(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/98) < home RiV >

Gedankenschwerer Rückblick

Theo Rasehorn ist 80 geworden. Wer kennt noch "Xaver Berra" und seinen "Paragraphenturm"? Wer das "Aktionskomitee Justizreform", in dem er an der Seite Rudolf Wassermanns stand und stritt? "Gepriesen und gescholten": so ist wohl immer das Los dessen, der sich aus dem Fenster hängt, gelegentlich schnell, gelegentlich auch zu schnell schreibt! Jedenfalls darf Rasehorn nun schon als ein Stück Urgestein (bundes)deutscher Justizgeschichte gelten. ...

Jetzt hat er - offenbar von Wassermann dazu überredet - ein paar Zeilen zur eigenen Person geschrieben: "Rückblick auf ein atypisches Richterleben". Schon den Anfang liest man nicht ohne Bewegung:

"Der Jubilar. Nein - zum Jubeln ist es mir nicht zumute. Vollendung des 80. ist keine Leistung, eher Glück und Gnade, vor allem aber das erschreckende Signal für das Lebensende. Nicht der Geburtstag zählt, sondern daß Beine und Geist noch tragen.

Aber beuge ich mich der Konvention und halte einen Rückblick, so muß er mit dem Hinweis beginnen, daß für meine Generation, also für jene, die noch im ersten Weltkrieg, im Kaiserreich, geboren wurden, das Leben so reich an Ereignissen und Wechselfällen gewesen ist, daß es für eine "normale" Generation zwei Leben hätte anfüllen können, und zum Teil von einer herzbeklemmenden Dramatik: das Siechtum der Weimarer Republik, die brutale Diktatur Hitlers, die Todesnähe im Zweiten Weltkrieg, danach Deutschland als hungerndes Entwicklungsland - für das private Leben alles verlorene Jahre. Ein ungeahntes Wirtschaftswunder folgte, immer reicher, schöner und glücklicher schien das Leben zu werden - aber mit der bangen Ahnung, das alles könne auf die Dauer nicht gutgehen. Und es geht ja auch nicht mehr gut. Die Gesellschaft ist inzwischen in der Lebensqualität derart gespalten wie seit einem Jahrhundert nicht mehr."

Ich erlaube mir einen persönlichen Einschub:

Anfang 1983 unterbreitete ein Hamburger Professor den Lesern der ZRP (83, 13 ff.) abenteuerliche Theorien über Soziologie und Struktur des 3. Reiches: Hitler als Handpuppe des Großkapitals und dergl. Weisheiten - so wie sie damals bei gläubigen Neomarxisten gängig waren. Heute - fast 10 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft - kann wohl nur, wer es selbst erlebt hat, sich wieder vor Augen führen, wie inbrünstig solche Politphilosophie damals im Westen intellektuell hofiert und sogar ernst genommen wurde (im Osten gab's dafür nur ein müdes Lächeln - oder Schweigen). Ich habe dann ein paar Hefte später (ZRP 83, 81 ff) zu zeigen versucht, warum und wieso ich die Thesen der Januarnummer für ideologischen Bluff hielt. Dem trat überraschenderweise Theo Rasehorn entgegen, indem er mir zwar durchaus konzedierte, sachlich im Recht zu sein, zugleich aber vehement rügte, daß ich mich "auf Mängel Faschismustheorie" kapriziert hätte, statt andere: wichtigere Themen zu behandeln (ZRP 1983, 158) - was ich allerdings nicht auf mir sitzen ließ (ZRP 1983, 231).

An dieses merkwürdige Hick-Hack hatte ich später zuweilen denken müssen, die ganze Geschichte aber längst vergessen, als mir jetzt der "Rückblick" in die Hand fiel. Er hat mich fasziniert. Denn soviel weiß ich inzwischen über Konfliktvermeidungsstrategien, Gruppendynamik, Loyalitätszwänge udgl. Nöte, daß der folgende Abschnitt (s.u.!) mir geradezu wie ein Schlüssel vorkommt. Deshalb allein würde die Redaktion ihn schwerlich abdrucken. Er ist aber zugleich ein wichtiges Dokument. Eröffnet er doch uns, die wir immer wieder von der jüngeren Zeitgeschichte (wie man so sagt:) "eingeholt" werden, einen vertieften Blick in die Vergangenheit: mit den Augen Rasehorns, eines nüchternen, klugen und zugleich gebeutelten und gebleuten Zeitgenossen, so daß sein Bericht wiederum ein Mosaikstein im eigenen Geschichtsverständnis des Lesers werden könnte.

"Der Zeitzeuge contra seine
jüngeren linken Freunde"

Aufgewachsen bin ich in einem NS-resistenten Beamtenelternhaus. Der Vater, Postinspektor, ist nicht in die NSDAP eingetreten. Nicht die Politik war der wesentliche Grund - er war unpolitisch - auch nicht sein katholischer Glaube, sondern seine preußische Lebenshaltung, der die Aufgeblasenheit und Korruption der Nazis zuwider war. Aber Vorsicht: wenn er auch auf den Berufsaufstieg verzichtete, so mußte doch der Beruf als Lebensexistenz für die Familie erhalten bleiben. Vorsicht auch für mich, weshalb ich - zwar ungern und relativ spät - der Hitlerjugend beitrat.

Bevor ich auf den Richter komme, erscheint es mir erforderlich, mich als Zeitzeuge einer Periode zu präsentieren, über die bei Historikern, gerade linken, abstruse Vorstellungen bestehen. Meine Jugend im NS-Alltag ist eigentlich ziemlich normal verlaufen. Was wissen wir heute über ihn? Eigentlich weniger als über den Alltag im Mittelalter. Aber wir haben doch die Dokumentationen in Wort und auch Bild, Dokumentarreihen im Fernsehen: Zigtausend Menschen, die Hitler zujubeln, nicht endende SA- und SS-Kolonnen, später von Soldaten, die stramm vor Hitler paradierten. Also das Bild eines Volkes, das völlig politisiert, NS-politisiert war, ein Volk in Waffen, bereit, sich begeistert auf jeden Gegner zu stürzen, wenn Hitler den Befehl geben würde.

Aber diese Dokumente entstammen NS-Archiven, geben wieder, wie sich die Nazis sahen oder gesehen werden sollten. Seltsamer- oder besser verständlicherweise deckt sich dieser Eindruck mit Berichten von NS-Verfolgten, besonders von Juden, die ja gerade mit NS-Anhängern in einen - grausamen - Kontakt kamen.

Ein ganz anderes Bild gab das Leben der breiten Masse ab; es verlief unpolitisch, wie vor und nach der NS-Zeit, so auch in dieser Zeit selbst, um das private Dasein bemüht. widerwillig duldeten es die NS-Machthaber. Man sehe sich die Spielfilme aus jener Zeit an: wenn sie nicht vom "Hitlerjungen Quex" oder "Jud Süß" handelten, fehlt jeglicher Bezug zur NS-Ideologie oder -Zeit. Hitler kam nicht vor und auch nicht sein Gruß.

Die Privatheit also als großer Naturschutzpark. Doch an den Rändern wurde geschossen; aber nur auf die wenigen Prozente politischer oder rassischer Gegner. Gelegentlich wurden "brave Deutsche", zumeist wahllos, herausgegriffen und an den Rand gestellt. Auf diese wurde aber nicht geschossen, sondern sie selbst sollten schießen, auf die Opfer schießen, als Wachpersonal in den Vernichtungslagern, als Angehörige von Einsatzkommandos in Rußland oder auch als Richter an Sondergerichtem als Besatzungs- oder als Kriegsrichter. Also einfach herausgegriffen, keine freiwillige Meldung für solche Aktionen - bei den Richtern hingegen sehr oft doch - es waren auch keine überzeugten Nazis. Sie hätten nicht zu schießen brauchen, nichts wäre ihnen passiert - das wissen wir heute. Aber man wußte damals nicht, ob es nicht als Befehlsverweigerung geahndet wurde. Darum tat man das, was auch der Nebenmann tat. Mir sind solche Situationen erspart geblieben.

Erspart blieben mir nicht das Soldatsein und der Krieg, Gefahren und Verwundungen. Aber ist nicht jeder Soldat, wie meine jungen linken Freunde aus der verdienstvollen Wehrmachtsausstellung schließen, an NS-Verbrechen beteiligt gewesen? Demgegenüber ein einfaches Rechenexempel: einige zehntausend Soldaten sollen an Mordaktionen beteiligt gewesen sein - mit mehr rechnet ja auch Goldhagen nicht. Das ist eine furchtbare Zahl, die aber nur wenige Promille der 20 Millionen im Krieg eingesetzten Soldaten ausmacht. Vielleicht mögen eine Million von den Aktionen gewußt haben; aber auch das wären nur 5 % gewesen. Dabei ist zu bedenken, wie streng damals auf Geheimhaltung und Sanktionen für die Durchbrechung geachtet wurde. So habe ich wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, mit dem ich Alter und Kriegserfahrung teile und bei dem noch wegen jüdischer Abstammung eine besondere Informationssensibilität zu erwarten war, erst mit Kriegsende vom Holocaust erfahren.

Unsere Generation habe über ihre Beteiligung, jedenfalls über ihre Kenntnis an den NS-Massenmorden "beredet geschwiegen", wird heute vielsagend von jungen Historikern behauptet. Aber wie sollte da geredet werden, wenn, wie bei über 90 % die Kenntnis fehlte? Gewiß, es gab Gerüchte. Wer sich aber Informationen beschaffen wollte, insbesondere über das Abhören von "Feindsendern", begab sich in Gefahr, in Lebensgefahr. Aus noch heute vorhandenen Urteilen läßt sich entnehmen, wie eine an sich harmlose und verständliche Neugier als Wehrkraftzersetzung mit dem Tod bestraft wurde.

Das Kriegsende - davongekommen! Aber da muß man den jungen linken Freunden wieder eine Frage beantworten: War es für dich Kapitulation oder Befreiung? Das war uns damals keiner Überlegung wert. Es war schlicht das Ende des Krieges - basta! Von heute aus kann es nur als eine großartige Befreiung gewertet werden. Aber wußten wir das damals? Wir wußten, daß uns Jahre des Hungerns - in der britischen Zone mußte man lange Jahre mit 1250 cal. an Lebensmitteln auskommen - und des Frierens bevorstanden. Dazu unzureichende Wohnverhältnisse und für Millionen - nicht für mich - der Verlust der Heimat, Deutschland also auf der Stufe eines Entwicklungslandes. Diese Jahre werden von der Geschichtsschreibung nahezu ausgespart, mehr oder weniger wird vom Kriegsende gleich zum Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 übergegangen, zum Teil mit der unsinnigen These, eine Stunde Null habe es nicht gegeben - nuller ging es nicht!

So war mir auch das im Dezember 1945 aufgenommene Studium - sonst die schönste Zeit des Lebens - eine gräßliche Periode, wenn sich hier auch schon das Tor zur geistigen und kulturellen Befreiung öffnete. Aber dann nach 11 1/2 Jahren physischer und psychischer Gefahren sowie Entbehrungen - von April 1937 bis September 1948 mit der Durchsetzung der Währungsreform -, als es nur um das Überleben gehen konnte (eine Grundprägung für mich bis heute), konnte endlich das Leben beginnen. Ich war dreißig - die Jugend verloren."

Es lohnt sich, auch die weiteren Abschnitte zu lesen: In RuP Heft 3/98!

Günter Bertram