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Ein unberechtigter Angriff auf die Justiz
- Fälliges Nachwort zu einer Rede -
Von
VRiVG Prof. Dr. Ulrich Ramsauer
Vorsitzender der Vereinigung
hamburgischer Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen

Abgesehen davon, daß es schlechter Stil ist und von wenig Einfühlungsvermögen zeugt, sich anläßlich eines Empfangs für die Bundesdelegierten des Deutschen Richterbundes durch den Senat der gastgebenden Stadt derart ungehalten über die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor Ort zu äußern, geht - bei allem Verständnis für Überreaktionen in politisch schwierigen Zeiten - die Kritik des Ersten Bürgermeisters an den hamburgischen Verwaltungsrichtern auch in der Sache entschieden zu weit: Sie rührt an die Wurzeln unseres Rechtsstaates und stellt ihn in Frage. Vergleichsweise leicht wiegt da noch der Vorwurf der Behäbigkeit und Langsamkeit gegenüber der Behauptung, die Verwaltungsgerichte trügen in einer Art Rechtsschutzduselei zugunsten der Nein-Sager zum Entstehen einer "Vetokratie" bei und gefährdeten die großen Zukunftsprojekte der Stadt. Ausgerechnet die Verwaltungsgerichte als Belastung der Demokratie? Einem Angehörigen der betroffenen Gerichtsbarkeit fällt es schwer, darauf sachlich zu antworten.

Unsere bewährte demokratische Staatsform ruht auf drei Säulen: der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und dem Schutz der Grundrechte. Was auf drei Säulen gebaut ist, kann auf zweien oder gar auf einer einzigen nicht stehen. Ohne Gewaltenteilung und effektiven Grundrechtsschutz kann es keine Demokratie im Sinne des Grundgesetzes geben. Der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit kommt in diesem Gebäude der Demokratie eine wichtige Funktion zu: Sie bewirkt den Schutz der Grundrechte, indem sie die Maßnahmen der Exekutive auf ihre Gesetzmäßigkeit kontrolliert. Daß diese Kontrollaufgabe nicht zu einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen der Exekutive und ihren Kontrolleuren führt (und auch nicht führen darf), liegt auf der Hand. Die Spannung ist in den unterschiedlichen Funktionen angelegt. Daß hier gelegentlich Vorwürfe wie Besserwisserei, Lebensferne, Praxisfremdheit oder Überschreiten richterlicher Kontrollkompetenz offen oder hinter vorgehaltener Hand erhoben werden, ist durchaus verständlich; wer das letzte Wort hat, muß Kritik aushalten können.

Diese Ebene ist hier aber verlassen. Der Bürgermeister kritisiert nicht, wie sonst üblich, einzelne Entscheidungen der Verwaltungs-oder Verfassungsgerichte, sondern er sieht so etwas wie eine strukturelle Schieflage. Ihm paßt die ganze Richtung nicht. Er möchte das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative neu bestimmen. Seine Überlegungen betreffen daher die demokratie-theoretische Ebene: Den demokratisch "besser" legitimierten Gewalten, Legislative und Exekutive, soll es allein vorbehalten sein zu bestimmen, wo es langgeht, sie sollen dabei nicht durch eine unheilige Allianz zwischen den Egoisten einer überindividualisierten Gesellschaft und einer politikblinden Justiz, namentlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit behindert werden dürfen.

Zweifellos: Im Gebäude unserer Demokratie kann es zu Schieflagen kommen, entweder weil eine der drei Säulen unter der Last nachgibt oder weil sich eine der drei Gewalten über die anderen erhebt. Der Bürgermeister diagnostiziert offenbar eine derartige Schieflage. Möglicherweise hat er recht: Gerade in Zeiten leerer Kassen zeigen sich die Grenzen der staatlichen Steuerungsmöglichkeiten. Es wächst die Zahl der Bürger, die dem Staat und vor allem seiner politischen Führung die Bewältigung der drängenden Probleme unserer Zeit, allen voran der ökologischen und verteilungs- und arbeitsmarktpolitischen Probleme, nicht mehr zutrauen. Und die Feststellung, daß sich - gemessen am Problemdruck - viel zu wenig bewegt, läßt sich kaum ernsthaft bestreiten.

Ist das aber die Schuld der Verwaltungsgerichtsbarkeit? Hat sich die dritte Gewalt zu sehr erhoben? Usurpiert sie die ureigenen Aufgaben der Exekutive, indem sie selbst Aufgaben der Exekutive an sich gezogen hat? Oder liegen die Ursachen nicht anderswo, etwa in den immer schwieriger werdenden Einigungs- und Durchsetzungsprozessen im politischen Raum?

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat einen gesetzlich fest umrissenen Auftrag. Sie soll dem Bürger gegenüber der Verwaltung zu seinem Recht verhelfen, rechtswidrige Belastungen abwehren, berechtigten Ansprüchen Geltung verschaffen. Maßstab für diese Aufgabe ist allein das geltende Recht, sind vor allem die von den Parlamenten erlassenen Gesetze. Zur Kontrolle gehört es, diese Gesetze ernst zu nehmen, sie ohne Rücksicht auf politische Opportunität anzuwenden, ohne Rücksicht insbesondere darauf, ob die Ergebnisse der Gesetzesanwendung den jeweils Regierenden in den Kram passen. Diese innere Unabhängigkeit der Richter ist essentiell, ohne sie würde die Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre Aufgabe verfehlen.

Dabei darf nicht mit verschiedenen Maßstäben gemessen werden. Wer etwa den Flughafen Fuhlsbüttel erweitern oder eine vierte Elbtunnelröhre bauen will, muß sich genauso an Recht und Gesetz halten wie ein Bürger bei Errichtung seines Eigenheims oder beim Ausbau seines Dachgeschosses. Der Rechtsstaat würde wahrlich zu Grabe getragen werden, wenn die Gerichte bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit solcher Projekte deswegen großzügiger verführen, weil sie von der jeweiligen politischen Führung als besonders wichtig für die Zukunft eingestuft werden. Denn dadurch zeichnet sich unser demokratischer Rechtsstaat gerade aus, daß die Elle des Rechts für Groß und Klein, für Arm und Reich, für Rechts und Links, für Jedermann gleich ist. Wer anderes verlangt, will eine andere Republik.

Unzutreffend ist die These, aufgrund der langwierigen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten seien wichtige Zukunftsprojekte nachhaltig verzögert worden oder gar gänzlich auf der Strecke geblieben. Richtig ist, daß die Verwaltungsgerichte trotz einer Überflutung mit zigtausenden von Asylverfahren, trotz erheblicher personeller Engpässe und trotz massiver Einsparungen im Sachmittelbereich eine Verlängerung der Verfahrensdauer weitgehend vermeiden konnten. Gelungen ist dies nur mit einer völlig überobligatorischen Kraftanstrengung, die sich auf Dauer so nicht aufrechterhalten läßt und die von den Richterinnen und Richtern im Hinblick auf das Licht am Ende des Tunnels, den Rückgang der Belastung mit Asylverfahren, bisher klaglos erbracht worden ist. Nur am Rande sei bemerkt, daß die Sachmittelausstattung infolge von Einsparungen mittlerweile so desolat ist, daß dem einzelnen Richter künftig nicht einmal mehr die aktuellen Gesetzestexte auf dem Schreibtisch zur Verfügung stehen werden.

Sicherlich ist es richtig, daß sich in einer Stadt wie Hamburg wichtige zukunftsweisende Projekte immer schwerer planen und durchsetzen lassen. Hierfür gibt es viele Beispiele. Nur liegt das nicht an der Zukunftsfeindlichkeit oder Rechtsschutzfreundlichkeit der Verwaltungsgerichte. Vielmehr hat das andere Gründe:

So gelingt es immer weniger, die notwendige Akzeptanz für Großprojekte im politischen Raume zu erreichen. Das gilt für die Standortsuche störender oder als gefährlich empfundener Anlagen ebenso wie für die grundlegenden Strukturentscheidungen etwa im Bereich der Energieversorgung oder der Landschafts- oder Verkehrswegeplanung. Hier schlägt nicht zuletzt der Stadtstaatennachteil voll zu Buche. Die zur Verfügung stehenden Flächen sind begrenzt und keineswegs ausreichend, um die Ansprüche zu befriedigen, die aus den verschiedenen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft angemeldet werden. Außerdem trifft jede neue Planung auf ein besonders enges Geflecht von Interessen und Beziehungen, deren Träger ihr Veto auf besonders kurzem Weg zu den politischen Instanzen einlegen können. Mit der Arbeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat das alles nur wenig zu tun. Deren bloße Existenz erhöht allenfalls das "Drohpotential" der "Nein-Sager".

Auch sind die gesetzlichen Anforderungen an die Planung vor allem von Großprojekten immer weiter erhöht worden. Das komplexe Geflecht von Bestimmungen und Vorschriften, von der Europäischen Gemeinschaft über den Bund bis hin zu denen des Stadtstaates Hamburg, ist mittlerweile - nicht nur für den Bürger - nicht mehr überschaubar. Zunehmend wird auch die Verwaltung mit den hieraus folgenden Anforderungen unter den oben skizzierten Stadtstaatenbedingungen überfordert. Obwohl die Hamburger Verwaltung über rechtlich wie fachlich hochqualifizierte Mitarbeiter verfügt, gelingt es ihr nicht immer, im Prozeß der Entscheidungsfindung, der ja viel komplexer ist als derjenige der späteren Kontrolle, alle gesetzlichen Bestimmungen zu beachten. Das hat zur Folge, daß hier und da notwendige Planfeststellungsverfahren schlicht unterbleiben, wenn es nicht gelingt, die Anforderungen an die Prüfung der Umweltverträglichkeit von Vorhaben sachgerecht zu erfüllen oder die Anforderungen verschiedener Planungsgesetze zu koordinieren. Aber kann die Verwaltungsgerichtsbarkeit deshalb auf die Rechtmäßigkeitskontrolle verzichten oder "Fünfe gerade sein" lassen?

Fazit: Die Ursachen für die Steuerungsprobleme liegen nicht bei der Aufgabenerfüllung durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die - bei aller gebotenen Bescheidenheit sei es hier angemerkt - vorbildlich ist und sich nicht der Kritik wegen ändern wird. Die Probleme liegen anderswo. Der Erste Bürgermeister sollte die Verwaltungsgerichtsbarkeit wie die gesamte Justiz als einen der großen Aktivposten für die Bewahrung demokratischer Verhältnisse in Hamburg begreifen und ihr in den gegenwärtigen schwierigen Zeiten den Rücken stärken, statt sie mit unberechtigter Kritik zu überziehen.