"Einen Witz erklären, hieße: ihn töten!" Dazu müßte ich, hätte ich den Ehrgeiz, wissenschaftlich zu reden, bereits mehrere Fußnoten (FN) setzen: eine grammatikalische (mit der Unter-FN oder "FN-FN", daß hier auch der Gebrauch des Adjektivs "grammatisch" vertretbar wäre), daß mir zu Unrecht (Erstschlag-FN!) entgegengehalten werden könnte, der richtige Infinitiv müsse "zu erklären" und "zu töten" lauten, eine historische (Bildungs-FN), daß sich dieser Satz schon bei den Vorsokratikern nachweisen lasse, obwohl (hier: Meinungsstreit-FN-FN) das gelegentlich bestritten werde, was wiederum auf grober Vernachlässigung der Quellenlage beruhe (polemische FN) usw. usw... Es verstünde sich von selbst und wäre nicht mehr als ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit, allem eine Meta-FN voranzuschicken, die dem Leser die Präliminarien (i.e. die besondere Technik) des FN-Gebrauchs im gegebenen Falle mitteilte...
Man sieht: Ehe man zur Sache kommt, hat der sorgfältige Autor seinen Leser schon mit hoher Bildungsfracht beladen. Versuchen wir trotzdem, etwas vorzeitig zur Sache durchzudringen, und beginnen wir, um uns nunmehr durch eine gewisse Bequemlichkeit zu entschädigen, nicht gleich mit der Frage nach der Substanz des Witzes, sondern der leichter faßlichen nach seinem Urheber:
Vor Zeiten saß hier im Schwurgericht (Exkurs-FN: es war noch ein fast richtiges - wie im Film! - mit immerhin sechs Geschworenen), dem der spätere Landgerichtspräsident Ehrhard vorstand, der Landgerichtsrat Peter Rieß. Zeitzeugen wissen zu berichten, dieser habe die Gewohnheit gehabt, als Berichterstatter um seinen Vortrag ersucht, die Augen auf einen bestimmten Punkt an der Wand des Beratungszimmers (über der Tür, in 3/4 Höhe zur Decke) zu heften, seine Stimme zu erheben und zu reden, ohne den Blick zu wenden oder ihn zu senken, auch nach den längsten Verhandlungen, sozusagen ohne Punkt und Komma, immerfort bis auf den Tenor... Der durch den sinnlichen Eindruck der Prozedur vielleicht nahegelegte Ausdruck "abspulen" würde die gebotene Achtung vor dieser stupenden Geistesleistung unangemessen verdunkeln...
Aber wie auch immer: Eines Tages zettelten neugierige Kollegen ein Experiment an, um das Phänomen Rieß zu ergründen: Sie hängten just vor den Punkt der Wand, den der redende Rieß zu fixieren pflegte, eine große Bierwerbung, so daß der magische Fleck durch ein herrlich-schäumendes Getränk in öder Wüste verdeckt wurde. Über die Wirkung dieses - man muß schon sagen: - Bubenstücks fehlen verläßliche Berichte. Ob die geheime Quelle der Kraft nun zum Versiegen gebracht worden war, dem nie erlahmten Dr. Rieß also Ähnliches wiederfuhr wie vor grauen Zeiten dem starken Simson des Alten Testaments (Bildungs-FN: Schreibweise auch Samson, aber keinesfalls zu verwechseln mit dem noch lebenden Kieler Strafrechtslehrer gleichen Namens...; lies: Richter Kpt. 16 Vers 17 Satz 2!), weiß man nicht. Es fehlen auch verläßliche Feststellungen darüber, ob es dieser Vorfall war, der Rieß bewog, Hamburg zu verlassen und nach Bonn zum Bundesjustizministerium überzusiedeln, wo er seither - zugleich als Professor des Strafrechts in Bonn - seine unermüdliche, ja beängstigende Schaffenskraft auslebt und das Land mit Geistesblitzen und Prozeßnovellen überschüttet (was durchaus gegen die Simson-Samson-Hypothese spricht!).
Jedenfalls - und hier kommen wir nun endlich von der Person zur Sache - ist Peter Rieß inzwischen literarischer Vater von zehntausenden, vielleicht hunderttausenden, nein eher einiger Millionen Fußnoten geworden... und am Schluß hat ihn offenbar ein Grauen, ein kaltes Entsetzen erfaßt. Der literarische Ertrag dieser kritisch-ironischen Seelenlage ist hier anzuzeigen: "Prolegomena zu einer Theorie der Fußnote" LIT-Verlag, Hamburg 1995.
Das macht sich, um nur einen kleinen Teil der Gliederung vorzuzeigen so:
B
Schema
einer systematischen Fußnotenlehre
I. Begriff und Wesen der Fußnote
1. Der Fußnotenbegriff
a)
Monofaktorielle Begriffsbildungen
aa) Nominalistischer Fußnotenbegriff
bb) Realistischer Fußnotenbegriff
cc) Empirischer Fußnotenbegriff
dd) Dezisionistischer Fußnotenbegriff
b)
Multifaktorielle Begriffsbildung
c)
Pragmatistische Begriffsbildung
aa)
Objektiv pragmatistischer Fußnotenbegriff
bb)
Subjektiv pragmatistischer Fußnotenbegriff
cc) Intersubjektiv konsentiert pragmatistischer Fußnotenbegriff
2.
Das Wesen der Fußnote
3.
Bezeichnungsfragen
a) Fußnote
b) Anmerkung
c) Sonstige Bezeichnungsmöglichkeiten
II. Fußnotentypologie
1.
Notwendigkeit und Möglichkeiten einer Fußnotentypologie
2.
Morphologische (äußere) Typologie
a) Echte Fußnoten
b) Angehängte Fußnoten
aa)
Abschnittsweise angehängte Fußnoten
bb)
Schlußfußnoten
c) Apokryphe Fußnoten
aa)
Textfußnoten
aaa) Klammereinschübe
bbb) Kleindruckeinschübe
bb)
Fußnotenfußnoten
d) Pseudofußnoten
3.
Funktionelle (innere) Typologie
a) Allgemeine Vorbemerkung
aa)
Ursprung der Fußnote
bb)
Entfesselung der Fußnote
b) Klassische Fußnoten
aa)
Belegfußnoten
bb)
Zitatfußnoten
cc)
Verweisungsfußnoten
dd)
Redaktionelle Fußnoten
c) Entwickelte Fußnoten
aa)
Fußnoten mit objektivem Funktionsbezug
aaa)
Bibliographische Fußnoten
bbb)
Dedikationsfußnoten
ccc)
Nebenaufsatzfußnoten (Exkursfußnoten)
ddd)
Nachtragsfußnoten
bb)
Fußnoten mit
objektivem/subjektivem Funktionsbezug
aaa)
Vorsichtsfußnoten
bbb)
Abrückfußnoten
ccc)
Meinungsstreitfußnoten
ddd)
Vergeßlichkeitsfußnoten
Sollte ich hier noch eine FN anfügen, dann stünde dort, daß der Aufsatz schon 1983 erschienen war und jetzt in einer kleinen, sehr handlichen Ausgabe, zusammen mit Anschlußbeiträgen aus historisch-philologisch-soziologischer Feder zweier anderer Autoren, vorliegt. Mir lag es fern, die hübschen Reflexionen hier vorweg zu "erklären" - und zu töten. Leider erscheint dieses Mitteilungsblatt zu spät, um Lese-Empfehlungen noch für die Sommerferien zu geben; aber Weihnachten kommt bekanntlich schneller als man denkt.
Günter Bertram