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Hier und Jetzt
Rede des Justizsenators Wolfgang Hoffmann-Riem am 1. Oktober 1997 anläßlich der Übergabe des Mahnmals für die Opfer nationalsozialistischer Justiz auf dem Sievekingplatz
Vergangenheit schmerzt, auch Zukunft kann schmerzen. Menschliche Erinnerung - so sagt die Künstlerin Gloria Friedmann - ist wie Sandpapier, sie reibt sich ab, wird glatt. Was glatt ist, kann nicht mehr schmerzen. Der Schmerz, den der NS-Unrechtsstaat den Menschen zugefügt hat, darf aber nicht vergessen werden. Sonst werden die Opfer ein zweites Mal verhöhnt. Auch die Verantwortung vor der Zukunft zwingt uns, nicht zu vergessen. Sonst werden potentielle Opfer verhöhnt.
Deshalb brauchen wir das Mahnmal mit dem Namen: "Hier + Jetzt". Hier, wenn auch nicht nur hier. Ebenfalls dort und anderswo. Aber weil wir hier sind: gerade hier.
"Hier + Jetzt". Jetzt, aber auch gestern und vor allem auch morgen. Aber jetzt, weil wir nur in der Gegenwart arbeiten, verarbeiten, vorarbeiten können.
Hier ist ein sozialer Raum mit einer Geschichte, die lange vor 1933 begann. In dem Antrag, "betreffend Errichtung von Justizgebäuden" vom 30. November 1894 hieß es: Es scheint geboten, "die Pläne so zu entwerfen, daß sie unter möglichster Ausnutzung des gegebenen Raumes für die Gegenwart und für eine längere Zeit, soweit sich die zukünftigen Bedürfnisse voraussehen lassen, genügen, und jedenfalls den schon jetzt in Rücksicht zu nehmenden Veränderungen entsprechen."1) Das war räumlich gemeint und klingt doch so doppeldeutig: " ... und jedenfalls den jetzt schon in Rücksicht zu nehmenden Veränderungen entsprechen."
Auf dem Platz setzte sich der Wilhelminismus ein Denkmal - vor allem mit dem Oberlandesgerichtsgebäude, prunkvoll, mächtig, herrschaftlich. Auch die Grünanlage mit majestätischen Steindenkmälern: eine Städtegruppe: Hamburg, Lübeck, Bremen und eine Kommerzgruppe: Handel, Technik und Industrie. Beide stehen noch. Daneben gibt es zwei Kindergruppen: eine heißt "Streit", die andere "Frieden". Um Streit und Frieden geht es an dem Platz sicherlich immer noch, Kinder gibt es auch, etwa im Justizkindergarten - diese Steingruppen aber sind hinter den Hecken im Park versteckt und aus dem Blickfeld nahezu verschwunden.
In den wilhelminischen Gebäuden hat der wilhelminische Geist lange fortgelebt, etwa nach dem ersten Weltkrieg, als weite Teile der Richterschaft in Hamburg und anderswo den republikanischen Staat ablehnten und das positive Recht auch gegen ihn in Stellung brachten. Der Nationalsozialismus konnte auch deshalb so schnell und so erschreckend reibungslos die Rechtsordnung überwuchern, weil die Republik noch nicht überall in den Herzen und Köpfen Wurzeln geschlagen hatte. Die rechtsstaatliche Vegetation war noch schwächlich.
Um diesen Platz herum wurde dem NS-Regime gedient, von vielen willfährig und eilfertig; von anderen unbemerkt und nachlässig; von wieder anderen widerwillig, aber widerstandsschwach. Strafunrecht und Zivilunrecht, materielles Unrecht und Verfahrensunrecht. Hier erfand Curt Rothenberger - Senator, Oberlandesgerichtspräsident, später Staatssekretär im Reichsjustizministerium - das besondere "Hamburger Modell" der Hörigkeit der Justiz, symbolisiert in einer "Vor- und Nachschau" von Gerichtsurteilen.2) Hier konnten er und andere den Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen verbergen. Hier ging das Strafgericht nahtlos in das Untersuchungsgefängnis über, eines der vielen Häuser, die der Nationalsozialismus zum "Haus des Schreckens" machen wollte. Es ist ein Haus, in dem die Guillotine 1933 wieder eingeführt und zur Vollzieherin von Sprüchen wurde, die den "Namen des Volkes" für sich mißbrauchten.
Es geht, so hat Roland Makowka 1989 in dem Antrag für ein Mahnmal formuliert, "überhaupt nicht darum, ob und in welchen Gebäuden NS-Dienststellen und NS-belastete Richter und Spruchkörper gesessen haben ... entscheidend geht es um den Geist bzw. Ungeist der damaligen Zeit, der auch den Sievekingplatz beherrscht hat."3) Es geht auch um den Ungeist einer Profession, die es zuließ, daß 1945 keine klare Zäsur wurde. Helge Grabitz, bis heute unermüdlich bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts, hat es so formuliert: "Richter und Staatsanwälte, die willig und eifrig dem NS-System gedient hatten, die z.T. sogar an Terror-Urteilen beteiligt waren, kehrten nach 1945 nicht nur in ihre Ämter zurück, sondern wurden sogar bei der Bearbeitung oder Aburteilung von NS-Sachen eingesetzt."4) Manche, wie Curt Rothenberger, durften zwar nicht wieder Richter werden. Als Repetitor wies er seit 1953 bis zu seinem Tode 1959 jüngere Juristen in das Recht der Bundesrepublik ein. Ein "Repräsentant des aktuellen Zeitgeistes", wo auch immer er wirkte.5)
Der Sievekingplatz erlebte manche Umgestaltung. Am radikalsten und häßlichsten, als die Stadt sich 1962 zur Internationalen Gartenbauausstellung (IGA) schmücken wollte. Der Justizteil des Platzes wurde durch einen groben Metallzaun aus den Wallanlagen ausgegrenzt, der Platz wurde kommunikativ und ästhetisch zerstört. Später gab es einen Versuch der Wiedergutmachung. Vier im Jahre 1903 für den Rathausmarkt geschaffene, dort seit langem nicht mehr erwünschte wilhelminische Standbilder wurden aufgestellt. Immerhin gab es eine vordergründige Rechtfertigung; eine der vier Figuren symbolisiert nämlich das "Justizwesen" - so heil, naiv und machtvoll, wie es sich im Jahre 1903 für eine aufstrebende Weltmacht geziemt hatte.
Und doch gab es auf dem Platz Widerspruch. Seit 1991 versprach die Justiz auf einer Tafel, an dieser Stelle ein Mahnmal zur Erinnerung an das NS-Unrecht zu errichten. Die Tafel wurde im Laufe der Jahre schiefbeinig. Die Justiz und andere Behörden rangen um ein Konzept. Arbeitsgruppen wurden gebildet, Anträge gestellt, Gelder gesucht, Künstler gefragt. Der Geist der Veto-Bürokratie rang mit dem wilhelminischen Erbe, dessen Standbilder fest und unversehrt blieben. Die Tafel wurde immer wackeliger.
Graffiti-Schnitzel legten sich wie Spinnweben über das Versprechen. Das Versprechen, endlich ein Mahnmal zu bauen, wurde bald durch die neue Forderung überlagert, die armselige Tafel zu beseitigen, ersatzlos.6)
In der Tat: die Tafel muß weg, aber nicht ersatzlos. Sie wird noch heute von denselben Lehrlingen ausgegraben, die schon das Mahnmal mitgebaut haben. Die wilhelminischen Figuren sind schon weg, dorthin, wohin sie gehören, zu dem Reiterstandbild Wilhelms, ihrem ursprünglichen Zentrum.
Der Sievekingplatz ist wieder frei, der Blick umgreift die Wallanlagen, er wandert zum Brahmsplatz, zu den Bürotürmen der Handelsstadt. Auch zu den Seiten hin, zum Zivil- und Strafjustizgebäude, ist der Durchblick freier. Die wuchernde Hecke vor dem Oberlandesgericht ist verschwunden. Die Blechreihe der parkenden Pkws kratzt nunmehr unverborgen an der Ästhetik des Oberlandesgerichtsgeäudes, dessen Majestätik aber darüber erhaben ist. Das Gebäude steht voll im Platz. Es hat seine Mittelachse wieder, die die Hecke ihm verwehrte. Das Gebäude kann seine Macht voll entfalten. Nummer 1 im Ensemble der Gerichtsgebäude, eingerahmt von den Bauwerken der Unter- und Mittelinstanzen.
Und dennoch: die Ästhetikdes Gebäudes ist an empfindlicher Stelle gestört. Die gerade wiedergewonnene Mittelachse wird ihm geraubt durch die Erinnerung, durch das Mahnmal der Erinnerung, durch die Verweigerung des Vergessens und des Verdrängens. Die Vergangenheit mit dem Namen "Hier + Jetzt" zwängt sich dazwischen.
Öffentliche Räume sind meist Orte des verstreuten Blicks, des Herum- und Wegschauens, eine Mischzone der Wahrnehmung. Ein Mahnmal dagegen will den Blick zentrieren, konzentrieren. Dafür kann es nicht gefällig sein. Es muß irritieren, anstoßen und wenn nötig: stören. Der Platz des Vorbeigehens soll zum Ort des Hingehens werden.
Die Betonmauer provoziert. Und das, obwohl sie ähnlich hoch ist wie die Hecke vorher, aber eben aus Beton und mit einer schwierigen Botschaft. Die Mauer nimmt das Duell mit der Verdrängung auf. Nicht durch politische Provokation oder schrille Ästhetik. Das Mahnmal nutzt die Mittel des Vertrauten.
Blumen- und Pflanzenkübel als scheinbare Fortsetzung von Planten un Blomen, wenn auch merkwürdig hochgehoben, nämlich auf Stelzen erhöht. Bekannte Pflanzen, wie Astilben, Astern und Rosen, aber auch Nährpflanzen wie Sellerie und Kohlrabi oder die Brennessel als Vertreterin des Unkrauts, die giftige Eibe, die dornigen Mahonien neben Lampenputzergras und Kugeldistel, der einjährige Salat neben dem unverwüstlichen Giersch. Symbolträger der Biodiversität nennt Gloria Friedmann diese Pflanzen. Stellvertretend für Leben hier und jetzt, dort und gestern. Stellvertretend auch für die Hamburger Bevölkerung, also die Bürgerinnen und Bürger, die sonst an diesen Platz kommen, um ihr Recht zu suchen oder sich zu rechtfertigen. Alle - ob Lavendel, Porree oder Begonie - bedürfen der Pflege, und sie haben einen Anspruch auf gleiche, auf gleichwertige Pflege. Wie die Bürger, egal welchen Glaubens, welcher Rasse, welchen Standes oder welcher Verfehlung.
Dieses Leben steht vor dem Panorama-Abbild einer stolzen, einer pulsierenden Stadt. So wie wir alle Hamburg gern sehen. Die Ästhetik der Großstadt, der Bürotrakte, des Hafens, der Wohnviertel, mittendrin auch der Platz der Gerichte - eine Winzigkeit im Häusermeer. Ein Bild wie von der Postkarte. Eine schöne Fläche, eine Oberfläche. So wie Hamburg Hier + Jetzt, nein Heute, aussieht. Wegen der Vergänglichkeit der Ölfarben ist das Bild auf Erneuerung angewiesen, In gut zehn Jahren mögen die Hamburger entscheiden., ob der Glanz weg ist, ob sie ein neues Bild von sich haben wollen.
Das Schöne hat auch eine Rückseite - oder besser: es ist die Rückseite einer anderen Vorseite. Ganz anders wirkt "Hier + Jetzt" nämlich für den, der das Oberlandesgerichtsgebäude be
tritt oder verläßt. Eine dunkelgraue Betonwand. Ein Sichtwall, eine Sperre auf dem Weg zu den Pflanzen und auf den freien Platz. Man kann vorbeigehen. Diese Mauer ist aber kein Werkzeug des Vorbeigehens.
Wer nur flüchtig hinsieht, wird nicht einmal die Zahl entdecken: 1933. Wer sie aber entdeckt, wird nicht losgelassen: eine große, einfache Schrifttype: 1933. Nicht "1933 bis ...", sagen wir: "bis 1945". Einfach "1933". 1933 als Hier + Jetzt, als Damals + Morgen, als Merkpunkt ohne Anfang und Ende.
1933 als Menetekel. 1933 als Gleichnis, als Erinnerung, als Warnung. 1933 als Retrospektive und als Prospektive.
1933 eingelassen in eine Mauer. Die Mauer als Sinnbild von Grenze und Gefangenschaft von Blickverengung - nicht nur im Nationalsozialismus.
1933 verweist nicht auf einzelne Täter, nicht auf einzelne Opfer. 1933 erinnert an den Ungeist, der Täter und Opfer hervorgebracht hat, an ein System des Unrechts, das mit austauschbaren Menschen funktioniert, und zwar am besten mit den Jüngern des je aktuellen Zeitgeistes. Ein solches Mahnmal hat Hamburg noch nicht.
"Hier + Jetzt" konkurriert daher nicht mit den anderen Mahnmälern in Hamburg, nicht mit
Ulrich Rückriems Gedenkstein für die Deportation der Juden an der Moorweidenstraße; nicht mit dem versunkenen Obelisk von Esther und Jochen Gerz, dem Harburger Mahnmal gegen Faschismus; nicht mit Thomas Schüttes
Totenerinnerung in Neuengamme und auch nicht mit Alfred Hrdlickas" Gegendenkmal" an der anderen Seite der Wallanlagen, beim Dammtorbahnhof.. Das Mahnmal" Hier + Jetzt" steht aber im inhaltlichen und künstlerischen Dialog mit diesen anderen Zeichen der Erinnerung.
Die Sprache der Steinmauer nimmt besonders nachhaltig den Dialog mit der "Black form" von Sol LeWitt auf, dem Monument für die zerstörte jüdische Gemeinde Altonas. Dies ist eine Neuschöpfung einer ähnlichen Mauer "Dedicated to the missing jews" vor dem Schloß in Münster. Dort haben die Bürger es nicht toleriert, und es wurde deshalb abgerissen. Nur deshalb konnte es in Altona neu geschaffen werden.
Die dem Oberlandesgericht zugewandte kühle Betonmauer mutet sich allen zu, die dort arbeiten, das Gericht aufsuchen oder auch nur neugierig vorbeischauen. Die Wand ist ein Stein des Anstoßes. Hoffentlich hat Hamburg von Münster gelernt.
Die Wand wirft auch viele Fragen auf. Ein Mahnmal kann nur begrenzt verständig sein. Noch wichtiger ist es, daß es widerständig ist.
"Hier + Jetzt" gehört ab heute zu den Trägern des Gedächtnisses der Stadt. Wer seine Botschaft versteht, wird ratlos, wenn z.B. ein Richter heute die Todesstrafe herbeireden will, zudem ein Strafrichter, dessen Dienstzimmer nur einen Steinwurf entfernt von dem Ort steht, auf dem die Guillotine des Untersuchungsgefängnisses ihre tödliche Tagesarbeit verrichtete. Wer sich mit dem Mahnmal auseinandersetzt, der sieht z.B. die Gefahr des Rechtsradikalismus nicht schon dadurch als gebannt an, daß einer rechtsradikalen Partei 190 Stimmen am Einzug in die Bürgerschaft fehlen. Wer die Botschaft zu verstehen sucht, kann z.B. wissen, daß neue Wege im Strafrecht und in der Strafrechtspolitik nicht über den Stammtisch führen dürfen.
Die Erinnerung ist wie Sandpapier. Wenn es sich abzureiben droht, bedarf es der Erneuerung. Der Rechtsstaat ist verletzlich. Er bedarf der Pflege und Verteidigung. Auch insoweit ist das Mahnmal ein Gleichnis. Wer sich sorgt, Graffiti könnten es verunstalten, die Blumen könnten vertrocknen und die Stelen verrosten,7) der liegt nicht falsch. Das kann passieren. Unrecht ist immer nah zum Recht. Deswegen ist Pflege nötig. Patenschaften zur Pflege sind erwünscht. Die Erinnerung bedarf der geistigen Pflege, das physische Abbild der Erinnerung der materiellen.
Dieses Mahnmal thematisiert Gefahren. Es zwingt uns zur Beschäftigung. Es ist ein Anlaß zum Denken - ein Denk-Mal im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist aber auch eine Aufforderung zur Pflege, zur Denk-Mal-Pflege. Sollte die Justiz nicht die Kraft haben, die Erinnerung pflegend zu erhalten - woher sollten wir dann die Zuversicht nehmen, sie könnte das sehr viel Schwierigere leisten, den Rechtsstaat pflegend zu bewahren?
Viele haben einen Anteil an diesem Mahnmal. Stellvertretend für die Richterschaft - aber auch ganz persönlich auf sie bezogen - nenne ich Karin Wiedemann. Die Architekten Heller und Beth haben unentgeltlich geplant, detailgerecht und kostenbewußt beaufsichtigt. Ebenso ohne materielle Gegenleistung haben mitgewirkt das Ausbildungszentrum der Bauwirtschaft und die Firma Prien. Die Kulturbehörde und die Kunstkommission, das Bezirksamt Hamburg-Mitte, Planten un Blomen, allen voran Herr Weiler, und viele andere haben angepackt und werden in Zukunft weiter anpacken. Sie werden die Justiz bei ihrer Pflegearbeit nicht allein lassen.
Alle haben sich tatkräftig eingesetzt und dabei im Glauben an die Pflegekraft auch der Justiz und der allgemeinen Öffentlichkeit gehandelt. Es ist nun die Sache aller, die Erinnerung und die Pflege des Gedächtnisses der Stadt zu ihrer eigenen Sache zu machen. Im Namen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg vertraue ich das Mahnmal "Hier + Jetzt" dem Gemeinwesen an. Unrecht darf nie wieder von diesem Platz ausgehen!