(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/97) < home RiV >
Kommunikationstraining II.
Die morgendliche Aufforderung klang zunächst wie eine geradezu betuliche Zwischenbilanz:
Wer bisher schon genügend auf seine Kosten gekommen sei, was die Seelenzuwendung anderer, Reden-Dürfen und Angehört-Werden anlange, der stelle sich in den Kreis! Prompt treten alle dort hinein - bis auf unsere drei Referendare, die etwas verlegen außenvor sitzen bleiben.
Aber damit hat die Mehrheit sich schon die erste Kopfwäsche des Tages eingehandelt: "So also geht ihr mit den jungen Menschen um, schaut euch selbst, schaut sie an ...!".
In Wirklichkeit hatte unser Guru die seltsame Konfiguration keine Sekunde lang ernst genommen oder geglaubt, daß der Innenkreis sich tatsächlich psychisch saturiert und mopswohl fühlte: Waren da nicht manche darunter, die gerade vermeiden wollten, die ihnen bisher versagte Zuwendung alsbald - vom Guru oder der Gruppe - verpaßt zu kriegen und die deshalb Zufriedenheit nur vorschützten?
"Ihr seid nicht ehrlich, prüft Euch!! ...", und schon sieht man ein paar verlegen stammelnde Mitspieler den Innenkreis verlassen. Dann geht der Reigen weiter: Der Außenkreis soll sagen, wer sonst dort innen noch - als kommunikativer Drückeberger oder sonstwie - fehlplaziert sei: Ein Arrangement, das einiges an seelischer Entblößung, dem Guru aber noch nicht genug davon zu Tage bringt. Wieder einmal kommt es - mehr oder weniger aus heiterem Himmel - zu einem offenbar genau kalkulierten Ausbruch: "Typisch asoziale Gruppe ... typische Juristen: wenn die ihr Gesetzbuch oder ihren Palandt nicht haben, dann ist mit ihnen nichts los! ... und wehleidig sind die (oder: einige!) noch obendrein: Wenn ich jemanden hier zum Weinen bringe, meldet sich Einspruch; aber das Weinen der Angeklagten vor Gericht: das läßt euch Richter eiskalt!" ...
Dann folgt - es ist Halbzeit - der große Sympathietest: Alle sitzen im Kreis. Jeder erhält drei rote und drei grüne Punkte, die er verteilen soll: An sympathische Teilnehmer die roten, an deren Antipoden dagegen die grünen - durch Aufkleben auf eine Karte, die ein jeder vor sich auf dem Fußboden liegen hat.
Die Prämissen sind, wie eigentlich immer, jedenfalls am Rande verwaschen:
Rot: "Dem möchte ich mich öffnen, mich mitteilen, ihm (ihr!) mein Herz ausschütten."
Grün: "Der macht mir Angst, bereitet mir Beklemmung, wird von mir als bedrohlich erlebt, verschließt mir das Herz." Es gibt kein Drittes - sonst unterscheidende Merkmale werden also nicht zugelassen. ...
Alle im Kreis schließen die Augen, und jeder soll vorweg im Stillen schätzen, wieviel er jetzt gleich an roten oder grünen Punkten ernten wird (ich schätze: "vielleicht pari - 5 und 5?"). Dann beginnt einer nach dem anderen, die Runde zu drehen, die anderen alle sitzen mit geschlossenen Augen, und er (oder sie) verteilt seine (ihre) Punkte. ... Nur der Guru beäugt das Geschehen. Die Teilnehmer lauschen ein jeder in sich selbst hinein. ... Bei Namensaufruf ist man also selbst dran. Was tun? Mag dies auch ein Spiel sein, ohne ernstliche Substanz: Jetzt, wo es läuft und man den eigenen Namen vernommen hat, kann man (sit venia verbo: "man" gilt doch als verpönt; also: ich) es doch nicht mehr spottend auf die leichte Schulter nehmen. Ich beschließe sozusagen im Losgehen, die grünen Punkte überhaupt nicht und die roten - für Gurus Augen - demonstrativ flüchtig, nur irgendwie zu verschleudern, möglichst an die "armen Schweine" dieser Tage, falls ich sie so schnell entdecke.
Fertig: Augen auf! Man blinzelt zum Fußboden, zur (übrigens: gelben) Karte, die man als leere dort abgelegt hatte. Ich erblicke auf meiner drei rote und neun grüne Aufkleber: Bin ich überrascht, enttäuscht, gedemütigt; zufrieden, stolz oder völlig gleichgültig (was meinem abstrakten Verständnis der Sache entspräche) ? Aber keinem bleibt Zeit zum Nachdenken. Die Reflexion gehört nicht in die private Seele, sondern in die soziale Gruppe, die allein dazu berufen ist - an der streng leitenden Hand des Guru - das bewegte Innere zu durchmustern, umzurühren und ihm durchs Wort die zulässige Gestalt zu geben. "Was hattet ihr erwartet, was fühlt ihr nun? - redet aufrichtig!" ... und dann: "Hinein in den Kreis alle, die nur grüne Punkte bekommen haben! ... Vor euch also haben die anderen Angst, und keiner mag euch: wie ist euch nun, was sagt euch das?"
Helmut, der mit reinem Grün in signifikanter Fülle eingedeckt worden war (und dem Kollektiv deshalb eigentlich dankbare Betroffenheit schuldet), wendet die vermutbaren Motive der anderen gedankenvoll und ruhig hin und her - wird vom Guru bezichtigt, seine wahren Gefühle zu verstecken, und bezieht der Überheblichkeit wegen auch seine Gruppenprügel.
Dann wechselt die Farbe des Innenkreises immer auf’s neue.... Schließlich sind die überhaupt Punktlosen an der Reihe: "Ihr seid also die grauen Mäuse, die Mauerblümchen, von denen keiner Notiz nimmt; solche, die anderen augenscheinlich weder Interesse noch Liebe oder Respekt einflößen ... Wie geht ihr damit um, sagt an. ...!".
Hübsch auch die Variante: "Von wem habe ich wohl meine grünen, meine roten Punkte?" und: "Von wem hätte ich meine roten gern bekommen?".
Hans hofft inständig, seinen "roten" von Eva-Marie bekommen zu haben - und ist zerschmettert, erfahren zu müssen, daß ihr eine solche Samaritertat überhaupt nicht in den Sinn gekommen und das Rot ihm von schnöder Männderhand in den Hut geworfen worden war. ...
Fritz will öffentlich erfahren, wie er zu seinen beiden grünen Punkte gekommen sei und behauptet steif und fest, jedenfalls einen habe ich ihm aufgeklebt. Ich bestreite und hätte die Richtigkeit meines Dementis auch beweisen können: Durch Vorlage meiner unverklebten, also offensichtlich unverbrauchten drei grünen Punkte ...; aber das lasse ich mein Geheimnis bleiben.
Die Bekenntnisse von erhoffter Liebe und gespürtem Haß, von gefühlten Nähen und empfundenen Distanzen, rufen mir Eugen Roths "Verwickelte Geschichte" ins Gedächtnis:
Ein Mensch wähnt manchmal ohne Grund,
Der andre sei ein Schweinehund,
Und hält für seinen Lebensrest
An dieser falschen Meinung fest.
Wogegen, gleichfalls unbegründet,
Er einen Dritten reizend findet.
Und da kein Gegenteil erwiesen,
Zeitlebens ehrt und liebt er diesen.
Derselbe Mensch wird seinerseits -
Und das erst gibt der Sache Reiz -
Durch eines blinden Zufalls Walten
Für einen Schweinehund gehalten,
Wie immer auch er darauf zielte,
Daß man ihn nicht für einen hielte.
Und einzig jener auf der Welt,
den selber er für einen hält,
Hält ihn hinwiederum für keinen.
Moral: Das Ganze ist zum Weinen.
... aber hier liegt die Moral des Vormittags, unserem Guru zufolge, im therapeutischen Auftrag der Gruppe, sich um die allzu Grünen, die Eisberge und Ab-Blocker, die intellektuell Verstopften zu kümmern. ...
Daraus fließt übergenug Stoff für den Rest des Tages.
Am nächsten Morgen überwechseln wir zum Sanitätswesen:
"Verletztentransport": In je einer Fünfergruppe fällt jemand mit z.B. Herzinfarkt, Kreislaufkollaps, Kopfschuß, Magenkrampf zusammen oder zerschmettert sich beim Sturz die Knochen, wird dann notversorgt, aufgehoben, aufgebahrt und abtransportiert: unter Zuspruch seiner Gruppe und im Körperkontakt mit den Akteuren.
Einige haben es - wie sie dann sagen - als wunderbares Erlebnis empfunden: aufgehoben, getragen, umsorgt, berührt, vollkommen akzeptiert zu werden. Ein anderer hat es - wie er bezeugt - ganz anders erlebt: Er sei tief enttäuscht worden; "das hier eben" sei ein Vorgang kühler Sachlichkeit gewesen. Durch die rein technisch-korrekte Behandlung habe er sich als Person ignoriert, mißachtet und als bloßer "Fall" abgeschoben empfunden. ...
Die gefühlvollen Spontanbekenntnisse - ob so oder andersherum - klingen für meine Ohren dann doch reichlich routiniert.
Andere Gruppenspiele folgen - stets von einem Innenkreis aufgeführt und ausagiert und einem äußeren "Umstand" beobachtet, so zum Thema:
"Gestrandet auf einsamer Insel: wem vertrauen wir uns jetzt an - als Vormann und Leiter in äußerster Lebensnot?". Führung und Abhängigkeit, Vertrauen und Mißtrauen, Liebe und Haß, Charisma und Neid: Hinter dem Wandschirm dieser und anderer Begriffe werden erneut und immer wieder die Gruppenbeziehunngen durchgekämpft. Dann veranstaltet der Guru sein Scherbengericht: Wieder einmal sei die Diskussion nicht ehrlich und offen gewesen. ...
"Nicht offen ...!": Das hört man nun schon zum 50. Male; es muß also geradezu ein Herzstück solcher Gruppenveranstaltungen sein. "... dabei sich offen einbringen" - ungefähr so hatte ja in der Tat die Prämisse im Einladungsschreiben des HansOLG gelautet, die jeder Uneingeweihte als bloße facon de parler überlesen haben dürfte.
Nun aber ist der Ernstfall eingetreten:
"Völlige Offenheit ..."? Ein paar der hier skizzierten (und andere noch folgende) Szenen scheinen zunächst darunter subsumierbar zu sein - man bringt sich so wunderbar ein und versichert sich dergleichen durch einen Strom von Worten. Zugleich aber ist mit Händen zu greifen, daß von einer Atmosphäre wirklichen Vertrauens und echter Hingabe keine Rede sein kann. In Rivalitätsgefühle und Angst verstrickt, belauert man sich gegenseitig, überlegt jedes Wort, ist wohl auf der Hut, zeigt möglichst keine eigene Blöße; jeder argwöhnt, dem "feed-back", über den sich so wunderbar reden läßt, werde irgendein Gift beigemischt sein.
Der Guru, auf dessen Fahne man totale Offenheit geschworen hatte, gibt von sich selbst nichts preis und legt von den Hüllen seiner faszinierenden Verkleidung nicht eine einzige ab. Das also ist, bei Licht besehen, die totale Offenheit: Eine gruppendynamische Lebenslüge!
Nun weiter im Text:
Wir sollen Material für eine Art von Psychoanalyse produzieren: Papier und Filzstift für jeden. "Zeichnet euch selbst, tragt die Hauptsadt (des Körpers) ein, d.h. den Ort, wo es am wärmsten ist, auch die unterentwickelten Regionen, die kalten; und den Ort, an den Vater, und den, wohin Mutter reisen würde. ...".
Keiner (mich eingeschlossen) entzieht sich der angesonnenen Prozedur; warum eigentlich sind wir (bin auch ich) so brav? Tarzan (um ihn so zu nennen: ein großer, sich extrovertiert gebender, den Guru ständig umtänzelnder Zeitgenosse) gibt zu seiner Zeichnung, die einen langen Mann im grauen Strich zeigt, dem er - offenbar wegen Überlänge - die Beine und Füße auf einem besonderen Blatt angeflickt hat, eine wichtigtuerische Interpretation. Sofort tönt es aus dem Kreise zurück: "Du weichst aus, verdeckst die Blößen, schlägst nur Schaum, hälst uns zum besten!". Aber Tarzan scheint jetzt nichts an der Gruppe, sondern mit geradezu masochistischer Lust alles am Segen oder am Fluch des Guru zu liegen. KV fixiert ihn scharf: "Was willst du? ... zu mir kommen?? ... deine Füße sagen es anders - auch deine Stimme (in der Tat - soviel weiß man inzwischen von der Körpersprache: diese Füße wollen den Mann nicht dem Guru ans Herz tragen, sondern möchten verharren, wo sie sind! usw.) ... Deine Hände sind kalt, faß sie an ...!"
Mich fasziniert das Wechselspiel der beiden ganz gegensätzlichen Gestalten, fesseln Physiognomie, Körperlichkeit und Dynamik von David und Goliath so stark, daß mir die Worte, die sie wechseln, fast entgleiten.
Der Riese bricht bald erbärmlich zusammen. Offenbar stimmt alles, was der vergleichsweise zwergische Guru aus der Zeichnung selbst und dem Stammeln ihres Urhebers herausliest: früher Verlust des ungeliebten Vaters, manche Weltängste, unversorgte Seelenschäden, lächerliche Überkompensationen usw. usw. Vieles liegt hier wohl auch so auf der Hand. Und doch muß ich Vopel neidlos bewundern: Hier und jetzt jedenfalls beherrscht er sein Metier ebenso perfekt wie die ganze Szene: Intensiv in Geist und Körper, dem Objekt seiner Analyse ganz zugewandt, sanft und leise ("schau mal ...", weiß er so mild’ zu sagen!), aber zugleich ohne das geringste Erbarmen, wie ein Insektenforscher, dessen Skalpell eine Raupe seziert. Eine fabelhafte Leistung, ein atemberaubender Kontrast zur großen Geste seines Herausforderers, dessen Demontage kaum 10 Minuten gedauert hatte.
Trotzdem tritt Tarzan am Nachmittag wieder mit demonstrativem Schwung auf:
"Wenn die Gruppe will, daß ich sie nicht weiter dominiere, ziehe ich mich zurück!" - ein unverschämtes catching for compliments, das durchweg nur schweigend, mit hochgezogenen Augenbrauen, registriert wird. Aber eine Stimme erhebt sich zur verlangten Ovation. Fritz - der arme Fritz vom Anfang unserer Geschichte - geht auf ihn zu: "Ich bin auf dich fixiert, bewundere dich, will mit dir reden!". KV ergreift die Zügel der Regie: "Tretet euch gegenüber! So, Fritz, nun rede mit ihm!" Fritz zum Riesen: "Du bist so herrlich, ach, du gefällst mir!" KV fixiert den Daherschwätzenden scharf, bohrt seine dunklen Augen in sein Gesicht und fügt leise und streng hinzu: "Laß deinen Mund ehrlich reden !" Pause - alle starren Fritz an, dessen Züge ihre aufgesetzte Begeisterung im Nu verlieren. "Tu mir nichts!", haucht Fritz bettelnd zum Tarzan hinüber, aber man versteht es kaum. "Sag es lauter!", mahnt die Regie. "Tu mir nichts!!". "Ich würde dir nie etwas antun", läßt sich der Gewaltige von oben herab vernehmen. "Beachte mich!!", fleht Fritz nun. "Du bist mir gleichgültig", kommt der verächtliche Bescheid zurück. Schweigen. Soll es, kann es, darf es bei dieser hündischen Szene bleiben?? Man blickt zum Guru, der nach lastender Stille zu den beiden nichts sagt als: "Nun geht!".
Der Vopel ist faszinierend! vielleicht ja nur ein Scharlatan; aber dann immerhin ein virtuoser, mit unglaublicher Intuition. Helmut, mein alter ego dieser Tage, meint zu mir, diese Art von Intuition könne wohl nur der aus sich abrufen, der selbst gewisse neurotische Züge habe. ...
War die erlebte Szene abstoßend? Sie scheint jedenfalls auch anziehende Kraft entfaltet und Entblößungslüste beflügelt zu haben:
Siegfried tritt auf, spricht von Gruppenmitgliedern, mit denen er reden wolle, bei denen er sich hinkuscheln möchte, sich geborgen fühlen würde. "Schauen wir uns dein Bild an!", mahnt der Guru, und er führt Siegfried anhand von dessen eigener Zeichnung zurück: zum frühverstorbenen Vater, zum Haß auf den Toten, die Seelennöte des Halbwaisen, tiefe, bleibende Sehnsüchte, Ängste - mit Worten und Thesen, die Siegfried offenen Mundes durchweg Punkt für Punkt mit Bewunderung und Grauen bestätigt.
"Bau dir eine Gruppe", befiehlt ihm der Guru. Rasch, als habe er nur darauf gewartet, macht er sich ans Werk: Ein paar Männer (was bleibt ihm übrig: es gibt nur drei weibliche Wesen!) läßt er links auf und rechts hocken, Tarzan (den er als seinen Rivalen empfindet) plaziert er in ihre Mitte, lehnt ihm dann unsere Hannelore an die Brust und legt seinen eigenen Kopf in ihren Schoß; dort weint er ausgiebig und schüttelt sich vor Schluchzen "Wie alt bist du?", fragt ihn der Guru milde. "2 Jahre!" - "Bei wem liegst du?" - "Bei meiner Mutter!" - "Welche Hand streichelt dich?" - "Mutters!" ... usw.
Wir ziehen den Vorhang zu, schließen die Augen ..., und werden sie (spätestens) wieder öffnen, um dem Mitteilungsblatt vom September des Jahres (MHR 3/97) zu entnehmen, wie diese Geschichte weiter - und zu Ende gegangen ist.
Günter Bertram