(Dieser Artikel ist verφffentlicht in MHR 3/98) < home RiV >
Sommernachlese
oder:
Die Suche nach einem Schuldigen

Wahlkampfzeiten sind ertragreiche Zeiten auch und insbesondere für die Justiz. Der Wahlkampf treibt manch bunte Blüte, die sich bei Lichte besehen als blanke Zumutung erweist.

Justizschande – so war es allenthalben zu lesen. Dies alles im Zusammenhang mit der furchtbaren Bluttat zweier Jugendlicher, die einen arglosen Ladenbesitzer erstochen und DM 220,-- erbeutet hatten. Beide Täter waren kurz vor der Tat aus der Untersuchungshaft entlassen worden, und zwar in eine Jugendwohnung. Der Entlassung lag eine richterliche Prognose-Entscheidung zugrunde – gemessen an der strengen Elle des Jugendgerichtsgesetzes. Prognose-Entscheidungen fordern den Richter in besonderem Maße, das weiß jeder, der einmal in einer solchen Entscheidungssituation gestanden hat. Ich kenne keinen Richter, dem diese Entscheidungen leicht von der Hand gehen. Eine selbstgefällige ex post Betrachtung – insbesondere von denen, die Verantwortung nicht zu tragen haben – ist unfair, billig und trägt zur Lösung des Problems nicht bei. Von einem Justizskandal oder einer Justizschande vermag ich in diesem tragischen Fall nichts zu entdecken. Er hinterläßt auch bei der Justiz Spuren, Betroffenheit und Nachdenklichkeit.

Ein großes Problem ist ganz offensichtlich der Zustand der Jugendwohnung gewesen, in der beide Täter untergebracht waren. Dort ging es drunter und drüber. Anläßlich einer Talkrunde im dritten Fernsehprogramm mußte die erstaunte Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, daß Einschließungen besonderer Art dort zur Übung gehörten, und zwar in dem Sinne, daß die Betreuer sich vor den Jugendlichen, die zu betreuen waren, verriegelten – aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls verdiente das, was dort stattfand, nicht die Bezeichnung "betreutes Wohnen". Der Senat hat Konsequenzen gezogen und zwei Jugendwohnungen mit einer Rund-um die-Uhr-Betreuung beschlossen. Um gleich Mißverständnissen und Unterstellungen, wie ich sie bereits hören durfte, entgegenzuwirken: Ich halte diese Maßnahme, diese "Investition" für hochvernünftig und sinnvoll, sie ist der richtige Schritt auf dem richtigen Weg – ein Schritt, der allerdings hätte früher getan werden sollen. Dennoch: Es wird in diesem Staat wohl doch noch erlaubt sein – Wahlkampf hin, Wahlkampf her –, sich über Alternativen zur Untersuchungshaft und der betreuten Jugendwohnung Gedanken zu machen und eine konstruktive, ideologiefreie Diskussion zu suchen, ohne daß gleich helle Aufregung die Folge ist. Aber das ist die Crux: Da ständig in irgendeinem Winkel dieser Republik gerade eine Wahlurne aufgestellt wird, prägen Taktik und Wahlarithmetik die Diskussion. Die Inhalte bleiben auf der Strecke.

Im übrigen soll mir keiner mit dem Hinweis kommen, er habe zu diesem Thema abschließende wissenschaftliche und daher objektiv "richtige" Erkenntnisse und Erleuchtungen. Panta rhei (alles fließt), so sagten es schon die alten Griechen, und so gilt es auch heute noch für gesellschaftliche Entwicklungen und notwendige staatliche Reaktionen.

Die Polizei verkündet eine neue dezentrale Taktik gegen die Drogenszene. In kryptischer Andeutung knüpft das Hamburger Abendblatt daran die Feststellung: " Polizei bleibt allein", um fortzufahren: "Was nützen die besten Erfolge der Polizei, was nützt die Festnahme von Drogendealern, wenn die Justiz nicht mitzieht?". Was soll uns dies sagen? Daß die Justiz nicht bereit ist, politische Konzepte umzusetzen? Fürwahr, das ist unsere Aufgabe nicht. Auch im übrigen nicht das Einsperren als solches und das Schaffen unkalkulierbarer Risiken, wie dies offensichtlich dem Kommentator Andreas Ulrich vom Hamburger Abendblatt vorschwebt. Nach meinem Berufsverständnis ist es – bei allem, was in diesem Staat zur Überprüfung steht – ja immer noch das Gesetz, das für uns Richter den Handlungsrahmen absteckt. In ein ähnliches Bekennerhorn stößt der Chef der Polizeigewerkschaft, Hermann Lutz, ein Mann, der ein ums andere Mal in den unübersichtlichen Gefilden des Rechtsstaats die Orientierung verliert und sich in dem Gestrüpp der Gewaltenteilung verheddert. Wenn er seine Backen aufbläst und beklagt, die Justiz mache durch ihre Entscheidungen einen Teil der polizeilichen Ermittlungserfolge zunichte, so rufen wir ihm zu: "Ja, das ist Gewaltenteilung und Rechtsstaat." Polizeiliche Ermittlungsergebnisse und -erfolge sind eben nicht Verurteilungen. Und so manches Mal schmelzen in der Tat Ergebnisse polizeilicher Bemühungen in einem Strafverfahren, das nach einem anderen Muster und nach anderen Regeln abläuft als das polizeiliche Ermittlungsverfahren, dahin wie Eis in der Sonne – was für den einzelnen Polizeibeamten dann schwer zu verstehen und nachzuvollziehen ist. Und zum Thema "Vorzeitige Haftentlassung wegen Fristablauf": Jede derartige Haftentlassung ist eine zuviel – keine Frage. Dennoch sollte man auch hier die Kirche im Dorf lassen. Im Jahr 1997 gab es in Hamburg 4.431 Untersuchungshäftlinge und 13 solcher Haftentlassungen – das sind 0,29 %!

"Kumpanei von Polizei und Justiz", "Warnung vor einem Justizskandal"!

Erneut stand die Justiz im Zentrum der Kritik und des kritischen Interesses. Es ging um den Fall Oliver Neß und das Strafverfahren gegen zwei Polizeibeamte. Ich will es kurz halten: Sollte es bei der Staatsanwaltschaft im Rahmen des Revisionsverfahrens zu erheblichen Verzögerungen gekommen sein – mir fehlen insoweit die Detailkenntnisse –, so ist dies außerordentlich bedauerlich. Daraus aber eine manipulative Verzögerung zu machen, ist als Vorwurf infam und ohne jeden Beleg. Das von mehreren Sachverständigen (?) inszenierte Tribunal mutete bizarr an, bizarr deswegen, da es – abgesehen von dem erstinstanzlichen Urteil, um das es ersichtlich nicht ging – noch gar nichts gibt, was zu kritisieren ist. Justiz muß auch Schelte und Kritik - auch harsche Kritik - hinnehmen, aber bitte doch erst, wenn sie zum "Spruch gekommen ist". Alles andere hinterläßt den schalen Nachgeschmack, hier solle auf die Entscheidungsfindung Druck und Einfluß ausgeübt und eine bestimmte Richtung vorgegeben werden. Mit diesen Grundsätzen rechtsstaatlichen Verfahrens sollten insbesondere die Herren vertraut sein, die sich als Rechtsprofessoren präsentieren.

Hamburgs "Eiserne Lady", die Justizsenatorin, so titelt eine Hamburger Boulevardzeitung, will die harte Welle gegen Kleinkriminelle, die Einführung eines Präsenzgerichts im Bereich der Polizeidirektion Mitte, Innensenator Wrocklage freut sich über eine fixere Justiz. So ziemlich alles, was zu dem Thema Schnell- bzw. Schnellstverfahren veröffentlicht wurde, ist verzerrt, halbrichtig oder gar falsch. Geht es doch weder um eine neue harte Welle noch um die Gründung eines weiteren Gerichtssitzes. Daß Strafe möglichst rasch der Tat auf dem Fuße folgen sollte, gehört zwischenzeitlich zu dem gesicherten Erkenntnisrepertoire und ist gerade in jüngster Zeit für das Jugend-strafverfahren diskutiert und zu Recht eingefordert worden. Daher kann jedes Projekt, das sich die Beschleunigung von Verfahren als Ziel gesetzt hat – dies alles natürlich eingebunden in rechtsstaatliche Grundsätze – nur begrüßt und unterstützt werden. In diesem Sinne ist das von der Beschleunigungskonferenz unter der Federführung der Justizbehörde aufgelegte Pilotprojekt durchaus sinnvoll. So kurz, so richtig und so gut.

Es bedürfte keines ergänzenden Kommentars, wenn nicht die Berichterstattung in den Medien mit "schräger" Begleitmusik daherkäme. Diese läßt sich sinngemäß dahingehend verstehen, nun würden und sollen dem langsamen Richter "Beine gemacht werden." Dazu nur dieses: Wir haben bei dem Amtsgericht Hamburg ein Haft- und Schnellgericht, das seit je erstklassige Arbeit leistet, erstklassig auch im Sinne äußerst zügig durchgeführter Verfahren. Das weiß jeder, und wer es nicht weiß, der möge sich kundig machen. Dort war schon immer Standard, wovon andernorts nur geträumt wird, daß nämlich möglichst jedes Verfahren innerhalb von zwei bis drei Wochen nach Eingang erledigt wird. Dies soll hier ausdrücklich noch einmal festgehalten werden, steht im übrigen aber in keiner Weise dem Versuch und dem Wunsch entgegen, durch noch bessere Koordination aller Beteiligten – auch und gerade außerhalb des Gerichts – die Gesamtverfahrensdauer weiter zu verkürzen.

Sie sehen, die Justiz ist ein immer wieder gesuchter und beliebter Ansprechpartner, insbesondere wenn Schuld und Versagen zur Verteilung anstehen. Da kann die Ansage nur lauten: aufklären, überzeugen und hart gegenhalten – unaufgeregt, ohne Larmoyanz und bei aller gehörigen kritischen Selbstdistanz.

Heiko Raabe

PS: Zu guter Letzt noch folgendes: Ich habe mehrfach zu der Insolvenzrechtsreform geschrieben und gesprochen, gleichsam wie eine Kassandra. Dabei ging es nicht um die durchaus sinnvolle Reform als solche, vielmehr um die Befürchtung, die Gerichte würden ohne nennenswerte Verstärkung mit diesem Reformwerk allein gelassen. Verbunden habe ich diese Befürchtung mit der Bitte an die Justizsenatorin, sich dafür einzusetzen, daß eine tragfähige Grundlage für die Umsetzung der Reform geschaffen werde. Die Justizsenatorin hat sich eingesetzt – und dies mit Erfolg. Dem Amtsgericht sind im Personal- und Sachbereich deutliche Verstärkungen zur Verfügung gestellt worden – so auch die Einschätzung des Amtsgerichts- präsidenten. Dies hier und heute anerkennend zu Protokoll zu geben, gehört auch zu einem fairen Umgang miteinander.

H.R.