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Gert Westphal las Fontane

"... das ist ein zu weites Feld", mit diesen Worten endete die in jeder Hinsicht eindrucksvolle Lesung von und mit Gert Westphal. Er las die letzten Kapitel aus dem Roman Effi Briest von Theodor Fontane. Der Hamburgische Richterverein und die Theodor Fontane Gesellschaft hatten eingeladen.

Gert Westphal, der Nestor der Vortragskunst und "Lieferant" gültiger Interpretationen deutscher Literatur, füllte die stimmungsvolle Grundbuchhalle bis auf den letzten Platz und Rang. Unter der Fan-Gemeinde und dem weiteren Publikum herrschte erwartungsvolle Spannung. Es wurde keiner enttäuscht, die Veranstaltungsreihe Kultur und Justiz vielmehr um ein Glanzlicht bereichert.

Ich, der ich Gert Westphal bislang nur über Hörfunk erlebt hatte, wußte nicht, was ich mehr bewundern sollte: Die physische Leistung des Seniors, der über 1 1/2 Stunden mit tragender, die Grundbuchhalle füllender Stimme deklamierte - und das im Stehen. Da gab es keine Pause und keinen Griff zum Wasserglas - dies alles war nicht erforderlich. Beschämt dachte ich an eigene angestrengte Stimmbänder bereits nach dem Verlesen eines erstinstanzlichen Urteils in einem Berufungsverfahren. Oder die Meisterschaft Westphals, mit der alle Facetten des Romans ausgeleuchtet und die einzelnen Protagonisten bis in die Dialektfärbung plastisch dargestellt wurden. Das alles zeugte von großer Könnerschaft. Gert Westphal - eine außerordentliche Stimmenbegabung. Wie gesagt, der Hörgenuß währte über 1 1/2 Stunden. Vorträgen länger als eine halbe Stunde zu folgen, fällt mir in der Regel schwer. Es schweifen dann die Gedanken ab, Randgespräche mit Sitznachbarn werden aufgenommen oder gar Veranstaltungen schleichenden Schritts verlassen. Für solche Disziplinlosigkeit bestand an diesem Abend kein Bedürfnis und kein Anlaß. Gebannt folgte ich dem Vortragenden und wäre gerne mit ihm noch ein weiteres Stück Weges gemeinsam gegangen. So sah es ganz offensichtlich die gesamte Zuhörerschaft: Zum Schluß langanhaltender, verdienter Beifall. Ein geselliges Beisammensein mit Wein und (Fontane-) Büchern, dieses Mal von der Buchhandlung Heymann & Sauke, ließ den gelungenen Abend ausklingen.

Wie man hört, soll die Veranstaltung nicht ganz billig gewesen sein. Es war ohne Zweifel "gut angelegtes" Geld.

PS: Dem Vernehmen nach gibt es Richter, die Termine vor 9.15 Uhr bereits deswegen nicht vorsehen, um der Sendereihe "Am Morgen vorgelesen" im NDR 3 von 8.30 bis 9.00 Uhr folgen zu können. Diese Terminierungspraxis ist - so hat der Abend noch einmal deutlich gemacht - jedenfalls dann ohne weiteres verständlich, wenn Gert Westphal die Sendung gestaltet.
 

Heiko Raabe
 

Anmerkung der Redaktion:

Die in der Tat nicht geringen Kosten wurden zwischen dem Hamburgischen Richterverein und der mitveranstaltenden Theodor Fontanegesellschaft geteilt und hielten sich so im Rahmen der üblichen Aufwendungen für unsere Veranstaltungen, die sogar von der strengen Kassenfrau Sjursen-Stein gebilligt werden.