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Die Wörter des Gutmenschen

Rein zufälliges Herumkurbeln am Autoradio kann unverhoffte Früchte tragen: Der müde Handgriff - Routine ohne Erwartung - bescherte mir plötzlich eine höchst amüsante abendliche Buchbesprechung im 3. Programm des NDR; und bald darauf hatte ich mir das corpus delicti vermittels der Buchhandlung Mauke besorgt:

Klaus Bittermann
Gerhard Henschel (Hg.)
Das Wörterbuch des
Gutmenschen
Zur Kritik der
moralisch korrekten Schaumsprache
Wut und Trauer
Politikverdrossenheit
Glaubwürdigkeit
Opfer der Opfer
Gerade wir als Deutsche
die Mauer im Kopf einreißen
Mein Freund ist Ausländer
tiefe Empörung
verkrustete Strukturen aufbrechen
Streitkultur
Dialog
Querdenker
Menschlichkeit
ein Stück Versöhnung
Edition
Tiamat
 

Der alte (verstorbene) Dolf Sternberger, dessen "Wörterbuch des Unmenschen" (vgl. "über Menschen" MHR 1/1992) hier offenbar das Stichwort geliefert hatte, kommt honoris causa mit seinem berühmten Verriß des "Anliegens" zu Worte. Im übrigen sind die 34 Autoren durchweg eher junge Leute, in den 50iger und 60iger Jahren geboren, nebst einer guten Handvoll 68iger (um ein solcher zu werden, mußte man in den 40iger Jahren geboren worden sein) -also überwiegend Literaten, die von der sog. Protestgeneration "sozialisiert", belehrt, unterwiesen oder erzogen worden sind. Sind die nun "links" oder "rechts"? Vermutlich würden sie selbst diese Frage mit angewidertem Gähnen als idiotisch zurückweisen. Und das mit Recht: Warum, zum Teufel, pflegt man einen marodierenden "Autonomen" "links" zu nennen und einen brandschatzenden Skin "rechts"? War Stalin "links", oder war nicht an Kurt Schumachers Verachtung für die "rotlackierten Nazis" mehr daran, als seine eigenen Nachfahren es später wahrhaben wollten? Hat Sebastian Haffner eigentlich so unrecht, wenn er dem "Führer" Hitler und seinem Nazismus mehr traditionell "linke" als "rechte" Wesensmerkmale zuschreibt? Darüber läßt sich allenfalls noch streiten. Jedenfalls heute aber, nach dem großen Kollaps des Kommunismus, werden alle Karten neu gemischt, muß das auch geistig geschehen, in die trägen Begriffe und die zur Routine gewordene Sprache hinein. Und hier - in die Luftsäcke der Redegewohnheiten hinein stechen die Autoren, pietät- und rücksichtslos, offenbar ganz ohne Angst vor Mißdeutung: mit Florett oder Säbel, kühl kalkulierend oder mit verbissenem Wüten, kurz und treffend oder gestenreich und wiederholend. So läßt das Elaborat sich zwar nicht ohne Einschränkung loben; man findet dort Spreu und Weizen. Aber doch - nehmt alles nur in allem - so viele spitze, unkonventionelle, treffliche Glossen, daß ich das "gutmenschliche" Wörterbuch der freundlichen Aufmerksamkeit des Publikums warm empfehlen kann.

Ein Beispiel gefällig? Zum Stichwort "Unbequem" läßt sich Joseph von Westphalen (freier Autor, geb. 1945) so vernehmen:

"Es gibt verschiedene Kategorien von Hohlwörtern. Manche sind erst durch Mißbrauch von falscher Seite, andere durch allzu häufigen Gebrauch von allen Seiten entleert oder abgenutzt worden, andere taugten von Anfang an nichts. Trauerarbeit wäre ein ganz interessantes Wort, wenn es der Titel einer Schrift geblieben und kein Schlagwort geworden wäre; Betroffenheit ist ein verlogenes Wort. Der Wert dieser Worte besteht darin, daß sie Auskunft geben über ihre Benutzer. Wie bei jeder anderen Straftat kann man sich auf verschiedene Weise schuldig machen. Es gibt die fahrlässige Benutzung und die kaltblütig geplante.

Die Unterstellung, irgendeine Sache oder eine Person seien unbequem, ist mehr als nur obszön oder verlogen - es ist eine dumme, falsche und nachweisbar unlogische Bemerkung, die den Benutzer als einen Menschen erkennbar macht, der nicht sehr hell sein kann. Die Behauptung, den unbequemen Weg, die unbequeme Entscheidung, den unbequemen Bewerber gewählt zu haben, ist in jedem Fall falsch. Man schafft sich damit eine gute Ausrede, wenn man scheitert, und man vergrößert den Triumph, wenn man siegt. Das Gerede von der Unbequemlichkeit ist also Absicherung und Angeberei. Und dann vor allem ist das Unbequeme in Wirklichkeit immer das Bequeme. "Per aspera ad astra" steht schon auf der Pall-Mall-Zigarettenschachtel. ...

Wer von der Unbequemlichkeit redet, will damit sagen, daß er es sich nicht leicht, sondern schwer gemacht hat, und daß er es trotzdem geschafft hat. Zivile Durchhalte- Ideologie, die aus Mangel an Kriegserlebnissen herausposaunt wird. ...

Alles angeblich Unbequeme ist in Wirklichkeit das Bequemste. Wer oder was tatsächlich unbequem ist, wird niemals unbequem genannt. Unbequeme Schuhe zieht man aus und stellt sie beiseite. Arbeitslose und Obdachlose sind unbequem; es ist gar nicht so leicht, die alle wegzustellen. Deswegen werden sie der Einfachheit halber als eine Herausforderung bezeichnet. Staat und Gesellschaft sind herausgefordert, mit dem Problem der Arbeitslosigkeit fertig zu werden. Dieser Aufruf klingt gut und zwingt nicht zur Tat.

Auch vom Gemetzel auf dem Balkan fühlt sich alles herausgefordert. Der gesunde Menschenverstand, der Pazifist, wie auch der Krieger. Betroffen macht das Wüten alle Welt, die längst schon etwas getan hätte, wenn sie wirklich davon betroffen wäre, d.h. spürbare Nachteile hätte. Kein Mensch macht sich klar, daß uns der Krieg da unten unbequem ist. Er bedrückt unser Gewissen. ...

Aber als unbequem gelten nun mal verdrehterweise nicht Kriege und Armut; als unbequem gilt das Erhabene. Unbequemlichkeit ist ein Attribut, ein Titel, den man sich nicht selbst verleihen kann. Dichter und bildende Künstler werden von Festrednern gern als unbequem gelobt. Sie sind die Lieblinge aller Wochenendfeuilletons. Mit dem sechzigsten Geburtstag fängt es meistens an. Mit jedem Jahrzehnt nimmt die von den Rednern behauptete Unbequemlichkeit zu, umgekehrt proportional zur tatsächlichen bequemsten Einfügung in den Kulturbetrieb. Unbequemlichkeit gilt als Auszeichnung, die mehr wert ist als drei Ehrendoktortitel.

Der Gipfel der Unbequemlichkeit wird im Nachruf erreicht, wo die harmlosesten Tatterkünstler zu knirrschendem Sand im allzu bequemen Getriebe stilisiert werden. ..."

*

Was mögen die Autoren z.B. unter "Angedacht", "Betroffenheit", "Denkanstoß", "Menschenverachtend", "Hinterfragen", "Hoffnungsträger", "Identifikationsangebot", "Kommunikation", "Politikfähigkeit", "Streitkultur", "Trauerarbeit", "Tschernobyl in den Seelen" an galligen Bemerkungen sich haben einfallen lassen? Man suche und lese das selbst! Notfalls, nur hilfsweise bei großer Nachfrage: Ein anderes Mal weiter dazu in diesem Theater!

Günter Bertram