren Urteil sei das HmbVerfG gemäß Art. 65 Abs. 2 Nr. 1 der Verfassung auch dazu berufen, Streitigkeiten über Rechte und Pflichten eines Verfassungsorgans oder anderer Beteiligter zu entscheiden, welche die Anwendung einer Verfassungsvorschrift auf den konkreten Einzelfall zum Gegenstand haben (Organstreit). Zur Bedeutung dieser Auslegung, die die Zuständigkeit des Gerichts erweitert, hat sich Dr. Stiebeler in HmbJVBl 1978, 179 und 1985, 35 geäußert. Diese Erweiterung der Zuständigkeit ist geeignet zu bewirken, Hamburger Verfassungsstreitigkeiten in Hamburg entscheiden zu lassen, anstatt die Antragsteller auf den Weg nach Karlsruhe zu verweisen. Auffällig ist aber die extrem knappe Begründung dieser Auslegung, wenn man sie mit den ausführlichen Überlegungen zu Verfahrensfragen in anderen Entscheidungen (z.B. HmbJVBl 75, 25; 76, 39; 92, 108) vergleicht. Man erfährt auch nicht, welche "anderen Beteiligten" außer Verfassungsorganen an einem Organstreit, der herkömmlich als Streit zwischen Verfassungsorganen verstanden wird, beteiligt sein sollen.

In einem Verfahren ging es darum, ob die Bürgerschaft bei der Wahl von Mitgliedern des NDR-Rundfunkrates die Wahlvorschläge der Parteien proportional zu berücksichtigen habe - dann wären drei statt zwei Kandidaten der CDU gewählt worden, dafür der von der SPD vorgeschlagene FDP-Kandidat nicht. Die Anträge der CDU-Abgeordneten blieben ohne Erfolg, weil die Bindung an den strikt durchgeführten Fraktionsproporz gegen den Grundsatz des freien Mandates der Abgeordneten (Art. 7 S. 2 HmbVerf) verstoßen würde (HmbJVBl 1976, 39). Die Entscheidung enthält auch Überlegungen zum Gewohnheitsrecht. Ob es ein Gewohnheitsrecht des Inhaltes gibt, daß die Bürgerschaft Mitglieder des Richterwahlausschusses und die von ihr zu wählenden sechs Mitglieder des HmbVerfG unter Berücksichtigung von Kandidaten der Opposition wählen muß, erörtert Plambeck in Hoffmann-Riem/Koch, Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 66.

Mit der Beantwortung Großer Anfragen an den Senat gemäß Art. 24 HmbVerf beschäftigt sich die Entscheidung HmbJVBl 1978, 11. Die Entscheidung HmbJVBl 1978, 43 sprach dem Senat das Recht zu, den Wahltag zu bestimmen, das die Bürgerschaft für sich beansprucht hatte. Der Wahltag war wegen der Nähe zum Termin der Landtagswahlen in Niedersachsen und einer dort anderen Koalitionsaussage der FDP wahltaktisch von Bedeutung.

Mit der Bestimmtheit der Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen beschäftigte sich auf Vorlage des Verwaltungsgerichts die Entscheidung HmbJVBl 1982, 25 in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 80 GG. Derartige Richtervorlagen sind in Hamburg selten, obwohl nicht feststeht, daß das HmbVerfG die Zulässigkeitsanforderungen so hoch setzen würde wie das BVerfG.

Mit den Grenzen staatlicher Kreditaufnahme und der Veranschlagung im Haushaltsplan befaßt sich die Entscheidung HmbJVBl 1984, 169 mit abweichenden Meinungen S. 180, 182. Ein vorher (1982) anhängig gewordenes Verfahren zu ähnlichen Fragen hat das BVerfG erst 1989 entschieden (BVerfGE 79, 311), allerdings einstimmig. Das BVerfG hatte es dabei leichter, weil die Art. 109, 115 GG 1967 und 1969 im Sinne einer antizyklischen keynesianischen Finanzpolitik geändert worden waren. Sowohl BVerfG wie HmbVerfG haben die Anträge der Opposition abgewiesen, aber in den Entscheidungsgründen mahnende Hinweise erteilt, bei denen das BVerfG mit strengerer Stimme spricht. Ob das BVerfG seine Entscheidung klüger begründet hat, bezweifle ich, weil es sich (BVerfGE 79, 311, 337) dazu bekannt hat, der Investitionsbegriff des Art. 115 GG dürfe nicht weiter verstanden werden als in der bisherigen Staatspraxis; das HmbVerfG hat sich (S. 177) in weiser Zurückhaltung unbestimmter ausgedrückt (zum Investionsbegriff: Osterloh NJW 1990, 145).

In einem Urteil vom 26.04.1988 (HmbJVBl 1988, 106) hat das HmbVerfG den Antrag von Abgeordneten zurückgewiesen, die Verpflichtung des Senats festzustellen, die bei einer Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft befindlichen Tonbandaufzeichnungen über abgehörte Telefongespräche an den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß "Hafenstraße" herauszugeben. Das HmbVerfG hat in dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses gemäß Art. 25 HmbVerf keine Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis gesehen. Zu dieser Entscheidung ist die abweichende Meinung eines Verfassungsrichtes veröffentlicht worden (HmbJVBl 1988, 112).

Zur Arbeitsweise des Verfassungsgerichts

Das HmbVerfG ist ein Gericht von Verfassungsrichtern im Nebenberuf. Da für die sechs von der Bürgerschaft zu wählenden Verfassungsrichter keine Altersgrenze besteht, ist das Durchschnittsalter der Verfassungsrichter relativ hoch.

Zeitweise war das Verfassungsgericht eine reine Männerrunde, zeitweise gab oder gibt es jedenfalls eine Verfassungsrichterin (Frau Klabunde, Frau Senator a.D. Leithäuser). Die Bürgerschaft wählt seit je auch Verfassungsrichter auf Vorschlag der Opposition. Die vom Senat zum Verfassungsrichter ernannten Berufsrichter sind nicht immer Mitglieder der Regierungspartei.

Über lange Zeiträume hat es, wenn man die Verfassungsrichter parteipolitisch zuzuordnen versucht, keine Regierungsmehrheit im Verfassungsgericht gegeben.

Die Bekanntgabe von Sondervoten mit abweichenden Meinungen einzelner Verfassungsrichter ist durch Gesetz vom 8. März 1982 eingeführt worden. Wie erwähnt, ist es auch schon zu Sondervoten gekommen.

Für jedes Verfahren mit Ausnahme von Bagatellverfahren bestellt der Präsident des Verfassungsgerichts in der Regel einen Berichterstatter und einen Mitberichterstatter aus dem Kreis der Verfassungsrichter, die sich alsbald daran machen, umfangreiche Voten auszuarbeiten. Von dieser Pflicht werden die Richter ausgenommen, die nicht die Befähigung zum Richteramt haben (§ 4 HmbVerfGG), alle anderen werden nicht verschont. Dem Verfassungsgericht steht in Hamburg nur ein wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nebenamt neben seinem richterlichen Hauptamt zur Verfügung, so daß die wesentliche Arbeitslast bei der Erstellung der Voten auf den Schultern der Berichterstatter und Mitberichterstatter liegt. Diese Last kann drückend sein, denn wer beschäftigt sich schon ständig mit Fragen des Finanzrechts oder des Wahlrechts. Die Voten sind in der Regel recht umfang-, aber auch inhaltsreich. Gründlich ausgewertet wird regelmäßig die Rechtsprechung des BVerfG, aber auch schwerer auffindbare Rechtsprechung, wie die des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, und die erreichbare Literatur. Von einer Bibliothek allerdings wie der des BVerfG kann ein hamburgischer Verfassungsrichter nur träumen.

Der Fleiß der Verfassungsrichter zeigt sich, wenn sie zur Vorberatung erscheinen. Sie haben in der Regel nicht nur die Voten gelesen, sondern sich auf eigene Faust kundig gemacht.

Die Vorberatungen und die Beratungen im Anschluß an die mündliche Verhandlung sind ausgiebig und oft ein intellektueller Genuß. Es ist spannend zu beobachten, wie sich aus anfänglich oft mehr als zwei Meinungen allmählich eine Mehrheitsmeinung bildet. Die Fronten verlaufen häufig nicht so, wie man es aufgrund der bekannten oder mutmaßlichen Parteipräferenz vermuten würde. Regelmäßig sind alle Verfassungsrichter bemüht, für alle Mitglieder des Gerichts akzeptable Ergebnisse und Begründungen zu finden. Auch die nicht zum Richteramt befähigten Verfassungsrichter leisten, oft aus ihrer Kenntnis der politischen Praxis, wesentliche Diskussionsbeiträge.

Die mündlichen Verhandlungen finden im Plenarsaal des Oberlandesgerichts in möglichst würdevoller Form statt. In einigen Verfahren sind auch Rechtsgutachten von Hochschullehrern eingereicht und in der Verhandlung erläutert worden. In Wahlprüfungsverfahren ist es nicht immer gelungen, die Atmosphäre von Würde und Sachlichkeit von Anfang bis Ende zu erhalten. Unterlegene Wahlbewerber können emotional sehr betroffen sein.

Ablehnungsgesuche betreffend Verfassungsrichter hat es auch schon in früheren Verfahren gegeben, auch solche, bei denen man an Mißbrauch des Ablehnungsrechts denken konnte. Auch sie sind aber geduldig beraten worden.

Entsprechend der Verweisung auf die VwGO in § 16 HmbVerfGG trägt zu Beginn der Verhandlung der Berichterstatter den Sachverhalt vor, in der Regel dadurch, daß er den Entwurf eines Tatbestandes verliest, in dem auch die Rechtsausführungen wiedergegeben sind. In geeigneten Fällen erhalten die Parteien vom Präsidenten ein Gliederungsschema oder einen Problemkatalog für die rechtliche Diskussion. In der mündlichen Verhandlung besteht ein - für Senat und Bürgerschaft eingeschränkter - Anwaltszwang gemäß § 25 HmbVerfGG, aber auch Senat und Bürgerschaft lassen sich regelmäßig durch Rechtsanwälte vertreten.

Beweisaufnahmen kommen in Wahlprüfungsverfahren vor, in den anderen Verfahrensarten sind sie in der Regel entbehrlich.

Bei der Verkündung des Urteils werden (§ 21 HmbVerfGG) nur die wesentlichen Entscheidungsgründe bekanntgegeben. Der Präsident bemüht sich, der abschließenden Beratung über die Entscheidungsgründe nicht vorzugreifen. Wann die Entscheidungsgründe beraten werden können, hängt von der übrigen zeitlichen Belastung des Berichterstatters, der die Entscheidungsgründe ausarbeitet, und der übrigen Verfassungsrichter ab. In der Beratung über die Entscheidungsgründe wird der Entwurf Satz für Satz diskutiert und häufig stark verändert. Alle Verfassungsrichter achten dabei nicht nur auf juristische Stimmigkeit und Klarheit, sondern auch auf stilistische Feinheiten. Diese redaktionellen Beratungen und die über den Streitwert für die Anwaltsgebühren dauern oftmals viele Stunden. Ob der Gewinn an Schönheit - nach James Joyce und Thomas von Aquino: integritas, consonantia, claritas - diesem Aufwand immer entspricht, ist zu bezweifeln.

Das HmbVerfG hat öfter als andere Obergerichte der Versuchung widerstanden, seine Entscheidungen mit nicht für den Streitgegenstand und die Entscheidung notwendigen Rechtsausführungen anzureichern. Die veröffentlichten Entscheidungen lassen deshalb nur einen Teil des Arbeitsaufwandes der Verfassungsrichter erkennen. Man findet deshalb in den Entscheidungen wenig Aussagen zur juristischen Methodenlehre. Auch in Methodenfragen würde das HmbVerfG sicher einen Widerspruch zu Aussagen des BVerfG vermeiden. Daß das Gericht die über die konkreten Anlässe hinausgehenden Folgen seiner Rechtsprechung bedenkt, kann man in mehreren Entscheidungen zwischen den Zeilen lesen. Es hat sich immer bemüht, eine rechtlich begründete Entscheidung zu finden, auch wenn diese nicht allen Verfassungsrichtern politisch wünschbar erschien.

Zur Vorhersehbarkeit der Entscheidung über die Bürgerschaftswahl

Zurück zum Anfang: Daß die Wahl für ungültig erklärt worden ist, ist die Konsequenz einer langjährigen Rechtsprechung. Im Anschluß an Entscheidungen schon des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich haben BVerfG und HmbVerfG (BVerfGE 11, 266, 272; 41, 399, 417; 47, 253, 282 f.; 66, 369, 380; HmbJVBl 1984, 98; 1989, 84) entschieden, daß die Grundsätze der freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl auch für die Wahlvorbereitungen einschließlich der Aufstellung der Kandidaten maßgeblich sind und daß die Freiheit und Gleichheit der Wahl nicht nur durch staatliche Organe, sondern auch durch andere Bürger beeinträchtigt werden können, und schließlich, daß auch faktische Behinderungen im Wahlprüfungsverfahren zu berücksichtigen sind. Das war auch in der Literatur unstreitig (z.B. Seifert, Bundeswahlrecht 3. Aufl. § 21 BWahlG Rn. 12, 17, § 26 BWahlG Rn. 20; Jarass/Pieroth, GG 2. Aufl. Art. 21 Rn. 18-20, Art. 38 Rn. 2, 3, 5, 7, 8, 10-17).

Wenn wegen undemokratischer Handhabung der Kandidatenaufstellung innerhalb der Parteien nicht schon früher Landtagswahlen für ungültig erklärt worden sind, liegt das daran, daß Verfassungsgerichte über Wahlprüfungen nur auf Beschwerde entscheiden und daß dabei nur im Rahmen eines substantiierten Vortrages der Sachverhalt aufgeklärt wird (BVerfGE 66, 369, 378; HmbJVBl 1989, 84, 88). Innerhalb der Parteien unterlegene Wahlbewerber haben ihre Niederlagen in der Regel nicht zum Gegenstand von Wahlprüfungsverfahren gemacht. Die in der Literatur zum Teil kritisierte Strenge der von den Verfassungsgerichten angenommenen Substantiierungslast kann man als Zeichen dafür sehen, daß kein Verfassungsrichter gerne eine Wahl für ungültig erklärt.

Gerhard Ross