Unter diesem Titel äußert sich James O. Jackson, Kolumnist beim amerikanischen Nachrichtenmagazin "Time", in der ZEIT vom 17.09.1993 über Deutschland. Sein nachstehender Aufsatz berührt manche Themen, die in unserem Mitteilungsblatt im Laufe der letzten Jahre zur Sprache gekommen sind und die gewiß auch künftig zu bedenken und zu diskutieren sein werden. Der Autor ist, wie er selbst eingangs scharf herauskehrt, keineswegs die Stimme des Auslands, aber es ist ein Wort, wie es von dort doch zuweilen herüberdringt. Der Verfasser ist Ausländer - zu seinem Glück. Wäre er hiesig, hätte er vorweg und am Schluß einige Energie auf Verdachtsbeschwichtigung verwenden müssen: kein deutscher Nationalist und von entsprechender Selbstgerechtigkeit frei zu sein.
Günter Bertram
NEW YORK. - Wortspiele können ganz instruktiv sein. Was fällt einem beispielsweise zu folgenden Wörtern ein? Fremdenfeindlich. Neonazi. Skinhead. Die Antwort kommt dieser Tage sehr schnell: Deutschland. In einem großen Teil der Weltpresse und in der öffentlichen Wahrnehmung ist Deutschland und sind die Deutschen zum Sinnbild für Fremdenhaß geworden. Deutschland wird beschrieben als jenes Land, das am wenigsten offenherzig ist gegenüber Flüchtlingen, seine Politiker gelten als besonders wenig einfühlsam für deren Not.
Man kann das Wortspiel allerdings auch umgekehrt betreiben: Deutschland? Das Wort ruft in Erinnerung: ein Land, in dem Flüchtlingsheime mit Brandbomben beschossen werden; fremdenfeindliche Graffiti an den Wänden; biertrinkende, Sieg Heil rufende, glatzköpfige Neonazis, die mit Baseballschlägern auf Türken losgehen.
Es ist ein häßliches Bild. Es ist überdies ein unfaires Bild - wenn nicht gar ein völlig falsches. Ein großer Teil Europas und Nordamerikas ist berüchtigt für Fremdenfeindlichkeit, oft ebenso schlimm wie in Deutschland und häufig gar schlimmer. In vielen Ländern gibt es rechtsextreme Parteien; in manchen ist ihre Anhängerschaft gar größer als in Deutschland. Kein Land überwacht und verfolgt neonazistisches und rassistisches Verhalten so gründlich wie Deutschland. Kein industrialisiertes Land hat nach den Unruhen, die der Auflösung der Sowjetunion folgten, mehr Flüchtlinge willkommen geheißen als Deutschland - mit großem Abstand. Wenige Länder behandeln neuankommende Flüchtlinge, politische oder wirtschaftliche, besser als Deutschland.
Das Ausmaß fremdenfeindlicher Gewalt ist schwer zu vergleichen. Die meisten Länder führen - oder veröffentlichen - keine detaillierten Statistiken über rassistische und fremdenfeindliche Zwischenfälle. Deutschland tut das. Bonns peinlich genaue Listen enthalten Einzelheiten über 10.420 Zwischenfälle und fünfzehn Tote seit dem Ausbruch des "Ausländeraufklatschens" im Jahre 1991.
Verglichen mit der Bevölkerungszahl liegen die Ausschreitungen in vielen anderen europäischen Ländern ähnlich hoch. Großbritannien hat 7800 Zwischenfälle pro Jahr aufgelistet; inoffizielle Schätzungen lassen vermuten, daß die tatsächliche Anzahl sogar zehnmal höher liegen könnte. Mit einer Bevölkerung von 57 Millionen (Deutschland hat 80 Millionen Einwohner) und einem geringeren Strom von Ausländern scheint Großbritannien ebenso betroffen von rassistischen Ausbrüchen wie Deutschland.
In den Vereinigten Staaten begann das FBI erst vor kurzem, eine Statistik aufzustellen. Für 1991 zählte es 4598 Übergriffe. Das heißt, die Lage ist wahrscheinlich nicht schlimmer als in Deutschland - aber vermutlich auch nicht besser. Andere Länder berichten von weniger Gewalttaten, aber in vielen Fällen nehmen sie rasch zu. In einer neuerlichen Meinungsumfrage erklärten sich 25 Prozent der Franzosen als überzeugte Rassisten. Daher erstaunt es nicht, daß die rechtsextreme Nationale Front von Jean-Marie Le Pen in Wählerumfragen mit achtzehn Prozent starke Unterstützung findet. Zum Vergleich: Deutschlands politisch ähnlich orientierte Republikaner kommen bloß auf fünf Prozent der Stimmen.
Die Deutschen haben aus ihrer üblen, gewalttätigen Geschichte gelernt. Sie sind heute gegenüber dem Rechtsextremismus aufmerksamer als ihre Nachbarn. Und sie unterdrücken ihn auf eine Weise, wie es die meisten Demokratien nicht vorsehen. In den vergangenen Jahren haben die Behörden fünf rechtsextreme Organisationen wegen antidemokratischer Aktivitäten verboten. In Deutschland untersagt die Verfassung neonazistische politische Aktionen. In Amerika schützt die Verfassung sie.
Die Deutschen werden oft als kaltherzig gegenüber den Ausländern beschrieben. Doch Hunderttausende von Bürgern versammelten sich in den vergangenen Monaten in landesweiten antirassistischen Kundgebungen mit Kerzen. Kanzler Helmut Kohl wurde weithin kritisiert, daß er einem Beerdigungsgottesdienst für die fünf Opfer der Feuerbombenattacke auf ein türkisches Heim in Solingen Ende Mai fernblieb. Doch während Kohl nicht anwesend war, ging Präsident Richard von Weizsäcker hin. Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß andere europäische Staats- oder Regierungsoberhäupter zu einer ähnlichen Geste gegenüber den Opfern rassistischer Gewalt bereit wären.
Der größte Unterschied zwischen Deutschland und anderen reichen Ländern liegt nicht in der Zurückweisung von Ausländern, sondern in deren Aufnahme. Deutschland hat 1991 250.000 Flüchtlinge beherbergt, 440.000 im vergangenen Jahr und bereits mehr als 200.000 in diesem Jahr - mehr als doppelt so viele wie das restliche Europa. Die meisten Flüchtlinge in Deutschland bleiben viele Jahre, legal oder illegal. Ob sie nun bleiben oder schließlich gehen, keiner, einschließlich jener, die illegal einreisen, wird eingesperrt, bloß weil er Ausländer ist, wie das häufig in den Vereinigten Staaten geschieht.
Fremdenfeindlichkeit ist ein besonderes Problem für Deutschland mit seiner Geschichte des Krieges und des Völkermordes. Aber die Verantwortung dafür ist nicht einzig den Deutschen anzulasten. Sie muß ebenso vom übrigen Europa und von Nordamerika geteilt werden, wo ein anderes Wortspiel paßt: Doppelmoral, Indifferenz und Selbstüberschätzung.