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Zur Würde des Gerichts

08.15 Uhr! Bis auf die beiden noch fehlenden Akten ist die Sitzung vorbereitet. Noch in Hut und Mantel gehe ich auf die Geschäftsstelle! "Haben Sie die beiden letzten Akten für die Sitzung um 1/2 10 Uhr inzwischen gefunden?" Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle verharrt einen Moment zwischen ihren Aktenbergen und denkt nach, sucht ziellos in vier von ca. 25 Aktenstapeln und bricht in Tränen aus. Ich versuche sie zu trösten, finde eine Akte zufällig und verzichte auf die andere. Irgendwie komme ich da schon durch. Man macht das ja schließlich nicht erst seit gestern - aber die Dame auf der Geschäftsstelle tut mir leid. In meinem Zimmer werfe ich schnell einen Blick ins Gesetz:

"Bei jedem Gericht und jeder Staatsanwaltschaft wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die mit der erforderlichen Zahl von Urkundsbeamten besetzt wird", heißt es in § 153 GVG.

Richtig muß es wohl heißen: Urkundsbeamtinnen/Urkundsbeamten - und davon die erforderliche Zahl.

Aber was ist das?

"Frau/Herrn Vorsitzenden der Abteilung XY: Für die am Dienstag, den 3. Mai 1994, stattfindende Sitzung kann eine Protokollführerin infolge personeller Unterbesetzung leider nicht zur Verfügung gestellt werden.

Unterschrift"

heißt es auf dem Zettel auf meinem Schreibtisch.

Nun aber schnell: Binder wechseln, noch einmal schnell zum ...., 3 Kassetten löschen, Diktiergerät, Kassetten, Kalender, Taschenrechner, Kugelschreiber und Verhandlungsakten in den Saal. Eine Akte fehlt, die andere bleibt ungelesen. Wo sind die Verkündungsakten? Sie finden sich auf der Geschäftsstelle. Ein Urteil liegt ungelesen und nicht unterschrieben im Fach. Wer kann mir mal schnell 8 Verkündungsformulare beschaffen? Ausfüllen, Urteil überfliegen, Unterschrift. Hoffentlich stimmt alles! Ab in den Saal! Halt, die Robe!

Vor dem Saal drängen sich schon 15 Parteien und Prozeßbevollmächtigte. Im Saal herrschen etwa 38 bis 40 Grad. Fenster auf! Robe an! Bitte nehmen Sie Platz!

Die Verkündungen! Einer möchte sein Urteil erklärt haben. Die Verhandlungen beginnen mit 8 Minuten Verspätung. Und dann geht es Schlag auf Schlag: Präsenz feststellen und diktieren, schwierige Namen buchstabieren, wenn sie nicht in der Akte stehen, Anträge diktieren, Parteierklärungen diktieren! "So habe ich das nicht gesagt", zurückspulen. "Wie soll ich das formulieren?" neu diktieren!

Nach 11 Sachen habe ich 45 Minuten Verspätung. Im Saal wird es unruhig. Das Telefon klingelt. Der Kollege im Zimmer neben dem Saal meldet sich: "Weißt du eigentlich, daß Deine gesamte Verhandlung auf den Flur übertragen wird?" Also ist die Rufanlage 'mal wieder defekt. Aufstehen, abstellen, Gardine zu, weil die Sonne mir auf den Rücken scheint und ich mich wie in der Sauna fühle. Weiter und irgendwie durch!

Von 6 Zeugen sind die des Beklagten nicht geladen worden, weil der Schriftsatz mit der Haftungsübernahmeerklärung nicht zur Akte gelangt ist. Sollen die Gegenzeugen vor denen des Beweisführers vernommen werden? Ich nenne den anwesenden Gegenzeugen den neuen Termin. Sie sind verärgert.

Zum Schluß die Erörterung einer Punktesache mit den Parteien! Es geht um DM 180,-- Betriebskosten-Nachzahlung. Ich werde wieder ruhiger und gehe die Sache Punkt für Punkt durch. Man vergleicht sich bei DM 120,--. Die Mühe hat sich gelohnt. Ich bin versöhnt, aber fix und fertig.

Im Zimmer liegt ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung. Eine sog. Wartesache! Ich bin beladen wie ein Packesel. Ich lege alles ab, dabei rutschen mir 5 Akten auf den Fußboden. Robe in den Schrank, Jackett aus, Kragen auf! Ich lese die erste Seite der Antragsschrift zweimal. Nein, so geht das nicht. Ich bitte den draußen wartenden Referendar, in 1 Stunde wiederzukommen, und gehe erst einmal zum Essen.

Dann sehe ich mir den Antrag an. Er ist z.T. unbegründet und muß insoweit mit Begründung zurückgewiesen werden. Es ist niemand auf der Geschäftsstelle, der schreiben könnte, und ich habe wenig Neigung, alles mit der Hand zu schreiben. Also diktieren! Und was nun? Die Urkundsbeamtin auf der Geschäftsstelle ist am Ende ihrer Kräfte, die Akten um sie herum haben sich seit heute morgen ungefähr verdoppelt, der Wachtmeister ist im Urlaub, eine Protokollführerin ist krank, die andere noch in der Sitzung. Also schaffe ich die Eilsache selbst 2 Etagen hoch in die Schreibstube. Nach dem Sitzungsstreß endlich etwas Bewegung!

Die Damen in der Schreibstube lehnen die Übernahme dieser Eilsache zunächst wegen Personalmangels und Überlastung rundheraus ab, sind dann aber doch sehr freundlich. Ich kehre zurück in mein Zimmer, wo ich nach ca. 5 Minuten ankomme, und schon 5 Minuten später klingelt das Telefon. "Ihre Eilsache ist fertig!" Also, auf geht's!

Für den Nachmittag hatte ich mir die Entscheidung über den Antrag auf Abkürzung einer Räumungsfrist und das Diktat von 2 Urteilen vorgenommen. In der Räumungssache wollte ich die Hausverwaltung mit guten Gründen zum Stillhalten überreden. Die in der Akte befindliche Telefonnummer stimmt aber nicht mehr, und im Telefonbuch ist die neue nicht zu finden. Also Auskunft national: 01188. Doch das Diensttelefon akzeptiert nur die Amtsnull, nicht aber die zweite Null. Also runter zur Telefonzelle: kein Groschen, und das Kartentelefon ist ca. 8 Minuten besetzt. Dann erreiche ich schließlich die Auskunft und erhalte die gewünschte Telefonnummer der Hausverwaltung. Auf dem Rückweg in mein Zimmer sehe ich die Überschrift in der ...X-Zeitung vor mir: "Was macht Richter mit Gerichtsakte in Telefonzelle?"

Der Anschluß der Hausverwaltung ist ewig besetzt. Ich wähle und wähle und wähle. An der Kuppe meines rechten Zeigefingers bildet sich eine kleine Blase, und unter dem Nagel sammelt sich Blut.

Endlich klappt es, und die Sachbearbeiterin läßt sich überreden, den Antrag auf Abkürzung der Räumungsfrist zurückzunehmen. Auch diese Mühe hat sich also gelohnt. Als ich das in der Akte vermerken will, streikt die Kugelschreibermine. Die Ersatzminen befinden sich im Schreibtisch des Wachtmeisters. Der Schreibtisch ist "wegen Urlaubs verschlossen". So klaue ich mir einen Kugelschreiber von der Protokollführerin, die sowieso krank ist. Wenn der Wachtmeister in 2 Wochen aus dem Urlaub zurückkommt, werde ich ihr den Kugelschreiber bestimmt ersetzen.

Von den beiden Urteilen schaffe ich noch eines, und beim Unterschreiben der Verkündungsprotokolle 3 Tage später fällt mir auf, daß ich eigentlich noch viel mehr in der Sache erörtern und vergleichen wollte.

Schulze-Kirketerp