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Anmutungen

Wir pflegen, uns über die Möglichkeiten unserer Sprache, Mitteilungen rein objektiver Natur zu verbreiten, Illusionen hinzugeben. Sie reichen über Zahlen, Daten und die Fakten exakter Wissenschaft nicht weit hinaus. Doch wem sage ich das? Textdeutung und juristische Auslegung sind unser täglich’ Brot. Und doch tut man gut daran, sich das Selbstverständliche zuweilen in ungewohnten Zusammenhängen wieder vor Augen zu führen:

Unsere Mitglieder sind recht unterschiedlichen Alters. Zwischen dem Geburtstag des jüngsten und jenem frühen Tag, an dem unser ältester Pensionär das Licht der Welt erblickt hatte, liegen 60 Jahre und mehr. So kann es sein, daß deren jeweilige Erfahrungen, Erlebnisse, Leiden und Freuden durch Welten getrennt sind. Da nun die Sprache aus dem gelebten und erfahrenen Leben, nicht aber aus Lexika und gelehrter Linguistik erwächst, sind Färbung, Geruch und Gebrauchswert von Worten (kurz: die "Anmutungen", mit denen sie uns berühren) gelegentlich grundverschieden.

Wir haben nicht die Absicht, unser Mitteilungsblatt mit Zeitungsartikeln zu füllen. Doch möchte ich es mir ausnahmsweise erlauben, diese Regel zu durchbrechen, um die kleine Glosse "Wachsamkeit!" eines klugen Zeitbetrachters - Konrad Adam, FAZ vom 13. Mai 1997 - einzurücken, die (auch wegen ihres sachlichen Zusammenhangs mit Inhalten der letzten Mitteilungsblätter) ihrerseits einer Kommentierung nicht bedarf:

"Kein Text ohne Abkürzungen. Die meisten sind heute technischer Natur und ziemlich harmlos, z.B. "d.h." u.ä. Manche dagegen haben es in sich, weil sie mit Vorstellungen behaftet sind, die Erinnerungen wecken und das Gefühl belasten. Wenn man in einem Unterrichtsentwurf, wie ihn die Pädagogikstudenten vor jeder Schulstunde anfertigen müssen, etwas von der "Begrüßung durch die SS" liest und etwas später dann von notwendigen "Umgruppierungen im KZ", dann ist das so ein Fall. Nur daß sich die Fährte diesmal als falsch erweist, denn das KZ steht für Klassenzimmer, und die SS dient als Kürzel für Schülerinnen und Schüler. Den Doppelbegriff jedesmal auszuschreiben war zu umständlich, das Fortlassen der -innen wäre politisch inkorrekt gewesen und hätte vermutlich die Frauenbeauftragte auf den Plan gerufen. Der Verfasser/die Verfasserin hat deshalb das Nächstliegende getan und ohne viel Nachdenken an Kürzeln das genommen, was sich gerade bot. Aber das war auch nicht recht, weil es neben den Mühlen der Langschreibung im generischen Plural auch die Tücken der Kurzformen mit Anklang an die lingua tertii imperii gibt. So ist der arme Kandidat/die arme Kandidatin auf der Flucht vor der Skylla der Gleichstellungsbeauftragten der Charybdis der Geschichtspolitiker in die Arme gelaufen. Die werden jetzt überlegen, was zu tun ist, und früher oder später zu dem Urteil kommen: Wir haben versagt! Wir haben zu wenig aufgeklärt! Wir müssen mehr tun! Mehr Aufarbeiten, mehr Abarbeiten, mehr Wachsamkeit im Kampf gegen das Verdrängte! Und wenn ein unbedarfter Student dann irgendwann auf den Gedanken kommen sollte, das umständliche Sammelfach Geschichte/Staatskunde/Politik mit Gestapo abzukürzen, dann, spätestens dann werden sich die Volksaufklärer in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt sehen und den Deutschen die nächste Lektion, die nächste Mahnwache, die nächste Ausstellung etc. usw. verpassen.

K.A."

Günter Bertram