(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/06, 7) < home RiV >

Leserbrief

zu „Anstand in finsterer Zeit“,

Günter Bertram, MHR 2/2006, 14

 

Die Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins sind ein buntes Blatt, das seinesgleichen sucht. Ihr Reiz legt in dem breiten Spektrum von Meinungen, mit dem Kollegen die Sicht ihrer juristischen und nicht juristischen Welt zu Gehör bringen. Das bringt auch immer wieder Beiträge mit sich, die einem befremdlich erscheinen und bei denen man sich fragt, warum die Verfasser dies ihren Kollegen mitteilen mussten. Das gehört dazu und ist gut so.

Zuweilen aber sind die Grenzen dessen, was in einem solchen Blatt geschrieben und gelesen werden sollte, überschritten. Schon früher fielen Beiträge von Günter Bertram auf, z.B. seine Apologie unseres früheren, in politische Ämter strebenden Kollegen Ronald Schill.

Eindeutig überschritten hat er die Grenzlinie mit seinem Beitrag in Heft 2/2006, mit dem er offenbar mit den bisherigen Denkgewohnheiten zur Nazizeit aufräumen will. Seine Zitate von Beispielen, in denen Deutsche jüdischen Mitbürgern in der Nazizeit geholfen haben, sind gewiss korrekt. Was mehr als befremdet, ist die Art und Weise, wie dies als typisch hingestellt wird. Wenn er unter Hinweis auf die Tagebücher Victor Klemperers suggeriert, 99 % der Bevölkerung seien antinazistisch und judenfreundlich gewesen, so ist das nicht hinnehmbar. Die bedrückende Quintessenz aus den Tagebüchern ist eine ganz andere, die Wahlerfolge der NSDAP und Ereignisse wie die Reichskristallnacht widerlegen eine solche Legende. Auf ärgerliche Einzelheiten will ich nicht eingehen, aber zwei Fragen stellen.

1. Welcher Drang treibt Günter Bertram, seinen ehemaligen Kollegen dies mitzuteilen? Mag er sich doch mit einem Kreis Gleichgesinnter zusammenschließen, vielleicht den von ihm geschätzten Konrad Löw oder auch David Irving als Referenten einladen und die erste Strophe des Deutschlandliedes absingen, deren mangelnde Beliebtheit er an anderer Stelle dieses Heftes bedauert. Uns möge er damit verschonen.

2. Warum druckt der Hamburgische Richterverein so etwas in seinen Mitteilungen?

Helmut Büchel

 

Stellungnahme der Redaktion:

Der von Helmut Büchel beanstandete Satz ist ein von Günter Bertram wörtlich wiedergegebenes Zitat von Klemperer und lautet:

„Einzeln genommen sind fraglos neunundneunzig Prozent der männlichen und weiblichen Belegschaft in mehr oder minder hohem Maße antinazistisch, judenfreundlich, kriegsfeindlich, tyranneimüde ..., aber die Angst vor dem einen Prozent Regierungstreuer, vor Gefängnis, Beil und Kugel bindet sie“.

Dieser Satz erscheint bei isolierter Betrachtung gerade wegen der „99%“ und der Gefahr, dadurch könnte der Eindruck einer unzutreffenden Ansicht entstehen, das Deutsche Volk sei unter dem Nationalsozialismus ein Hort des inneren Widerstandes gewesen, nicht akzeptabel und löste deshalb auch bei der Redaktion vor Abdruck Bedenken aus. Die Redaktion sprach deshalb vor Abdruck den Autor gerade auf den obigen Satz hin an. Bertram hielt an dem Zitat fest unter Hinweis darauf, dass es hier nicht um statistische Tatsachen, sondern um ein Stimmungsbild Klemperers gehe und dass obiger Satz nun mal unter dem 2. April 1944 genau so bei Klemperer in dessen Tagebuch und auch in der späteren - so Bertram - "in mancher Hinsicht kritikwürdigen" Tagebuchauswahl "für junge Leser" stehe.

Die Redaktion prüfte daraufhin nochmals, was eine nicht bloß isolierte Betrachtung des Satzes im Kontext ergibt. Bertram leitete die Klempererzitate wie folgt ein:

In seinem Buch „lässt Löw nicht etwa Leute, die sich jetzt vom sicheren Port ihrer damaligen Haltung rühmen, zu Worte kommen, sondern jüdische Zeitzeugen: Opfer also, Verfolgte, Geschundene wie eben Viktor Klemperer und etwa fünfzig andere, zitiert aus ihren in Zeiten der Verfolgung oder rückblickend niedergeschriebenen Aufzeichnungen und gibt auch – für unterschiedliche Zeitabschnitte und Ereignisse - anderen, zumal ausländischen Beobachtern der damaligen deutschen Zustände das Wort; auf NS-Quellen (Himmler, Goebbels, ‚Meldungen aus dem Reich’ des Sicherheitsdiensts usw.) weist er insoweit hin, als dort Klage geführt wird über die Verständnislosigkeit des deutschen Volkes für die ‚Judenmaßnahmen' des Regimes. Es ist unmöglich, von dieser großen Quellenpräsentation auch nur einen Eindruck zu vermitteln; man muss sie lesen und - gerade wegen der Reflexionen über extrem gegensätzliche Erlebnisse und Erfahrungen, auch des zeitlichen und situativen Schwankens der Urteile wegen – sie gründlich auf sich wirken lassen. Nur einige Beispiele aus jüdischer Feder: Victor Klemperer: ....“ (kursive Hervorhebung bei Bertram, unterstreichende Hervorhebung nicht von Bertram).

Erstens handelt es sich also bei Klemperer um einen Juden, der Opfer war und der sich wohl kaum mit dem von Helmut Büchel erwähnten Holocaust-Leugner David Irving vergleichen lässt (auch Günter Bertram kritisiert David Irving detailliert in MHR 2/2002, 25). Und zweitens handelt es sich bei dem Umfang der Hilfe von Deutschen für Juden um eine subjektive Einschätzung Klemperers, die sich Bertram nicht zu Eigen macht.

Dass es überhaupt ernstzunehmende Personen gab, die auch positive Erfahrungen mit Deutschen in der Judenfrage machten[1], stellt auch Büchel nicht in Abrede. Von Büchel - zu Recht - allein problematisiert ist die Frage der Typizität der Distanz von Deutschen im III. Reich gegenüber der Judenfeindlichkeit des Nationalsozialismus. Aus dem kritisierten Artikel ist an keiner Stelle herauszulesen, dass Bertram selbst einer solchen Typizität das Wort redet: bei und in Fußnote 26 weist Bertram vielmehr darauf hin, dass man Löw's Buch ergänzen müsse um Befunde, die dessen Bild wieder trüben; so hätten auf kirchlich-protestantischer Seite die sog. „Deutschen Christen“ einen antisemitischen Eifer übler Art an den Tag gelegt; außerdem verweist Bertram ausdrücklich auf „extrem gegensätzliche Erlebnisse“.

Die Redaktion hatte dem Beitrag Bertrams eine ganz andere Intention als die beanstandete Typizität entnommen, nämlich eine kritische Hinterfragung der Kollektivschuldthese. Selbstverständlich kann man zur Kollektivschuldthese geteilter Meinung sein. Der Umstand, dass ein Autor dieser These kritisch gegenübersteht, ist für die Redaktion kein Grund zur Ablehnung der Veröffentlichung: ebenfalls abgelehnt wurde die These von der Kollektivschuld z.B. durch das Urteil der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegen die I.G. Farben (1947) und durch den Zentralrat der Juden in Deutschland (zuletzt in der Berliner Zeitung vom 20.6.2006). Und die jetzige Bundeskanzlerin schrieb in der Hohmann-Affäre: „Diese Frage ist nach den singulären Verbrechen des Holocaust seit den ersten Tagen unseres Landes mit den Worten von Theodor Heuss ‚Es gibt keine Kollektivschuld’ beantwortet. Denn Schuld ist immer individuell“ (FAZ vom 14.11.2003).

Zurückkommend auf die „99%“ hat die Redaktion volles Verständnis dafür, dass der eingangs genannte Satz auf die Ablehnung Helmut Büchels stößt. Büchels Leserbrief zeigt, dass das Bewusstsein der unter dem Nationalsozialismus von Deutschen verübten Greueln gottlob immer noch in der Gesellschaft vorhanden ist. Dass auch Günter Bertram dieses Bewusstsein hat, lässt sich seinen vielen Aufsätzen entnehmen. Und zu seiner Tätigkeit als Kammervorsitzender in NS-Verfahren mag noch einmal die Würdigung durch die vormalige Landgerichtspräsidentin Görres-Ohde in MHR 1/1998, 3 gelesen werden.

Wolfgang Hirth


[1] Insbesondere hat zwischenzeitlich der Yad-Vashem-Direktor Arik Rav-On in der Einführung vom 02.08.06 zur vom Richterverein mitveranstalteten Ausstellung Tolkatchev mehrfach besonderen Wert auf die Verbreitung des „Lexikon der Gerechten unter den Völkern“ (mit Nachwort des Bundespräsidenten) gelegt, weil es zeige, dass es unter dem Nationalsozialismus auch anständige Deutsche gegeben habe, die Juden geholfen haben.