(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/08, 12 ) < home RiV >

Wider die Erinnerungspolizei

- Der Appell von Blois -

 

1.         Brigitte Zypries hatte sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft als Vorsitzende des Justizministerrats für ihre alte Idee ins Zeug gelegt, einer europaweiten „Erinnerungskultur“ strafrechtliche Korsettstangen einzuziehen und zu diesem Zweck den deutschen Volksverhetzungsparagraphen 130 Abs. 3 und 4 StGB ungeachtet seiner Problematik[1] als eine Art von erweitertem Muster allgemeinverbindlich machen zu lassen[2]. Um sich diesen Prozess vor Augen zu führen, muss man allerdings im Papierwust angeln, der darüber aus Brüssel oder Berlin heranflutet. So heißt es etwa im Europa-Magazin vom Mai letzten Jahres[3] als Verlautbarung der Bundesregierung, nun habe sich „als deutliches Signal gegen Rassismus und Intoleranz“ der EU-Ministerrat auf einen Rahmenbeschluss geeinigt, der die Staaten verpflichte, u.a. die öffentliche Billigung, Leugnung oder grobe Verharmlosung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe von einem bis drei Jahren zu stellen und auch bei Straftaten jeglicher Art „rassistische und fremdenfeindliche Motive“ als Strafschärfungsgründe gesetzlich zu verbriefen. Obwohl nationale „Erinnerungsgesetze“ inzwischen Konjunktur haben – Arno Widmann ist unlängst auf fünfzehn Staaten gekommen[4] -, wäre das entsprechende europäische Gesetzesprojekt fast gescheitert: Polen, Slowenien und die baltischen Staaten hatten verlangt, wenn schon dergleichen, dann müssten auch Stalins Ausrottungsverbrechen genauso strafrechtlich verflucht werden. Der Ministerrat indessen hatte sich in einer „sehr anstrengenden Sitzung“ (Brigitte Zypries) nur auf die Formel verständigen können, er „bedauere“ auch diese Verbrechen, wolle oder könne sie aber nicht als „Völkermord“ qualifizieren[5]. Das Straßburger EU-Parlament hatte das Projekt dann im November 2007 gebilligt; da aber einige der Mitgliedsstaaten sich einen „Parlamentsvorbehalt“ ausbedungen hatten, kann der Rahmenbeschluss erst wirksam werden, wenn diese Skrupel sich erledigt haben sollten, die zu konsultierenden nationalen Parlamente also jedenfalls nicht widersprochen haben. Dann würde der Beschluss vom Ministerrat formell verabschiedet werden[6] mit der Folge, dass – soweit nicht schon geschehen - alle 27 EU-Mitgliedstaaten entsprechende („richtlinienkonforme“) Gesetze zu erlassen haben. Im Augenblick herrscht mithin noch ein prekärer Schwebezustand.

 

2.         Vermutlich wäre dieses z. Zt. noch unentschiedene Unternehmen der Öffentlichkeit kaum bewusst geworden – wie viele, ja die meisten rechtlichen Projekte Brüssels, die ihrer schieren Masse wegen nur von den je speziell interessierten (betroffenen oder begünstigten) Kreisen wahrgenommen werden[7], hätten diesmal nicht ein paar Leute
Alarm geschlagen, die schwerlich als Lobbyisten üblichen Kalibers abgetan werden können: International renommierte Wissenschaftler aus Frankreich (ein „who is who“ der französischen Historikerzunft
[8]), Italien, Belgien, Holland, England, Polen, Deutschland u. a., die sich Mitte Oktober dieses Jahres in der alten französischen Stadt Blois an der Loire – auf Initiative des Bürgermeisters der Stadt, des ehemaligen Kulturministers Jack Lang - eingefunden hatten zum „Appell de Blois“[9], in dem es (nach dem französisch/englischen Text – rückübersetzt -) heißt:

„In einem freien Staat ist es nicht die Aufgabe irgendeiner politischen Autorität zu definieren, was die historische Wahrheit sei, geschweige denn darf sie die Freiheit des Historikers mittels der Androhung von Strafsanktionen einschränken. Wir fordern die Historiker auf, in ihren Ländern ihre Kräfte zu sammeln und sich diesem Appell anzuschließen, um der Vermehrung von Erinnerungsgesetzen Einhalt zu gebieten. Die politisch Verantwortlichen bitten wir zu begreifen, dass es zwar zu ihren Aufgaben gehört, das kollektive Gedächtnis zu pflegen, dass sie aber keinesfalls per Gesetz Staatswahrheiten institutionalisieren sollen, die schwerwiegende Konsequenzen für die Arbeit des Historikers und für die intellektuelle Freiheit insgesamt haben können ... In einer Demokratie ist die Freiheit der Geschichte die Freiheit aller.“

 

Es sind klingende Namen, die sich darunter finden: Der Initiator des Appells Pierre Nora (Frankreich), Carlo Ginzburg (Itl.), der britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm, Heinrich-August Winkler, Jan Asman (Deutschland) und viele mehr. Auch Timothy Garton Ash gehört dazu, ein auch bei uns bekannter britischer Historiker[10], der dann in The Guardian vom 16.10.08 ein vernichtendes Urteil über „the Zypries list of qualifying horror” unter der Überschrift „The freedom of historical debate is under attack by the memory police“ zu Protokoll gibt. Nachdem die Öffentlichkeit erwacht war, hagelte es auch sonst Kritik[11].

Alles ebenso lesenswert wie aufregend, doch dreht es sich dabei nur um die Aktualisierung eines alten Themas - eines, das in den MHR schon so oft zur Sprache gebracht worden ist, dass weitere Bemerkungen zur Sache selbst überflüssig wären.

 

3.         Eine Frage aber kann ich nicht unterdrücken, obwohl ich auch sie in anderem Zusammenhang schon früher einmal aufgeworfen hatte[12]. Wo – in aller Welt! – findet sich eine Legitimation, also die europarechtliche Kompetenz Brüssels (des Ministerrats) zum Erlass dieses „Rahmenbeschlusses“? Hans Arno Petzold und seine Kolleginnen hatten seinerzeit zutreffend betont, die EG könne (dürfe) ihre Aufgaben nach Maßgabe des EG-Vertrags nur wahrnehmen, wenn und soweit ihr durch ihn (als die „primäre Rechtsquelle“) eine „begrenzte Einzelermächtigung“ erteilt werde[13]; eine Generalklausel hingegen, alles Gute, Moralische
oder Sittliche auch rechtlich zu bewirken („Wertegemeinschaft“ als Rechtsquelle?!), gäbe es natürlich nicht
[14]. Eben deshalb habe ich damals von der Entgegnung zwar dankend profitiert – über Begrifflichkeiten und europäische Regelungsabläufe -, aber zur entscheidenden Frage keine Antwort gefunden: hier schienen mir die Argumente im Zirkel zu laufen.

 

An die neue Rahmenrichtlinie, über welche die Protestanten in Blois zur Sache selbst alles Nötige gesagt haben, muss, wie damals, schon vorweg die gleiche Frage – eine formelle (aber diese „Form“ ist zugleich sachlich von schwerem Gewicht!) - gestellt werden: Wo und wie erlaubt der EG-Vertrag europäischen Organen (Kommission, Ministerrat, EU-Parlament – in welcher Art des Zusammenwirkens auch immer) strafrechtliche Vorschriften der oben bezeichneten Art, bis in Zumessungsvorschriften hinein, den EU-Staaten zu oktroyieren? Nach dem Scheitern des Lissabonvertrags erhob sich in Brüssel und fast allen europäischen Hauptstädten lautes Gejammer, wie sehr doch das gemeine Volk die nützliche Arbeit und den guten Willen der europäischen Institutionen verkenne, und wie wenig es überhaupt davon wisse. Wenig überzeugend: Kommission und Rat unterliegen seit langem der Versuchung, mehr Kompetenzen an sich zu ziehen als die Verträge es eigentlich gestatten; das Maastrichturteil des BVerfG vom 12.10.93[15] war ein Karlsruher Warnschuss nach Brüssel, der dort aber offenbar weniger Eindruck gemacht hat, als es eine europäische Beschwichtigungsrhetorik glauben machen möchte. So sind es gerade das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wie auch der Subsidiaritätsgrundsatz, die seit dem Desaster verdächtig laut gefeiert, aber de facto immer weniger beachtet werden – wie es keineswegs nur der vorliegende Fall demonstriert. Der EuGH könnte Kompetenzüberschreitungen rügen und müsste es tun, unterlässt dergleichen aber permanent. Roman Herzog, wahrlich kein EU-Laie, hat seinem erbitterten Unmut kürzlich in der FAZ Luft verschafft[16].

 

Genug davon: Es empfiehlt sich jedenfalls aus unterschiedlichen Gründen, mit Argwohn zu verfolgen, ob und gegebenenfalls wie die hier vorgestellten Rahmenrichtlinien eines Tages durchgedrückt werden.

 

Günter Bertram


[1] vgl. z.B. nur die Nachweise in MHR 3/2008, S. 13 ff („Bedenkenswerte Bedenken eines Bundesverfassungsrichters“).

 

[2] Freilich hatte die Ministerin einsehen müssen, dass ihre Lieblingsidee, hier verpönte Symbole wie etwa das Hakenkreuz, wenn nicht welt- so doch europaweit verbieten zu lassen, auf keine Gegenliebe stößt: was uns widerwärtig geworden ist, gilt anderen wie den Norwegern und Indern als Heilszeichen.

 

[3]„e. public – das europa magazin“, Nr. 47 - 05/07 „Gemeinsam gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Europa“; Näheres zur Sache und ihrer „schwierigen Genese“ bei Günter Gloser, Staatsminister für Europa im AA auf einer Konferenz vom 10. - 12.05.07; vgl. auch „WELT MOBIL“ vom 20.04.07.

 

[4] Der Kampf um die Erinnerung in FR vom 06.11.08; ausführlich zu den diversen „memory laws“, ihren Geschichten, Paradoxien und Widersprüchen vgl. T. Garton Ash in The Guardian vom 16.10.08; zu Ash vgl. unten Anm. 10). Die Türkei hält (auf Drängen der EU-Kommission mit gewissen Retuschen) an ihrem strafbewehrten Verbot fest, die Ausrottung von Millionen Armeniern i. J. 1915 Völkermord zu nennen (vgl. Karin Krüger FAZ vom 19.11.08 „Die Beleidigung der türkischen Nation bleibt strafbar: Der türkische Justizminister verteidigt den Art. 301“), was umgekehrt in Frankreich eine strafgesetzlich vorgeschriebene Redeweise wäre.

 

[5] vgl. dazu: Europa-Informationen Presse - und Informationsamt der BR – Deutsche EU-Ratspräsident-schaft: Rassismus europaweit ächten; WELT MOBIL vom 20.04.07: EU-Justizminister – Heftige Kritik an Rassismus-Beschluss, wo es u.a. heißt: „Die Verbrechen des Stalinismus, die im Rahmenbeschluss nicht behandelt werden, sollen laut Justizministerin Zypries in einem von der EU organisierten Kongress thematisiert werden. Dort sollen die Interessen Polens, Sloweniens und der baltischen Länder berücksichtigt werden“.

Dieses Thema ist in Osteuropa von aktueller Brisanz: „Völkermord – Wie Medwedew seine Worte wählt“, schreibt Christian Esch in der Berliner Zeitung vom 18.11.08: Die Ukraine hatte 2006 gesetzlich verbrieft, dass der Hungertod, dem Stalin vor 75 Jahren Millionen von Ukrainern ausgeliefert hatte („Holodomor“), Völkermord gewesen sei. Der russische Präsident sagte sein Erscheinen bei der Gedächtnisfeier ab, weil diese Qualifizierung für Russland beleidigend sei. Er selbst aber trägt keine Bedenken, eben diesen Ausdruck für das Vorgehen Georgiens gegen Südossetien ständig im Munde zu führen.

 

[6] zu dieser Prozedur vgl. etwa Gloser aaO (Anm.3).

 

[7] Nachweise dazu etwa bei Bertram, MHR 2/2005, 34 sowie Petzold u.a., MHR 3/2005, 20.

 

[8] Marc Zitzmann: Wider die „Staatswahrheit“, NZZ vom 22.10.08.

 

[9] voller Text unter www.Iph-asso.fr/articles/50.html

 

[10] Ash hatte schon als junger Korrespondent englischer Blätter die DDR bereist, sie auch in den Jahren, in denen hier noch eine gewisse DDR-Euphorie den Ton bestimmte, mit kritischem Blick analysiert und darüber vielfach geschrieben. Nach wie vor lesenswert: „Und willst du nicht mein Bruder sein ...“ Die DDR heute, Hamburg 1981.

 

[11] vgl. etwa Arno Widmann: Der Kampf um die Erinnerung, FR vom 06.11.08; Marc Zitzmann: Wider die „Staatswahrheit, NZZ vom 22.10.08; Jürg Altwegg: Retro-Moral - Historiker kämpfen für die Freiheit der Geschichte, FAZ vom 16.10.08.

 

[12] Damals ging es um das sog. Gleichstellungsgesetz und die Frage nach den Rechtsgrundlagen der entsprechenden „Richtlinien“: dazu Bertram Zuständigkeitsanmaßungen der EU (MHR 2/2005, 34); Petzold u.a.: Zuständigkeiten der EU (MHR 3/2005, 20).

 

[13] aaO. (Anm. 12), S. 23 (Ziffer 5.).

 

[14] Petzold u.a. aaO. (Anm. 12), dort Anm. 14. Demgegenüber fasst Gerd Roellecke (Antidiskriminierung auf europäisch, NJW 1996, 3261) den Kommissionsbescheid über die Rechtsgrundlagen der damals einschlägigen Richtlinien – „Zwar enthalten die EU-Verträge keine spezifischen Hinweise auf Zuständigkeiten in diesem Bereich, doch ist es angesichts der anhaltenden Präsenz von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in ganz Europa sowie der transnationalen Dimension dieser Erscheinung schwer, die Notwendigkeit geeigneter Maßnahmen auf europäischer Ebene zu bestreiten“ – zu dem Satz zusammen „Zuständig sind wir zwar nicht, aber wir tun es trotzdem“. In der Tat liegt in der Auskunft der Kommission nichts weiter als ein Pochen auf „Wertegemeinschaft“ – wie die Kommission sie versteht.

 

[15] NJW 1993, 3047 – 3058

 

[16] FAZ vom 08.09.08, S. 8: Roman Herzog / Lüder Gerken: Stoppt den Europäischen Gerichtshof – Die Kompetenzen der Mitgliedstaaten werden ausgehöhlt. Die immer fragwürdigeren Urteile aus Luxemburg verlangen nach einer gerichtlichen Kontrollinstanz. Herzog ist Mitglied des Kuratoriums des Centrums für Europäische Politik, Gerken dessen Vorstand.