1. Wer den Hamburger Sievekingplatz vom Zivil- zum Strafjustizgebäude überquert, kommt nicht umhin, ein rachitisch - langbeiniges Metallgestell zu passieren, das an den Notenständer eines verarmten Fiedlers denken läßt, welches dort vor nunmehr sieben Jahren in den Rasen vor dem Oberlandesgericht feierlich eingerammt worden war. Allerdings fällt, wie es scheint, dieses eigenartige, dort gleichsam verhärmt-verlegen herumstehende Objekt niemandem wirklich auf - alle Welt eilt geschäftig oder schlendert gleichgültig an ihm vorüber.
Diesen Zuwendungsmangel wird man dennoch weder verdammen noch auch nur beklagen dürfen. Was nämlich würde der aufmerksame Blick entdecken? Eine aufgeständerte Tafel: beschmutzt, besprüht, verschmiert, verhunzt - besser neben eine öffentliche Bedürfnisanstalt passend als vor die Pforten des höchsten Hamburger Gerichts ...
Ich halte es für weder möglich noch nötig, die Geschichte des "Mahnmals auf dem Sievekingplatz" jetzt zu rekapitulieren; ich muß und kann mich auf bloße Literaturangaben aus unserem Mitteilungsblatt beschränken: In Heft 2/1989 berichtet Udo Löhr über Initiativen, Anstöße und Behördenpläne, Textentwürfe und einen Brief unseres Vorsitzenden Roland Makowka vom 03.03.1989 ..., was letztlich dazu geführt hatte, eine "Arbeitsgruppe" ins Leben zu rufen.
Über die (wechsel- und bald leidvolle) Fortsetzung konnte man des öfteren aus der Chronisten-Feder Karin Wiedemanns das jeweils Neueste lesen: Noch hoffnungsvoll in Heft 2/1990 (S. 22 ff.), auch 1/1991 (S. 23 f.); mit aufkommender Skepsis ab 2/1993 (S. 14 ff., 16), 3/1993 (S. 24). in 4/1993 (S. 5) erwähnt sie den Hinweis Herrn Rabens (Justizbehröde) auf den "derzeit beschämenden Zustand ... der auf unser Projekt hinweisenden Tafel"; und es heißt am Schluß: "Das Mahnmal sollte einschließlich des nahen örtlichen Umfeldes bis zum 50. Jahrestag des Kriegsendes fertiggestellt sein"; ein Appell, die Frist zu wahren, findet sich wieder in Heft 3/1994 (S. 15); in Heft 4/1994 greift der Kollege Hahnfeld kritisch zur Feder. Letztlich noch einmal Karin Wiedemann "Die Enthüllung" (scil.: der OLG-Tafel) in Heft 2/1995 (S. 12 ff.).
Man sieht: Eine lange Geschichte, die zu erzählen und seriös zu kommentieren viele weitere Druckseiten erfordern würde. ...
2. Heute, im Frühjahr 1997, plädiere ich dafür, die Tafel, deren Zustand Herr Raben schon vor Jahren treffend charakterisiert hatte und der inzwischen nur noch desolater geworden ist, aus dem Rasen zu ziehen und das ganze Gestell zu entfernen: ersatzlos zu entfernen, ohne weiterhin große Pläne zu verkünden oder Arbeitsgruppen und Kulturschaffende mit Projekten zu beschäftigen.
Dabei möchte ich weder über Vergangenes rechten noch über Versäumtes mich entrüsten: Heute, Anno 1997, haben wir landauf, landab - zumal während der letzten Jahre wieder - ein solches Maß demonstrativen Gedenkens in Wort, Bild und Stein hinter uns gebracht, daß mir nun doch fragwürdig scheint, ob es vernünftig, weise oder nützlich wäre, auf diese Pyramide weitere Quader aufzuschichten.
Der Mai 1995 liegt uns noch zu nahe, als daß nicht jeder seine Erinnerungen besäße - Benjamin Korn nennt es ‘ein Jahr der "Gedenkorgien"’, gegen deren "Feiern, Trauerreden, Enthüllungen von Denkmälern und Gedenksteinen ... und gegen deren Übermaß sich alles in uns sperrte und sträubte" (Der Mensch, die Maschine des Vergessens, DIE ZEIT vom 15. November 1996).
Das peinvolle Tauziehen um das Berliner Holocaust-Denkmal kann die Schatten der Zweifel nur vertiefen. Dazu, statt vieler Worte, lediglich ein paar Schlagzeilen:
"Bestelltes Alibi - Holocaust-Denkmal in Berlin: Experten sollen akklamieren", FAZ vom 07.01.1997, "Vier Minuten für die Ewigkeit - Das Totenreich wird vermessen: fünf Fragen an das Holocaust-Denkmal", Kosellek in FAZvom 09.01.1997, "Bubis redet wider die Monumentalität", FAZ vom 11.01.1997, "Was ist angemessen?, Erstes Berliner Kolloquium zum Holocaust-Denkmal", FAZ vom 14.01.1997 ... Lassen wir es dabei bewenden; diese Reihe und die Aufzählung ähnlicher Begebenheiten ließe sich fortsetzen.
Was folgt daraus? Soll das Versagen der "Rechtswahrer" im Dritten Reich mit Schweigen zugedeckt und am liebsten von der ganzen Epoche nicht mehr geredet, ihrer Opfer nicht weiter gedacht werden? Damit wäre mein Votum freilich auf den Kopf gestellt: Der Hamburgische Richterverein hat sich seit vielen Jahren nach Kräften bemüht, in Ausstellungen, Vorträgen und öffentlichen Veranstaltungen (man denke an die "Justiztage") die geistige Auseinandersetzung mit diesem Thema anzuregen und gediegenes Wissen darüber zu verbreiten, zu vertiefen oder überhaupt zu schaffen - was sich durch eine bloße Inhaltsübersicht unserer alten und neueren Mitteilungsblätter demonstrieren ließe. Dies, so scheint es mir, ist der solide, ja der einzige Pfad der Erinnerung, der nicht morgen oder spätestens übermorgen verweht. Erinnerung ist ein freier, ein geistiger Akt. Zu ihm kann man von außen - als Dritter - wohl beitragen, sie vertiefen, ausweiten oder anregen; nie aber kann man sie dekretieren, über einen Leisten schlagen oder sie erzwingen. Der inzwischen so eingefahrene demonstrative Erinnerungsbetrieb erscheint mir deshalb unfruchtbar - ja: er tötet in Wirklichkeit all’ das ab, was zu befördern und zu wecken er sich berühmt.
3. Danach sprechen inzwischen triftige Gründe dafür, die marode Tafel auszugraben und sie in aller Stille beiseite zu stellen. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Der empfohlene Schritt ist mißdeutbar - alle Vokabeln dafür liegen ja bereit; die Tafel selbst fährt mit dem Begriff der "zweiten Schuld" (Ralph Giordano) ein schweres Geschütz auf; die empörten Kommentare brauchen kaum erst geschrieben zu werden; sie sind schon fertig. Daß, bei Lichte besehen, nichts davon wirklich Stich hielte: wie würde man dies der Öffentlichkeit "vermitteln" können?
Guter Rat ist teuer. Wie man’s macht ist’s falsch. Die Sache weiterdümpeln zu lassen, wäre gewiß das Bequemste. Das heißt indessen nicht, daß dies wirlich weise und auch das Beste wäre.
Günter Bertram