Ob der Einzug rechtsextremer Leute ins deutsche Parlamentsleben wirklich eine nationale Katastrophe wäre, sei dahingestellt. Die Franzosen und Italiener z.B. pflegen so etwas bei sich zuhause ziemlich gefaßt zu ertragen, offenbar als den natürlichen Preis der Demokratie (vgl. dazu James O. Jackson - in diesem Heft). Sollten nicht auch wir uns zutrauen, mit ein paar "rechten" Hanseln fertig zu werden, sachlich und rhetorisch? Soweit man übrigens sieht, hat ein Demosthenes brauner couleur sich einstweilen noch nirgends gezeigt; statt dessen ein paar minder belichtete Gestalten. Aber darum soll es jetzt nicht gehen; hier nehmen wir die Katastrophen-These als unwidersprochenen Ausgangspunkt:
Man ist in Hamburg im September d.J. also haarscharf an der Katastrophe vorbeigeschrammt. Statt der üblichen Fernsehlangeweile bot der Sonntagabend, 19. September, unerwartete Spannung: "REPs 4,995 % ... 5,02 % ... raus ... rein ... raus ... rein ...: 4,8 % - draußen !!!". Man hat die Hamburger Wahl, wie es sich geziemt, durchleuchtet, hinterfragt, ist Wanderungen nachgewandert, hat offene und versteckte Motivationen bloßgelegt und - kurzum - nicht einen Stein auf dem anderen gelassen. Auf ein Phänomen ist allerdings offenbar (oder täusche ich mich?) keiner gestoßen:
Niemand anders als das Hamburger Verwaltungsgericht hat den Einmarsch der REPs in die Bürgerschaft verhindert! Wie das? Ist nicht gerade dessen Spruch urbi et orbi als gotteslästerliche Entgleisung verrissen worden? So schnell die Welt auch vergißt: die "Wahlhilfe in Richterroben", die den Rechtsextremisten, und ihnen allein, Auftrieb und Vorteil verschafft haben soll - diese Schlagzeile dürfte in den Köpfen noch heute sozusagen druckfrisch vorhanden sein. (VwG und OVG Hamburg hatten einem Antrag der DVU teils stattgegeben, teils ihn verworfen und ihr neben zwei unstreitigen einen weiteren Wahlwerbespot in Fernsehen und Hörfunk zugebilligt; die prognostischen Erwägungen, um die es jetzt geht, stehen in der Begründung.)
Zugegeben: meine These erscheint auf Anhieb paradox; aber die Überlegung ist dennoch ebenso simpel wie zwingend:
Die Annahme des Gerichts, die "rechte" Klientel habe sich auf die Deutsche Volksunion (DVU) kapriziert, und dort - nicht bei den REPs - würden am Wahltag die stärkeren Bataillone der Extremisten aufmarschieren, war durchaus irrig; und dementsprechend falsch war die Prognose, die DVU sei es, der die Chance winke, die 5 %-Marke zu überspringen. Nehmen wir (mit den Kritikern) nun an, diese Prognose sei nicht ohne Wirkung geblieben, was im Sinne einer selffulfilling prophecy - innerhalb gewisser Grenzen - nicht von der Hand zu weisen ist, insbesondere deshalb nicht, weil die Medien sich des Themas unermüdlich angenommen und die unzutreffende Prognose des Gerichts bis in den letzten Winkel verbreitet hatten. Wie muß man sich die Sache dann sozialpsychologisch-real vorstellen? Abwegig wäre die Vermutung, daß "Demokraten" den Rechtsextremen allein dadurch zugetrieben worden sein könnten, daß sie von der oben genannten Prognose erfuhren; so kommen Motivationen natürlich nicht zustande! Innerhalb des rechtsextremen Spektrums aber wird es dann schon anders, viel interessanter gewesen sein: Die Leute wollten ihre Stimmen natürlich nicht vergeuden, sondern mit ihnen bewirken, daß eine "rechte" Partei ins Rathaus einzog. Ob das die DVU sein würde oder die REPs, mag ideologische Spezialisten interessiert haben; den meisten war das gewiß ziemlich egal. Aber wo war der Erfolg der Stimmabgabe sicher; wo war das Votum verschenkt? Eine quälende Frage, die (unbeschadet unseres speziellen Ausgangspunkts) fast jeder Wähler nur allzugut kennt! Bei einer solchen Prämisse - gefällte Richtungsentscheidung in Kombination mit unsicherem Erfolgskalkül - muß einer Prognose, der man aus irgendwelchen Gründen Kredit gibt, das Gewicht einer wirkenden Ursache zuwachsen. Wer den Auguren glaubte, daß die DVU die Nase weit vor den REPs habe, mußte vernünftigerweise sie wählen, statt einem verlorenen Haufen nutzlose Stimmgeschenke zu machen. Die Wirkung der Prognose kann mithin nur eine Schwächung der Hamburger REPs zugunsten der DVU gewesen sein. Und tatsächlich haben diese sozusagen weggeredeten Stimmen den Republikanern dann gefehlt: nur ca. 1.690 der insg. 23.618 DVU-Stimmen hätten ihnen genügt, das Rathaustor aufzusprengen! Die 2,8 % der DVU aber waren verloren und verpufft.
Daß die beiden genannten Gruppierungen sich politisch wie kommunizierende Röhren - zum beidseitigen Nachteil - miteinander ausgetauscht haben, zeigen auch die Wahlergebnisse zu den Bezirksversammlungen. Dort liegt die Summe der Stimmen für beide überall deutlich über 5 % - aber nur in Harburg so weit (10,5 %), daß die REPs trotz der Konkurrenz mit 7,3 % das Rennen machen konnten; sonst aber kommt keine zum Zug; allerdings mit einer besonders interessanten Ausnahme: Bergedorf, wo die (an sich wenig eindrucksvollen) 5,6 % allein der DVU zufließen, weil einzig in diesem Bezirk die REPs gar nicht zur Wahl standen (apparterweise deshalb nicht, weil es antifaschistisch-demokratischer Wachsamkeit im Bergedorfer Rathaus gelungen war, bei der Kandidatenaufstellung der REPs irgend ein Haar in der Suppe zu finden)....
Eigentlich hatten wir uns geschworen, die ganze Affäre ("Wahlhilfe in Richterrobe") mit ihrer Erwähnung im letzten Mitteilungsblatt zu begraben. Aber die überraschende Verknüpfung so unterschiedlicher Fäden zu höchst paradoxer Wirkung, die geradezu komische Diskrepanz zwischen der damaligen Schelte und späterem Befund, die ungeahnte Produktivität des Irrtums, das alles ist so erheiternd, so "dialektisch", daß der Chronist dem Antrieb nicht zu widerstehen vermochte, die Kuriosität unseren Annalen beizufügen.
Günter Bertram